Sorgen

Am späten Nachmittag, nachdem Elrond noch mal nach seiner jungen Patientin gesehen hatte, die in einen tiefen traumlosen Schlaf geglitten war, ging er mit Legolas auf die weite Terrasse.

"Was bedrückt dich, mellon nîn?" (1) fragte Elrond.

"Es sind viele Sachen, die mein Herz erschweren, Elrond." antwortete Legolas ernst.

"Deine Sehnsucht ist deutlich zu sehen. Hast du schon mit deinem Vater gesprochen?"

Erstaunt sah Legolas ihn an. Warum konnte dieser Elb nur in jedem lesen, wie in einem offenen Buch? Er senkte den Blick. "Nein. Er würde es nicht verstehen. Du weißt, er will meine Nachfolge." Traurigkeit klang in seinen Worten mit.

Elrond nickte. Er kannte Legolas Vater Thranduil, König des Waldes. Er wusste, dass er von seinem einzigen Sohn erwartete den Thron zu übernehmen.

Thranduil und Legolas waren sich nie wirklich nahe gewesen. Er war ein gerechter, aber strenger Vater gewesen, und als seine Frau starb, Legolas war noch keine 30 Jahre alt, also fast noch ein Kind, konnte er erst recht keine Verbindung zu ihm aufbauen, da er sich immer für ihren Tod verantwortlich gefühlt hatte. Da er immer glaubte den Vorwurf in den Augen Legolas zu sehen, entfernte er sich immer mehr von seinem Sohn.

Für Legolas dagegen wäre es sehr wichtig gewesen, wenn er mit seinem Vater hätte reden können. Nie hat er auch nur daran gedacht, dass dieser Schuld am Tod seiner Mutter haben könnte, und so verstand dieser verängstigte, verwirrte Junge seinen Vater nicht mehr. Er war sehr einsam - sein ganzes Leben, seit dem Tod seiner Mutter, war Legolas einsam. Er hatte viele gute Freunde, aber sein Herz schrie nach mehr als das.

Elrond tat es leid seinen Freund so zu sehen. Er wusste, was diesen bewegte, kannte seine Ängste, Sorgen und Wünsche, denn auch er stand einmal an diesem Punkt. Auch er wollte Mittelerde hinter sich lassen und in den Westen gehen. Auch er hatte die Möwen gehört. Und auch er hatte sie ignorieren müssen.

Er war damals, nach dem Ringkrieg, mit den Hobbits Bilbo und Frodo Beutlin, den Elben Galadriel und Celeborn, die bis dahin über den Goldenen Wald Lóriens gewacht hatten, und Gandalf, dem Zauberer, auf eines der weißen Schiffe gestiegen, die von den grauen Anfurten im Westen zu den unsterblichen Gefilden segelten.

Doch, dort angekommen, konnte er nicht von Bord gehen. Irgendetwas sagte ihm damals, dass er noch eine Aufgabe in Mittelerde zu erledigen hatte. Das es, auch wenn sein Herz schmerzlich danach verlangte, noch nicht an der Zeit war, diesen Boden zu betreten und seine Frau wiederzusehen. Und so segelte er traurig wieder zurück, um wieder nach Bruchtal zurückzukehren.

Mitfühlend legte er eine Hand auf Legolas Schulter und sah ihm in die klaren blauen Augen. "Wie auch immer du dich entscheiden wirst, du wirst es richtig machen. Dessen bin ich sicher." Aufmunternd lächelte er den Elben an, und dankbar erwiderte der dieses Lächeln. Manchmal war Elrond wie der Vater, den er sich immer gewünscht hatte.

"Wie geht es ihr?" fragte Legolas nun um von seinen Problemen abzulenken.

Nachdenklich sah ihn der Elb an. "Das Fieber bereitet mir Sorge. Ich weiß nicht, wo in ihrem Körper dieses Feuer brennt. Von ihren Verletzungen kann es nicht herrühren. Es muss etwas sein, was wir nicht sehen können."
"Was könnte es sein?" fragte Legolas besorgt.

