Erinnerungen

Mel fühlte sich sehr wohl in Bruchtal - und besonders, wenn sie sich am Nachmittag mit Legolas traf. Sie genoss die Zeit mit ihm, und als es ihr ein wenig besser ging, führte er sie hinaus in den Garten. Ihre Füße betraten das duftende, taunasse Gras und es fühlte sich herrlich an.

Legolas hatte ihre Hand genommen, und sie stützend in seinem Arm eingehakt. Langsam führte er sie durch den wunderschönen Garten. Fasziniert sah sie sich um. Betrachtete jede Blume interessiert, und verfolgte jeden Vogel mit ihren Blicken.

Alle Eindrücke Bruchtals sog sie in sich auf. Es war alles so fremd, und doch so vertraut. Noch nie hatte sie eine so friedliche Stimmung gefühlt wie hier.

Jeden Tag, an dem sie spazieren gingen, bat sie Legolas noch mehr Geschichten zu erzählen. Sie fühlte sich wohl, und lauschte aufmerksam und interessiert seinen Erzählungen. Er berichtete ihr über viele Dinge und auch über Sagen und Legenden, die in der Elbenwelt eine große Rolle spielen.

Eines Tages berichtete er ihr auch von dem Ringkrieg und von dem Sieg über Sauron. Ihr Gesicht wurde bei dieser Geschichte nachdenklich. Irgendwie kam ihr das alles bekannt vor. Sauron, der Eine Ring, das hatte sie alles schon einmal gehört.

Leicht schüttelte sie ihren Kopf. Natürlich hatte sie davon gehört. Schließlich war damals ganz Mittelerde betroffen und es gab wohl niemanden, der nicht von den Schlachten gehört hatte, von denen Legolas ihr berichtete.

Legolas spürte ihre leichte Verwirrung. Die Elben hatten ein gutes Gespür für Stimmungen. Aufmerksam sah er sie an. Ob ihr etwas eingefallen war? Er hoffte, dass sie sich bald erinnern würde. So gerne würde er mehr über sie erfahren. Er mochte dieses Mädchen und er genoss die Zeit mit ihr. Jeden Abend freute er sich auf das nächste Treffen.

Sie spazierten zu einem kleinen Wasserfall. Das Wasser funkelte in der Sonne und kleine Regenbögen erschienen. Mel sah sich fasziniert um, und atmete die frische Luft ein. Eigentlich war hier immer noch alles fremd für sie. Sie überlegte, in welchem Teil von Mittelerde sie wohl groß geworden war, und was sie hier, in die Nähe von Bruchtal zu suchen gehabt hatte, so weit entfernt von irgendeiner menschlichen Siedlung. Ob sie jetzt gerade jemand vermissen würde? Was war mit ihren Eltern? Und hatte sie Freunde?

Tief in Gedanken versunken ging sie, wie immer in seinem Arm eingehakt, neben Legolas her. Einen Moment betrachtete er sie. Sie war in Gedanken, ihr Blick war in die Ferne gerichtet.

"Mel?" Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Woran denkt Ihr gerade?"

Ein wenig verstört sah sie ihn an. "Ach, ich habe nur gerade überlegt, wer wohl meine Eltern sind." sagte sie traurig. "Ich kann mich noch nicht einmal an sie erinnern." Dann sah sie ihn an. "Wenn ich Euch schon über meine Eltern nichts sagen kann, erzählt mir doch bitte von Euren. Wie sind sie?"

Ein wenig traurig sah er sie an. "Meine Mutter ist schon lange tot." sagte er leise.

"Oh, das tut mir leid." Mitleid lag in ihren Augen.

"Ja, ich vermisse sie sehr. Sie war eine wundervolle Mutter. Sie war immer für mich da und hat mich viele Dinge gelehrt. Ich habe sie sehr geliebt." Er sah ihr tief in die Augen. Sie waren so unbeschreiblich grün...

"Aber Euer Vater... er lebt doch noch?" fragte sie vorsichtig.

