Das Mädchen ohne Namen
Als Harry, Ron, Hermine und Yuri vor der Großen Halle ankamen, verabschiedeten sie sich von Yuri, denn sie musste mit den Erstklässlern in einen kleinen Hinterraum gehen.
Harry erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er selbst in diesen Raum gemusst hatte.
In der Großen Halle waren sie einer der ersten, die sich an ihre Haustische setzten und ein wenig hungrig auf ihre leeren Teller starrten.
Am Lehrertisch waren bereits alle versammelt. Dumbledore unterhielt sich leise, jedoch recht vergnügt mit Professor McGonagall, Professor Flitwick versuchte, unbemerkt mit seinen Gläsern Töne zu erzeugen und Snape blickte kalt auf die nach und nach hereinkommenden Schüler.
Tatsächlich saß Professor Trelawney mit leicht pikierter Miene neben Firenze, der vor dem Tisch stand und damit beschäftigt war, die Decke der Großen Halle zu betrachten.
Der Sprechende Hut thronte bereits auf einem Stuhl vor dem Lehrertisch.
Während Harry seinen Blick weiter umherstreifen ließ, entdeckte er Cho Chang, die gerade mit ihrer Freundin Marietta hereinkam. Sie blickte ihn kurz an, setzte sich dann aber an den Ravenclawtisch, sodass sie ein massiger Junge verdeckte.
Harry empfand jedoch nichts mehr, wenn sie ihn ansah, es war, als würde er einen fremden Menschen ansehen, den er in einem früheren Leben nur von Weitem gesehen hatte.
Von jenem seltsamen Gefühl im Magen, dass er in solch einer Situation bis vor Kurzem verspürt hätte, merkte er nun nichts mehr.
Hermine las den heutigen Tagespropheten, den sie heute im Zug versäumt hatte zu lesen, und stieß dabei in unregelmäßigen Abständen leise Seufzer aus. Nach einer Weile pfefferte sie den Tagespropheten beiseite. Ron wich erschreckt von ihr zurück.
„Die bringen einfach nichts Handfestes", klagte sie, „und wiederholen mindestens seit drei Wochen täglich die besten Schutzmethoden gegen Riesen und Todesser. Aber wo bleiben die Fakten ? Wie steht es denn inzwischen um Voldemort ?"
„Das werden wir noch früh genug erfahren", sagte Harry düster.
Plötzlich wandten sich alle Köpfe zur Tür der Großen Halle, die von Professor McGonagall geöffnet worden war. Hinter ihr ging die Gruppe der neuen Erstklässler, die sich scheu in der Halle umsahen, und am Ende Yuri, die beeindruckt die Decke betrachtete.
Viele Blicke blieben an ihr haften. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie sehr hübsch war, sondern auch, dass es ziemlich ungewöhnlich war, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen nach Hogwarts kam.
Nachdem der Sprechende Hut sein diesmal recht kurzes Lied beendet hatte, zog Professor McGonagall die Namensliste heraus und rief den Ersten auf.
„Berry, Eric."
Ein rothaariger Junge ging mit leicht zitternden Knien auf den Hut zu und zog ihn sich so schnell wie möglich über den Kopf.
„GRYFFINDOR !"
Vom Gryffindortisch hörte man einen herzlichen Applaus.
„Darren, Cassy."
Das Mädchen, das sich ganz nach hinten verdrückt hatte, schritt rasch auf den Stuhl zu, wobei ihre langen, roten Zöpfe hinter ihr her flogen.
„HUFFLEPUFF!"
So ging es immer weiter, bis Professor McGonagll bei „Wole, Peter" das Pergament zusammenrollte und ein halblautes „Yuri, du kannst jetzt" von sich gab.
Yuri schritt auf den Sprechenden Hut zu und ließ ihn sich auf den Kopf gleiten.
Harry bemerkte, dass der Hut im ersten Moment zusammenschreckte und dann anscheinend mit ihr sprach, denn Yuri hatte die Augen geschlossen.
Die längste Zeit, die der Sprechende Hut jemals mit einer Auswahl verbracht hatte, war wohl die mit Neville gewesen, doch diese Auswahl ging allen voran.