"Ihre Seele." erwiderte Elrond. "Ich weiß nicht wieso, aber dieses Feuer kommt anscheinend aus ihrer Seele. Sie kämpft gerade einen innerlichen Kampf."

"Was können wir dagegen tun?"

"Leider nichts. Nur abwarten. Das Feuer muss sie selber löschen, den Kampf gewinnen." Freundlich sah Elrond ihn an. "Komm, mein Freund. Du und Gimli müsst Hunger haben."

"Oh, ja, ich habe Hunger wie ein Bär!" Von der Seite kam die dröhnende Stimme von dem Zwerg.

"Dann kommt. Meiner Köchin ist es eine Freude meinen hohen Besuch zu bewirten." Lächelnd wollte Elrond sie hineinführen.

"Geht schon vor. Ich komme gleich nach." sagte Legolas und entschuldigte sich. "Ich will noch einmal nach ihr sehen."

"Beeil dich lieber, sonst lass ich dir nichts mehr übrig! Ich kann mich noch gut an Narthils Kochkünste erinnern!" lachte der Zwerg.
Elrond sah ihm einen Moment nachdenklich hinterher.

°°°°°

In Gedanken versunken ging er durch die Gänge und stand dann einen Moment zögernd vor dem Krankenzimmer. Leise öffnete er dann die Tür und ging hinein. Die junge Frau war gewaschen, hatte ein frisches Nachtgewand an, und ihre Wunden waren gut versorgt. Sie schlief tief und fest.

Vorsichtig setzte er sich neben sie aufs Bett. Er betrachtete sie einen Moment. Ihr Gesicht hatte einen friedlichen Ausdruck angenommen, aber vom Fieber war es leicht gerötet. Sanft legte er ihr eine Hand auf die Stirn und erschrak. Sie war glühendheiß.
Plötzlich wurde sie unruhig. Leise wimmerte sie im Schlaf und ihr Gesicht verzerrte sich.

"Marc, nein!" murmelte sie. "Warum? Nein!" Sie wurde immer unruhiger, und ihr Kopf wand sich hin und her.

Vorsichtig nahm er ihre kleine Hand in die seine, und redete beruhigend auf sie ein: "Sch, sch. Alles wird gut. Ihr werdet wieder gesund. Sch."

"Nein! Lass mich! Nein! Das Licht? Ah!" Sie schrie auf und öffnete entsetzt die Augen. Fragend suchte sie den Raum ab, und ihr Blick blieb dann an seinem hängen. "Wo bin ich?" keuchte sie.

"Ihr seid in Bruchtal, Herrin, und mit Herrn Elrond in guten Händen." Fragend sah sie ihn an. Ihre grünen Augen blickten verstört in die seinen.
"Wie ist Euer Name?" fragte er.

Sie überlegte. "Mel... ich glaube, ich heiße Mel." stotterte sie.

"Was ist Euch passiert? Woher habt Ihr die schlimmen Verletzungen?" Seine Stimme war leise und sanft. Er merkte, wie verwirrt sie war.

"Ich... ich weiß nicht. Da war ein Licht... nein, zwei Lichter?" stotternd brach sie ab. Sie konnte sich an nichts erinnern. Wo war sie nur? Wo kam sie her? Wer war sie? Und wer war er?

"Wer bist du?" fragte sie.

Verwundert lächelte er. Es war nicht üblich einen Fremden zu duzen. Eigentlich war es sogar ziemlich unhöflich, aber es machte ihm nichts aus. Er schob es auf ihre offensichtliche Verwirrung.
"Man nennt mich Legolas. Mein Freund Gimli und ich fanden Euch fast zwei Tagesritte von hier entfernt auf einer Lichtung im Wald der Trolle. Ihr ward schwer verletzt und darum brachten wir Euch in Elronds Haus nach Imladris."