"Ja. Und wie!" Sein Gesicht verfinsterte sich. "Zu meinem Vater habe ich kein besonders gutes Verhältnis. Er war immer sehr streng und hatte wenig Zeit für mich. Wir haben über viele Sachen sehr unterschiedliche Meinungen." Legolas lächelte gequält. "Jahre habe ich ihn jetzt nicht gesehen. Er möchte, dass ich sein Erbe antrete, doch ich fühle mich nicht bereit dafür."

"Was ist das für ein Erbe?" fragte sie.

Legolas fiel ein, dass er ihr gar nicht erzählt hatte, wer er eigentlich war - nämlich ein Prinz. Er beschloss, es vorerst auch dabei zu belassen. Er lächelte sie an. "Ein Erbe, was ich nicht gerne übernehmen möchte."

Sie nickte. Sie hatte sehr wohl verstanden, dass dies wohl nicht gerade eines seiner Lieblingsthemen war.

Schweigend gingen sie weiter, doch es war kein unangenehmes oder beklemmendes Schweigen. Legolas genoss die Stille. Selten hatte er eine Frau kennengelernt, mit der er einfach über gar nichts reden musste. Normalerweise fühlte er sich immer zu irgendeiner, meist belanglosen Konversation gezwungen.

Ohne, dass er sich dessen bewusst wurde, drückte er ihre Hand. Mel hingegen bemerkte seine Berührung und lächelte unwillkürlich. Seine Hand war so weich, seine Finger so zart...

°°°°°

Ein paar Tage später saßen sie auf einer Bank in der Nähe des Wasserfalles, den Mel so schön fand.

Ihre zarten Finger spielten mit den Bändern ihres hellgrünen Kleides. Dieses Grün unterstrich ihre Augenfarbe. Er fand sie in den elbischen Kleidern, die Elronds Tochter Arwen gehört hatten, sehr hübsch. Allerdings war sie immer noch sehr dünn. Kurz rief er sich in Erinnerung, in welch merkwürdigen Gewändern er sie gefunden hatte. Diese Kleider standen ihr eindeutig besser.

Mel seufzte. "Es ist einfach wunderschön hier." Verträumt blickte sie zu dem Wasserfall. Dann sah sie Legolas fragend an. "Gibt es noch mehr so schöne Orte in Mittelerde?"

Legolas lächelte. "Ja, ein paar. Lórien ist ein solcher Ort. Es gibt dort wundervolle Bäume, die sehr alt und dazu noch sehr groß sind. Wenn Ihr wieder gesund seid, solltet Ihr dort einmal hinreisen. So wie Bruchtal ist es ein magischer Ort. Das ganze Jahr über, tragen die Mallorn-Bäume grüne Blätter, und vom Frühjahr bis zum Ende des Sommers haben sie wunderschöne, gelbe Blüten. Vor einigen Jahren wachten dort noch Galadriel, die Herrin des Lichtes, und ihr Mann Celeborn über den Wald." Sein Gesicht wurde traurig.

"Leider sind sie in die unsterblichen Gefilde gesegelt, wie so viele andere von uns." Er betrachtete sie. Groß sahen ihre Augen ihn an. Auch sie blickten nun traurig. "Aber einige von uns sind immer noch hier." Er lächelte aufmunternd. "Und es wird immer Elben in Mittelerde geben." Er zwinkerte ihr zu.

"Irgendjemand muss schließlich auf die Menschen aufpassen."

Verlegen lächelte sie, blickte auf ihre Finger und nahm wieder nervös ein Bändchen. "Ich glaube, ich habe Euch noch gar nicht dafür gedankt, dass Ihr mich gefunden und zu Herrn Elrond gebracht habt." Sie sah ihm in die Augen. "Ohne Eure Hilfe würde ich jetzt wohl nicht mehr leben. Ich danke Euch, Legolas. Euch und Gimli. Ein anderer hätte mich vielleicht dort liegen lassen, oder ich wäre gar nicht erst gefunden worden."

"Das Letztere ist wahrscheinlicher. Es war eine sehr verlassene Gegend, in der wir Euch gefunden haben. Die nächste Siedlung, in der Menschen leben, liegt hunderte Meilen entfernt. Doch Ihr braucht mir nicht zu danken, Mel. Das habt Ihr schon. Und wenn Ihr jetzt schnell wieder gesund werdet, ist das meine größte Freude." Freundlich lächelte er sie an und dankbar erwiderte sie es.