Nach zehn Minuten konnte man ein stetiges Murmeln in der Großen Halle wahrnehmen. Einige schauten fragend zu Dumbledore hinüber, doch der beobachtete nur interessiert den Sprechenden Hut.
Tatsächlich war eine halbe Stunde vergangen, bis der Hut endlich den Mund öffnete.
„S... GRYFFINDOR !"
Nun jubelte der Gryffindortisch.
Yuri kam strahlend, jedoch etwas bleich im Gesicht zu ihnen herüber und setzte sich neben Hermine.
„Warum hat das so lange gedauert ?", fragte Hermine, „war etwas nicht in Ordnung ?"
„Oh, doch, doch, alles war in Ordnung, er konnte sich nur nicht entscheiden,das war alles", antwortete Yuri, und wie es Harry schien, bemüht beiläufig.
Außerdem war es nicht zu überhören gewesen, welchen Buchstaben der Sprechende Hut anfangs gesummt hatte...
Doch nun hatte Harry keine Zeit zum Nachdenken, denn Dumbledore hatte sich erhoben.
„Herzlich willkommen zu einem neuen Jahr in Hogwarts !", sagte er strahlend, „ich freue mich, euch alle hier versammelt zu sehen. Dieses Jahr sage ich euch die nenneswerten Dinge ganz zu Anfang. Nun... wie ihr in den Briefen sicherlich gelesen habt, findet dieses Jahr wieder ein Weihnachtsball statt, diesmal für alle Schüler ab der dritten Klasse. Denn gerade zu solchen Zeiten sind soziale Bande wichtiger denn je.
Da uns Professor Umbridge letzten Sommer verlassen hat, war das Amt des Lehrers gegen Verteidigung gegen die dunklen Künste wieder frei, also sah ich mich genötigt, einen neuen Lehrer zu finden. Und so kann ich sagen, dass ich einen neuen alten Lehrer gefunden habe. Professor Lupin."
Harry, Ron und Hermine grinsten sich an, doch die Mehrheit der Schüler flüsterten angeregt mit ihren Nachbarn, denn es war allen bekannt, dass Lupin ein Werwolf war.
„Leider konnte er heute nicht zum Essen erscheinen, aber ich hoffe, dass ihr ihn trotzdem angemessen empfangen werdet. Wie ihr alle wisst, ist Professor Lupin ein Werwolf, also wird der Unterricht jede vierte Woche für eine Woche ausfallen. Für diese Zeit wird Professor Snape den Unterricht übernehmen."
Die Menge der Schüler reagierte nicht gerade beigeistert darauf, viele stöhnten und sahen missmutig drein. Auch Ron brachte ein schwaches „Neiiin..." hervor und Hermine stöhnte laut. Auch Harry war zwar froh darüber, dass sie Lupin wieder hatten, aber die zusätzlichen Stunden mit Snape waren ein großes Opfer. Dabei waren die Zaubertrankstunden mehr als genug. Er warf einen Blick zu Snape herüber, der sich bei Dumbledores Worten ein überlegenes Grinsen nicht verkneifen konnte.
Nur Yuri sah sich ratlos um und fragte verdutzt: „Was ist denn so schlimm daran? Und wer ist das überhaupt ?"
„Nun ja, ähm – er ist nicht gerade – nett, verstehst du", erklärte ihr Ron mit zusammengepressten Zähnen.
„Oh... stimmt, er sieht so finster aus...", flüsterte Yuri und schaute zu Snape hoch, auf den Ron ohne jede Zurückhaltung mit dem Finger zeigte.
„Außerdem", fuhr Dumbledore fort und das Tuscheln erstarb, „werden Professor Trelawney und Firenze sich das Amt des Lehrers für Wahrsagen teilen. Professor Trelawney übernimmt Slytherin und Hufflepuff, Firnze Ravenclaw und Gryffindor."
Harry musste grinsen, als er das Gesicht von Malfoy sah, welches einer weißen Wand stark ähnelte. Wenigstens waren sie Trelawney los, auch wenn sie Snapes Stunden nicht wettmachen können würde.