Sie verstand nicht, was er sagte, und es war ungewohnt wie er sie ansprach. Sie blickte sich langsam in dem Zimmer um, und bemerkte, dass alles hier ungewohnt war. Sie sah große Fenster, die bis auf den Boden reichten, die Sonne schien warm in das große Zimmer, und ein seichter Wind ließ die hellen, langen, dünnen Vorhänge wehen. Vogelgezwitscher klang von draußen. Die Wände waren verziert mit Borten, Bildern und dunklen, reich geschnitzten Balken. Überall standen frische Blumen. Das Bett, in dem sie lag war sehr groß, die Bettpfosten reichten fast an die hohe Decke, und sie waren bestückt mit feinen Schnitzereien, die Blätter und Blüten darstellten. Die Bettwäsche war aus einem feinen, weißen Stoff. Von draußen hörte sie Wasser rauschen, wie von einem Wasserfall.

Es war wirklich alles ungewohnt. Er eingeschlossen. Seine schönen langen, hellblonden Haare, seine helle, mit feinen Stickereien verzierte Kleidung, seine Ohren... Seine Ohren! Sie waren spitz!

Er bemerkte ihren Blick. Verwundert sah er sie an. "Ihr habt noch nie einen Elben gesehen, Herrin? Nun, ich bin einer." Leicht schmunzelte er.

Erschrocken sah sie ihn an. Elben? Irgendwo hatte sie das Wort schon mal gehört, aber sie war sich sicher, noch nie solche Ohren gesehen zu haben.
"Wo bin ich? Und wo komm ich her?" fragte sie sich selber, schloss ihre Augen, und drehte den Kopf von ihm weg.

"Ihr könnt Euch an nichts erinnern?" fragte er enttäuscht. Anscheinend wusste sie die Antwort auf seine Fragen im Moment auch nicht. Beruhigend lächelte er sie an, als sie den Kopf schüttelte und ihn verzweifelt ansah.

"Ihr müsst erst einmal wieder gesund werden. Danach wird Euch alles wieder einfallen. Ruht Euch nun aus. Schlaft." Vorsichtig strich er ihr über die Haare. Er sah noch ein kurzes Aufblitzen der grünen Augen, dann schloss sie diese und schlief wieder ein.

Behutsam legte er ihre Hand, die er bis dahin immer noch gehalten hatte, neben sie aufs Bett und stand auf. Er warf noch einen letzten Blick auf sie, dann ging er leise aus dem Gemach.

°°°°°

In Gedanken versunken kam er im Speisesaal an, wo Gimli gerade in blumigen Worten die Geschichten erzählte, die er und Legolas in den Höhlen erlebt hatte. Lachend sah Elrond den Zwerg an.

"Legolas, mein Freund. Komm her und setz dich. Ein wenig habe ich dir noch übergelassen." schmatze der Zwerg und winkte ihm mit Fettverschmierten Fingern zum Tisch. Dann nahm er wieder einen großen Bissen aus der mächtigen Hammelkeule.

Legolas setzte sich zu ihnen, beachtete jedoch das reichhaltige Mahl nicht, welches auf dem Tisch stand. Nachdenklich nahm er nur einen Schluck Wein aus seinem Becher.

Elrond sah ihn fragend an. "War sie wach? Hat sie etwas gesagt?"
Legolas nickte. "Sie träumte als ich bei ihr war. Der Traum machte ihr angst. Sie sprach von Lichtern und sagte einen Namen. Er lautete Marc, denke ich. Ich habe diesen Namen noch nie gehört." Er schwieg einen Moment. "Außer ihrem eigenen Namen wusste sie leider nichts. Sie heißt Mel. Sehr kurz, und auch sehr ungewöhnlich."

"Vielleicht ist er eine Abkürzung für etwas." schmatzte Gimli nachdenklich.
"Ja, das ist gut möglich. Bedauerlich, dass sie nicht mehr über sich erzählen konnte."

"Die Erinnerung wird wieder kommen, da bin ich mir sicher. Ich denke, dem Mädchen ist etwas Schlimmes widerfahren. Das sie sich an nichts erinnern kann, passt zu ihrem Fieber." Aufmunternd sah Elrond ihn an. "Es wird ihr sicher bald wieder gut gehen."

°°°°°

(1) mein Freund

°°°°°

Ich wünsche Euch allen ein gutes neues Jahr!

Eure Sirixx