"Ihr wisst so viele Geschichten, und habt soviel erlebt. Ihr müsst sehr alt sein, dennoch Ihr seht so jung aus." Die Frage um sein Alter hatte sie schon lange beschäftigt. Sie hatte zwar inzwischen mitbekommen, das Elben ein sehr viel längeres Leben vergönnt war, aber sie wusste nicht, dass diese unsterblich waren.

Schmunzelnd sah Legolas sie an. "Ich bin bereits in diesen Landen gewandert, ehe Ihr geboren wurdet, um es zu zieren." sagte er, und lächelte, als Mel verlegen die langen Wimpern herunterschlug. Ihre Finger spielten nervös mit den Bändern ihres Kleides. "Man nennt die Elben auch die Erstgeborenen. Wir sind unsterblich."

Staunend sah sie ihn an. "Dann seit Ihr schon über einhundert Jahre alt?"

Legolas lächelte. "Noch ein wenig älter, Herrin. Allein die Kindheit der Elben dauert sehr viel länger. Menschenkinder gelten schon als erwachsen, wenn sie noch keine zwanzig Sommer erlebt haben. Bei den Elben ist das anders. Frühestens mit fünfzig Jahren werden sie als Erwachsene angesehen."

"Mit fünfzig Jahren ward Ihr erst erwachsen?" erstaunt sah sie ihn an.

"Ja. In Eurem jetzigen Alter war ich noch, in Euren Augen, ein etwa siebenjähriges Kind. Allerdings können Elbenkinder schon mit einem Jahr sprechen, singen und tanzen, da ihr Wille, den Körper zu meistern, sich schon sehr früh ausprägt."

Ungläubig sah sie ihn an. "Ich würde zu gerne ein Elbenkind sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solch kleines Kind sprechen und tanzen kann."

Traurig sah Legolas sie an. "Es wird schwer werden heutzutage ein Elbenkind zu sehen. Leider gibt es nur noch sehr wenige, die allerdings schon kurz vor dem Erwachsenwerden stehen. Elben zeugen keine Kinder in Kriegszeiten. Die sind zwar jetzt vorbei, aber in den Augen meines Volkes war der Ringkrieg erst gerade eben. Es werden wohl noch viele Sommer vergehen, bis wieder das helle Lachen eines Elbenkindes in Mittelerde zu hören sein wird."

"Das ist sehr traurig." sagte Mel.

Legolas nickte. "Ja. Da habt Ihr Recht. Mein Volk liebt ihre Kinder."

"Was ist mit Euch, mein Herr? Wollt Ihr eines Tages Kinder in diese Welt setzen?" Neugierig sah Mel ihn an.

Legolas lächelte. "Um mir im Moment darüber Gedanken zu machen, fehlt mir die passende Gemahlin an meiner Seite." Er zwinkerte ihr zu. "Ja, auch Elben können dies nicht alleine bewerkstelligen."

Eine leichte Röte zeigte sich auf den Wangen des Mädchens, und sie sah verlegen auf den Boden. "Entschuldigt. Das geht mich alles gar nichts an." sagte sie leise. Er betrachtete sie einen Moment schmunzelnd. Schüchtern sah sie zu ihm hoch. "Legolas, darf ich Euch eine Frage stellen?"

"Aber natürlich, Mel. Fragt nur."

"Wenn Ihr unsterblich seid, wie alt seid Ihr dann jetzt?"

"2943 Jahre, Herrin." antwortete Legolas. Er lächelte, als er den erstaunten Gesichtsausdruck des Mädchens sah. "Das ist noch nicht ein sehr hohes Alter für mein Volk." erklärte er. "Herr Elrond ist jetzt wohl der älteste meines Volkes in Mittelerde. Er hat bereits drei Zeitalter miterlebt."

"Wie ist es, unsterblich zu sein?" fragte Mel. "Ich kann es mir nicht vorstellen."