„Das war's vorerst. Und jetzt könnt ihr euch vollstopfen. Legt los!", sagte Dumbledore abschließend und die Tische waren übersäht mit Truthähnen, Kartoffelaufläufen, Gemüsepasteten und anderen Dingen, die herrlich dufteten.
Ron stürzte sich auf einen besonders großen Truthahn, schaufelte sich eine Hälfte davon auf den Teller und stopfte seinen Mund damit voll.
Hermine sah ihn missbilligend von der Seite her an und nahm sich ein Stück vom Kartoffelauflauf. Yuri nahm von allem etwas. Harry bevorzugte wie Ron den Truthahn, doch auch den Fisch in Sahnesoße ließ er nicht außer Acht.
Harry bemerkte, dass der Fast Kopflose Nick absichtlich einen Bogen um hin machte und ihn nicht ansah, als er wie üblich an den Schülern vorbeischwebte.
Am Ende des Essens eilten Ron und Hermine zu den Erstklässlern hinüber, um ihnen den Weg zum Gryffindorgemeinschaftsraum zu zeigen.
Yuri und Harry blieben zurück und schauten sich an.
„Tja, ähm, gehen wir dann auch zum Gemeinschaftraum ?", fragte Yuri schließlich und stand auf.
„Ja, okay", antwortete Harry und ging vor, um ihr den Weg zu zeigen.
Während er sie über Treppen, durch Gänge und Wände führte, spürte er wieder das seltsame Ziehen im Magen. Yuri lief still hinter ihm her und warf ab und zu einen Blick auf ein Gemälde oder eine Rüstung, die ihr freundlich zuwinkte.
Harry fühlte sich seltsam. Wenn Yuri bei ihm war, fühlte er sich nicht so allein wie in den letzten Monaten. Sie schien die Barriere zu durchbrechen, die zwischen ihm und den anderen existierte. Aber wie konnte das sein ? Schließlich kannte er sie kaum und wusste nichts über sie. Ihm war auch aufgefallen, dass Yuri noch nie ihren Nachnamen erwähnt hatte, weder von ihren Eltern erzählt hatte. Auch von dem Windherz, in dem sie eingeschlossen war, würde er gerne mehr wissen. Aber das konnte er unmöglich fragen... doch nach ihrem Nachnamen zu fragen konnte wohl nicht schlimm sein.
„Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen ?", fragte Harry bemüht lässig, drehte sich aber nicht zu ihr um.
Plötzlich bemerkte er, dass er ihre Schritte nicht mehr hören konnte. Er drehte sich um und starrte sie an.
Yuri war stehen geblieben. Kreidebleich stierte sie den Boden an und brachte kein Wort heraus. Sie schluckte und schien bewegungslos zu sein.
„Ich – ähm, ich", stammelte sie, „ich - "
„Was ist ?", fragte Harry verdutzt und kam zu ihr. „Wenn du nicht willst, musst du es mir nicht sagen. Ähm - komm, wir sind gleich da."
„Okay."
Harry wunderte sich sehr, doch er sagte nichts mehr, sondern wendete sich der Fetten Dame zu.
„Passwort ?", fragte sie wie üblich.
„Ähm – ähm", stammelte Harry und sah Yuri ratlos an.
„Stinkbomben", sagte Yuri und lächelte ihm verschmitzt zu.
„Woher weißt du das ?", fragte Harry verblüfft, als das Gemälde zur Seite schwang.
„Hermine hatte es auf der Fahrt in der Kutsche erwähnt", antwortete Yuri und stieg durch das Portraitloch.
„Oh..."
Als sie im Gemeinschaftraum waren, sah sich Yuri beigeistert um.
„Gefällt es dir ?", fragte Harry.
„Oh, es ist toll hier ! Besser als bei mir zu Hause", sagte sie begeistert.
„Da seid ihr ja !"
Harry wandte sich um und erblickte Ron und Hermine, die aus dem Portraitloch stiegen.
„Wir haben euch überall gesucht", sagte Hermine.
„Wir sind aber ganz normal hier hoch gegangen", erwiderte Harry und sah Hermine überrascht an.
„Ach tatsächlich ? Nun ja, vielleicht haben wir uns verpasst", tat Hermine mit einer Handbewegung ab und ließ sank in einem der Sessel am Kamin nieder.