"Nun ja." begann er. "Man hat sehr viel Zeit. Wenn ich nicht mit einem unsterblichen Leben beschenkt worden wäre, hätte ich wohl nicht so viel von diesem schönen Land sehen und lernen können." erklärte er.

Mel blickte ihn nachdenklich an. "Es muss aufregend sein so viel Zeit zu haben. Man wird nicht wirklich älter, lernt immer wieder neue Menschen und Elben kennen, und man kann sich alles genau ansehen." Sie seufzte. "Ich wünschte, ich wäre auch unsterblich. Dann könnte ich vielleicht all die Dinge sehen, von denen Ihr mir berichtet habt." Einen Moment sahen sie sich an.

"Und ich wünschte, Ihr wäret unsterblich, denn dann würde ich Euch all die Dinge zeigen, von denen ich Euch erzählt habe." Er lächelte sie an, und sah ihr dabei tief in die Augen.

Dann blickte Mel wieder auf den plätschernden Wasserfall. Legolas jedoch betrachtete sie weiter. Die Spaziergänge in der frischen Luft und der Sonne hatten ihr gut getan. Sie war nicht mehr so blass, und die Sommersprossen auf ihrer geraden Nase traten deutlicher hervor. Sie saßen zwar unter einem Baum, doch ein paar Sonnenstrahlen trafen durch die Blätter und ließen ihr feines Haar glänzen. Ein dünner Zopf war hinein geflochten. Die übrigen Haare fielen ihr in leichten Wellen über die Schultern.

Sie schloss die Augen mit den langen Wimpern und atmete tief ein. "Durch den Wasserfall riecht es hier so, als wenn es gerade geregnet hat, nach langen sonnigen Tagen. Ich liebe diesen Geruch. Die Luft riecht dann so sauber. Jeglicher Schmutz ist hinaus gewaschen. Aber es riecht nur kurz so. Wenn es lange regnet, riecht es einfach nur nach Wasser." Wieder atmete sie tief durch die Nase ein. "Ich habe das lange nicht gerochen. Die Sonne war nur selten zu sehen und es hat immer nur geregnet."

Legolas horchte auf. Es hatte lange nicht geregnet in dieser Gegend. Und die Sonne schien seit zwei Monaten ununterbrochen.

Mel öffnete die Augen und sah ihn an. Ihr Blick war verwirrt. Fragend sah sie ihn an. "Es hat hier nicht geregnet, oder?"

Legolas schüttelte den Kopf. "Nein, Mel, schon lange nicht mehr."

"Warum glaube ich dann, dass es lange Zeit so war?" Ihre Finger begannen zu zittern.

Sanft nahm Legolas ihre Hände. "Vielleicht ist es nur eine Erinnerung. Vielleicht ist es schon lange her." sagte er mit beruhigender Stimme

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Nein. Sie wusste, dass es nicht sehr lange her war. Einerseits wollte sie sich erinnern, aber andererseits machte es ihr angst.

Behutsam legte Legolas einen Arm um sie und zog sie an sich. "Mel, habe ich Euch schon die Geschichte erzählt, in der sich ein Zwerg, und erklärter Elbenfeind, in eine Elbe verliebt hat?" Vorsichtig legte er eine Hand unter ihr Kinn, und hob ihren Kopf, so dass sie ihn ansehen musste. "Der Zwerg ist Euch wohlbekannt. Als ich ihn kennen lernte, traute er keinem Elben, und auch ich hatte zu der Zeit nichts Gutes über die Zwerge gehört." Seine Worte und die blauen Augen zogen sie in seinen Bann. Aufmerksam hörte sie ihm nun zu.

"Gimli?" fragte sie leise.

Legolas nickte. "Ja, Gimli. Jetzt ist er mein bester Freund, aber damals, vor zwölf Jahren, hat er mich und jeden anderen Elb verachtet."

"In wen hat er sich verliebt?" fragte Mel neugierig. Sie konnte nicht glauben, dass ein so raues Gemüt wie Gimli sich überhaupt verlieben konnte. Und dann noch in eine Elbenfrau?

Legolas hielt sie weiterhin beruhigend in den Armen und erzählte ihr die ganze Geschichte, wie sie sich damals in Lórien abgespielt hatte. Er wusste, dass sein Freund auch heute noch die drei Strähnen des goldenen Haares Galadriels wie ein Schatz hütete.

Mel entspannte sich wieder und horchte neugierig dem Erlebnis. Legolas erzählte so wunderschöne Geschichten über Orte und Personen, die ihr völlig fremd waren. Und dennoch konnte sie diese vor ihrem inneren Auge sehen, so genau beschrieb er alles. Außerdem spürte sie seinen starken Arm um sie und das beruhigte sie zusätzlich. Dennoch blieb ein merkwürdiges Gefühl zurück. Sie hatte sich an etwas erinnert. Doch die kurze Erinnerung von Regen hatte den Rest noch nicht zurückgebracht. Wenn ihr diese kleine Erinnerung schon Angst machte, wie war es dann erst, wenn alles zurückkam?

Sie war froh, dass Legolas bei ihr gewesen war. Er konnte sie immer von ihren dunklen Gedanken ablenken.

°°°°°

Wochen waren inzwischen vergangen, seit sie nach Bruchtal gekommen war. Mel ging es sichtlich besser, doch das Fieber blieb, auch wenn es ziemlich gesunken war. Dennoch zehrte es ihren Körper aus. Immer noch war sie blass, dünn und schwach. Sie konnte nie lange auf den Beinen sein und brauchte oft Pausen.

Sie saß auf der Terrasse und blickte in den Garten. Die Sonne schien warm auf ihre Haut. Sie schloss die Augen und entspannte sich. Legolas würde sie erst später zu dem täglichen Spaziergang abholen. Sie seufzte. Manchmal verging die Zeit einfach zu langsam.

Sie lehnte sich zurück und überließ sich ihren Gedanken...

°°°°°

Gedankenverloren spazierte Legolas durch den Garten. Er hatte eine Entscheidung getroffen was er als nächstes tun wollte. Er würde seinen Freund Aragorn, den König von Gondor, in Minas Tirith besuchen. Nun, eine endgültige Entscheidung war das nicht gerade. Aber er hoffte, dass diese Reise und das Zusammensein mit seinem Freund ihm helfen würden. Vielleicht wusste er einen Rat. Oder Arwen, die Königin, mit der er schon zweitausend Jahre befreundet war. Diese beiden kannten ihn, neben Gimli, wohl am allerbesten.

Er verzog sein Gesicht. Ja, eigentlich war das wieder einfach nur ein Hinauszögern. Tief im Inneren wusste er es, aber er fühlte sich im Moment einfach noch nicht bereit, seinen Vater aufzusuchen. Was waren schon Wochen oder Monate im Leben eines Elben? Nur ein Wimpernschlag. Besser war es, wenn er sich ganz klar über seine Gefühle war, wenn er seinem Vater gegenüber stand, und ihm deutlich sagen konnte, was er mit seiner Zukunft machen wollte. Doch da war ja das Problem - er wusste es selbst noch nicht.

Er seufzte und dachte an Valinor. Einen Moment stutzte er. Warum erfüllte dieser Gedanke sein Herz nicht wie sonst mit einem warmen Gefühl?

Gedankenverloren sahen seine schönen Augen in die Ferne. Sein Blick war in den Westen gerichtet. Dort irgendwo waren die grauen Häfen, von denen die weißen Schiffe lossegelten.

Er wusste, dass wenn er einmal dort wäre, es für ihn keine Rückkehr geben würde. Bei diesem Gedanken beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl. Seine Entscheidung, wenn er sie denn treffen würde, wäre endgültig. Jeder Weg zurück nach Mittelerde wäre ihm verwehrt. War es das, was er wirklich wollte? Bis vor kurzem war er sich ganz sicher, doch jetzt schlich sich eine leichte Unsicherheit in sein Herz.

Er schüttelte den schönen Kopf und wischte die verwirrenden Gedanken von sich. Er hatte sich entschlossen, vorerst seinen alten Freund und dessen Ehefrau zu besuchen. Dort würde er hoffentlich über diese Dinge etwas klarer nachdenken.