„Ich bin todmüde", stieß sie hervor, „eigentlich wollte ich ja noch ein paar Hüte machen, aber ich kann einfach nicht mehr."
„Hüte ?", fragte Yuri verwirrt, „was denn für Hüte ?"
„Oh, habe ich dir etwa noch nicht von B-Elfe-R erzählt ?", sagte Hermine eifrig, stand auf und spurtete die Treppe zu dem Mädchenschlafsaal ohne eine Spur von Müdigkeit hinauf. Kaum hatte Harry den Mund geöffnet, um Yuri Näheres zu erklären, war sie auch schon wieder da, in der Hand mit einem Kasten voll Anstecker und in der anderen mit ihrer Sammelbüchse.
Nun begann sie, Yuri haarklein über B-Elfe-R aufzuklären und versuchte, ihr einen Anstecker aufzudrängen.
„Ich dachte, du bist müde ?", unterbrach sie Ron mit hoch gezogenen Brauen.
„Oh, ähm, nun ja, weißt du, für mich gehen Sachen, die einem guten Zweck dienen, einfach vor", erwiderte sie und fuhr fort.
Ron verdrehte die Augen und murmelte Harry zu: „Gehen wir schlafen ? Ich bin wirklich müde."
„Gut", entgegnete Harry und wandte sich Hermine zu. „Gute Nacht. Und versuch bloß nicht, ihr so einen Anstecker zu verkaufen. Diese ganze Aktion ist nämlich vollkommen sinnlos."
„Du verstehst das einfach nicht !", fauchte ihm Hermine hinterher, während er die Treppe zum Jungenschlafsaal hochstieg, „diese Wesen brauchen unsere Hilfe, sonst werden sie für immer äußerst schlecht behandelte Sklaven bleiben !"
Am nächsten Morgen war das Wetter wie am Vortag tadellos. Der Himmel wies zwar ein paar Wolken auf, aber die Sonne strahlte immer noch in ihrer ganzen Pracht.
Als Harry und Ron zum Frühstück in die Große Halle kamen, saßen Hermine und Yuri bereits vor reich gefüllten Tellern und dampfenden Tassen.
„Guten Morgen!", begrüße sie Hermine gut gelaunt, „ich hab eure Stundenpläne für diesen letzten normalen Monat mit eingesammelt, hier. Ach, in einem Monat fangen schon die UTZ-
Kurse an, wir haben ja so viel Arbeit vor uns... Habt ihr gut geschlafen ? Ich schon. Es ist wunderbar, wieder hier zu sein, ich habe den Schlafsaal richtig vermisst. Du magst ihn auch, nicht wahr, Yuri ?"
„Aber sicher", lachte sie, „er ist genauso gemütlich wie der Gemeinschaftsraum. Ich habe richtig gut in meinem Bett geschlafen, fast besser als bei mir zu Hause."
Harry und Ron setzten sich mit noch etwas kleinen Augen vor ihre leeren Teller und begannen mit schlechten Vorahnungen ihre Stundenpläne gründlich zu studieren.
„Der Montag geht ja", sagte Ron gnädig, „aber der Dienstag ist einfach unverschämt. Er fängt mit Doppelstunde Zaubertränke an ! Danach Verteidigung gegen die dunklen Künste. Na ja, für die meisten Wochen ist das nicht schlecht, aber wenn er mal wieder zum Werwolf wird, sieht es schlecht für uns aus. Schade, dass es dagegen kein Mittel gibt", fügte er missmutig hinzu und lud einen Berg gebratenen Schinken auf seinen Teller.
„Der Freitag ist am besten", verkündete Harry, „Doppelstunde Pflege magischer Geschöpfe, und kein Zaubertränke. Naja, eine Stunde Wahrsagen..."
„Sowas nennst du gut ?",fragte Ron missbilligend, „eher werden wir zerfleischt als Spaß zu haben."
„Ich mag Hagrids Unterricht", log Harry und schob sich einen besonders großzügigen Löffel Cornflakes in den Mund.
„Du magst Hagrid, nicht seinen Unterricht", korrigierte ihn Hermine bemüht ernst und nahm den Tagespropheten entgegen, den ihr eine Eule aufdrängte. „Außerdem haben wir nur noch vier Wochen normalen Unterricht, also kann uns Snape höchstens eine Woche lang quälen."
Harry hob automatisch seinen Kopf, doch er wusste, dass Hedwig nicht dabei sein würde; wer sollte ihm auch schreiben ? Doch wer war der weiße Vogel, der nun hereingeflogen kam ? Im ersten Moment dachte Harry, es wäre seine Hedwig, doch im nächsten Moment registrierte er, dass dieser Vogel viel größer als Hedwig sein musste. Er hatte große, schneeweiße Flügel, und einen ebenso weißen und schlanken Körper.
Tatsächlich landete der Vogel genau vor ihm und er erkannte, dass es ein sehr großer Schwan war. Doch er wandte sich Yuri zu und legte einen Brief neben ihrem Teller.
„Ist das dein Vogel ?", fragte Hermine neugierig und musterte den riesigen Schwan, der Rons warme Milch umgekippt hatte, die sich nun ihren Weg über den Tisch bahnte.
„Hm, ja", antwortete Yuri ein wenig verlegen. Doch dann grinste sie den Vogel verschmitzt an und stupste ihm an den Schnabel."Er muss sich immer aufspielen. Typisch. Ich habe dir doch gesagt, dass du keine Aufmerksamkeit erregen sollst... Sein Name ist übrigens Cygnus."
„Ist das eine besondere Art ? Er ist so groß", fragte Hermine weiter und betrachtete nun das Federkleid von Cygnus, der auf den Schoß von Yuri geflattert war.
„Nicht dass ich wüsste", sagte Yuri, streichelte ihren Schwan und fütterte ihn mit Toaststücken, „aber er muss immer ein Show abziehen. Doch davon abegesehen ist er sehr zuverlässig und treu, und das schätze ich an ihm."
Nun zwickte ihr Cygnus leicht in die Hand und flog davon.
„Man darf doch eigentlich nur Eulen, Kröten oder Katzen als Haustiere haben, oder ?", bemerkte Ron, der die Milch mit einem nicht unbedingt eleganten Schlenker seines Zauberstabs wieder in die Tasse zurückbeförderte.
„Ja, stimmt eigentlich. Aber ich habe eine Erlaubnis von Dumbledore", antwortete Yuri und steckte den Brief in ihre Tasche.
„Aha", nuschelte Ron und widmete sich wieder voll und ganz seinem Schinken.
„Wusstet ihr schon, dass wir ab diesem Jahr in die Verbotene Abteilung ohne schriftliche Erlaubnis eines Lehrers gehen dürfen ?", teilte ihnen Hermine aufgeregt mit, „ich freue mich ja schon so darauf, endlich einen weiteren Teil der Bibliothek nutzen zu können. Ich werde meinen Hausaufgaben noch besser recherchieren und ausarbeiten können und auf ganz neue Dinge stoßen. Außerdem hat man mal ein paar ganz neue Aspekte vor Augen, wo man unterscheiden muss, wie weit man mit Magie gehen darf. Das würde bestimmt auch einen interessanten Aufsatz ergeben..."
Harry konnte Hermines Begeisterung nicht ganz nachempfinden, schließlich hatte er nicht gerade gute Erinnerungen an die Verbotene Abteilung, doch er war schon ein wenig gespannt, was sich alles darin verbergen würde.
Nach dem Frühstück hatten sie Kräuterkunde, also schlenderten sie zu den Gewächshäusern hinüber. Die Luft war mild und roch nach frischem Gras, die Sonne strahlte ihnen entgegen und weit und breit war kein Snape oder Malfoy zu entdecken. Sie hatten zusammen mit den Hufflepuffs Unterricht, aber es war noch niemand zu sehen. Nur Dean Thomas und Seamus Finnigan, Lavender Brown und Parvati Patil waren schon da.
Lavender und Parvati kicherten leise, als Yuri an ihnen vorbei ging, und kamen dann auf sie zugehastet.
„Du bist doch die Neue, oder ?", fragte Parvati, „ich bin übrigens Parvati Patil, auch in Gryffindor."
„Wie heißt du ?", fügte Lavender hinzu und sah sie interessiert an.