Er hatte schon mit Gimli alles besprochen. Am nächsten Morgen sollte es losgehen! Mit einem Fünkchen neuen Mutes hob er den Kopf und atmete erleichtert auf. Ja, das war erstmal die richtige Entscheidung!

Er sah hinauf zum Himmel. Es war erst kurz nach Mittag. Später würde er wieder Mel treffen. Er freute sich schon darauf. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Er überlegte, von welchem Abenteuer er ihr heute berichten sollte. Dann hörte er einen Schrei...

°°°°°

Mel saß da und genoss die frische Luft. Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Schon lange war sie nicht mehr so entspannt gewesen. Verträumt hörte sie den Vögeln zu, und genoss die Sonne auf ihrer Haut...

...und plötzlich kam die Erinnerung wieder!

Alles! Der Regen, die Stadt, die Straße, das Auto, das hübsche Mädchen... und Marc...

Alles stürzte plötzlich auf sie ein. Ohne Vorwarnung. Alles lief vor ihrem inneren Auge erneut ab. Der Streit, der Regen, der Unfall... Sie schrie.

°°°°°

Legolas war als erster bei ihr. Er war ganz in der Nähe, als er den Schrei gehört hatte, und lief so schnell er konnte auf die Terrasse. Er fand Mel auf dem Boden kniend. Tränen liefen ihr die Wangen herunter und sie zitterte am ganzen Körper.

"Mel, was ist passiert?" besorgt kniete er sich zu ihr und nahm ihre Schultern. Sie blickte auf den Boden. Behutsam legte er eine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. Sie sah ihn an, und da wusste er, dass sie sich erinnert hatte. In ihren grünen Augen lagen Tränen und Verzweiflung.

Sanft nahm er sie in seine Arme und strich ihr zärtlich über den Rücken. Beruhigend sprach er mit elbischen Wörtern auf sie ein.

"Síla Anor. Lasto bethan: Telitha lû ammaer." (1) flüsterte er und wiegte sie beruhigend hin und her.

Elrond, Gimli und die beiden Mädchen kamen aufgeregt hinzu, doch Legolas gab ihnen ein Zeichen, dass sie sie allein lassen sollten. Elrond nickte und zog die anderen wieder mit hinein.

Lange saßen sie dort auf dem Boden. Er hielt sie ganz fest und ließ sie weinen. Er fühlte die heißen Tränen durch sein Hemd. Sie wirkte so zerbrechlich in seinen Armen.

Nach einer Weile beruhigte sie sich. Sie zitterte nicht mehr so stark und auch die Tränen versiegten langsam.

"Willst du es mir erzählen, Melima?" fragte er sie.

Sie sah ihn an und er sah in ihren Augen einen großen Schmerz. Er fühlte sich hilflos. Vielleicht sollte er doch lieber Elrond rufen. Doch dann sank sie in seine Arme zurück und er wusste, dass er bleiben musste. Fester schloss er seine Arme um sie und zog sie näher an sich heran. Beruhigend strich er ihr über die Haare.

"Ich kann es dir jetzt nicht erzählen." flüsterte sie. "Ich verstehe es selber noch nicht." Melanie war total verwirrt. Wie ist sie nur hier hergekommen? Sie gehörte doch in eine ganz andere Welt. Träumte sie das alles vielleicht nur? Was war mit ihrer Familie? Gab es sie in der anderen Welt überhaupt noch? Hatte sie dort jemals existiert? Und warum war Mittelerde plötzlich so real? Es war doch nur eine Geschichte! Und Legolas, auch ihn gab es in Wirklichkeit doch gar nicht. Aber dennoch fühlte sie seine Berührungen und hörte seine Stimme...

Sie schlang ihre Arme um seinen Rücken, und ihre kleinen Hände krallten sich in sein Hemd. Wie war das alles nur möglich? Sie hatte die Bücher gelesen und wusste von den Personen und Orten, und alles stimmte überein mit den Erzählungen und Geschichten, von denen Legolas ihr in den letzten Wochen berichtet hatte. Aber Hier und Jetzt war der Ringkrieg vorbei. Sauron war schon lange vernichtet. Über die Zeit danach haben die Bücher doch gar nicht gehandelt. Es machte alles keinen Sinn!

Tausend Fragen schossen durch ihren Kopf und sie hatte nicht eine Antwort darauf. Nein. Sie konnte es unmöglich jemanden erzählen. Erst mal brauchte sie selber ein paar Antworten - bloß wer konnte ihr die hier geben?

Verzweifelt schluchzte sie wieder auf. Legolas drückte sie noch mehr an sich und ließ sie weinen. Das einzige, was er jetzt für sie tun konnte war ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine war.

°°°°°

Wie lange sie dort saßen, sie in seinen Armen, das konnte sie nicht sagen. Zu beschäftigt waren ihre Gedanken mit ihrer ganzen unglaublichen Situation.

Irgendwann versiegten ihre Tränen, und sie fühlte sich trotz ihrer Verzweiflung in diesen starken Armen geborgen. Sie atmete den besonderen Duft ein und hörte seine Stimme, die immer wieder beruhigend elbische Wörter zu ihr sprach, und fühlte, wie er ihr sanft über Kopf und Rücken streichelte. Irgendwann schlief sie erschöpft an seiner Schulter ein.

°°°°°

Wie lange sie dort saßen, sie in seinen Armen, das konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass er sie halten musste. Sanft streichelte er über ihren Rücken und ihren Kopf und sprach ihr beruhigend elbische Wörter ins Ohr.

Irgendwann versiegten ihre Tränen, und dennoch hielt er sie weiter fest. Es tat gut sie zu halten. Für sie war die Nähe eines Lebewesens jetzt wichtig - für ihn genauso. Irgendwann schlief sie erschöpft an seiner Schulter ein.

Sie hatte sich erinnert. Und die Erinnerung war schlimm. Er wünschte, er könnte ihr helfen.

Er hielt sie noch ein wenig länger. Dann nahm er sie in seine Arme und trug sie vorsichtig zurück ins Bett, deckte sie zu und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

"No achirich i lalaith gîn." (2) flüsterte er leise. Dann hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn. Trotz des tiefen Schlafes wirkte sie erschöpft. Zart strich er ihr über die Wange, und ging leise aus dem Zimmer.

Sie hatte sich endlich erinnert und er hatte die Chance mehr über sie zu erfahren, wer sie war und wo sie herkam. So langsam hatte er Zweifel an seiner Entscheidung, am nächsten Morgen abreisen zu wollen...

°°°°°

Als er zu Gimli und Elrond ging, sahen diese ihn fragend an. Sie waren auch zu dem Entschluss gekommen, dass sie sich erinnert hatte. Doch er konnte ihnen darüber leider nichts sagen, er wusste es ja selber nicht.

"Es muss ein schlimmer Schock für sie gewesen sein. Was auch immer mit ihr geschehen ist, es wird dauern, bis diese Wunden ihrer Seele verheilt sind." sagte Elrond und die anderen nickten zustimmend. "Wir können nur hoffen, dass sie über das, was ihr Schlimmes widerfahren ist, bald hinwegkommen wird."

"Vielleicht..."

"Nein, Legolas." fiel er ihm ins Wort. "Ihr beide solltet morgen losreiten. Sie braucht Zeit, und du brauchst einen Rat von deinem Freund." Er spürte, dass es Mel leichter fallen würde ihre Erinnerung zu verarbeiten, wenn er nicht in der Nähe war. Er hatte schon lange die Spannung gespürt, wenn die beiden in einem Raum waren. Seine Anwesenheit würde sie nur ablenken. Beruhigend fuhr er fort: "Wir passen schon auf sie auf. Das Wichtigste für sie ist jetzt Ruhe und Zeit. Wunden der Seele heilen langsam." Er sah ihm in die Augen. "Lass ihr Zeit."

Legolas wusste, dass Elrond Recht hatte. Entschlossen nickte er. "Gut. Morgen bei Tagesanbruch reiten wir los."

°°°°°

(1) Die Sonne scheint. Höre auf mein Wort: Es wird eine besser Zeit kommen.

(2) Mögest du dein Lachen wiederfinden

°°°°°