„Ich bin Yuri", sagte sie.
„Und weiter ?", hackte Parvati nach.
„Ähm – äh – O'Hara", antwortete Yuri knapp und ging rasch zu Hermine herüber, während ihr die beiden misstrauisch nachsahen.
Harry starrte sie verdutzt an. Warum verriet sie ihren Nachnamen jetzt ? Er war sich sicher, dass sie gelogen hatte, sonst hätte sie nicht überlegt. Und weshalb hatte sie bei ihm solch große Probleme gehabt, ihn nicht zu sagen ? Harry kam sie irgendwie geheimnisvoll vor, auch wenn sie offen und fröhlich wirkte.
Hermine schien das allerdings nicht zu stören. Sie unterhielt sich munter mit ihr und deutete dabei auf die verschiedenen Gewächshäuser.
Ron jedoch schaute Hermine missmutig an und setzte eine grießgrämige Miene auf.
„Was ist denn ?", fragte Harry Ron.
„Nichts", gab Ron zurück und verschränkte die Arme.
„Aber gut gelaunt scheinst du nicht gerade zu sein", bohrte Harry weiter nach. So schnell würde er nicht locker lassen. Was war bloß los mit ihm ?
„Ich hab nicht so gut geschlafen", murmelte Ron forsch.
„Ah", sagte Harry schmunzelnd. Auch wenn er ihm nicht glaubte, ließ er es für jetzt erst einmal bleiben.
Inzwischen waren auch die Hufflepuffs und Professor Spout eingetroffen.
Im Gewächshaus stand eine riesige Kiste aus Holz, um die sich alle herumstellten.
„Guten Morgen", begrüßte sie Professor Spout, „ihr seid jetzt in der sechsten Klasse und habt nur noch diesen Monat normalen Unterricht. Das heißt, in einem Monat möchte ich viele von Ihnen wieder sehen in meinem UTZ-Kurs, verstanden ? Nun, die Pflanzen, mit denen wir uns jetzt noch auseinandersetzten, sind um einiges gefährlicher als im letzten Jahr."
Neville begann, nervös an seinen Fingernägeln zu kauen, während Professor Sprout um die Kiste herumlief.
„In dieser speziell dicken und abgedichteten Kiste befindet sich eine Teufelsschlinge", erklärte sie unbeeindruckt, „sie hat schon einige Todesfälle verursacht, aber wenn man weiß, wie man gegen sie vorgehen muss, ist es nicht unmöglich, sie zu lähmen. Ich habe die Teufelsschlinge schon in der ersten Klasse erwähnt. Weiß noch jemand etwas über sie ?"
Hermine hob die Hand. „Ja, Miss Granger ?"
„Sie meidet Sonnenlicht und bevorzugt dunkle Plätze", antwortete Hermine mit ihrer üblichen Wie-aus-der-Pistole-geschossen-Stimme.
„Gut, zehn Punkte für Gryffindor", lobte sie Professor Sprout anerkennend.
„Also, ich lasse sie jetzt gleich los, und jeder von euch wird es einzeln mit ihr aufnehmen. Einen Spruch für Sonnenlicht müsstet ihr bereits kennen", sagte sie, „welcher ist das ? Longbottom ?"
„Ähm – Lumos ?", quiekte Neville unsicher.
„Viel zu schwach, damit kann man nicht einmal eine sieben Monate alte Teufelsschlinge ablenken", winkte Professor Sprout ab, „ja ?"
„Lumos solem ist vielleicht ein wenig wirkungsvoller", sagte Hermine behutsam, „dieser Spruch wird auch dazu verwendet, Lagerhallen von bis zu zweihundert Metern zu erleuchten."
„Sehr richtig", stimmte sie zu , „weitere zehn Punkte. Also, beherrscht jeder den Spruch ?"
Überall hörte man zustimmendes Murmeln.
„Nun, dann werde ich gleich den Deckel hochheben. Wie wäre es mit dir ?", sagte Professor Spout und deutete auf Yuri, „hast du schon praktische Erfahrungen mit Pflanzen ?"
„Nein, aber ich kann es ja versuchen", antwortete Yuri und zog ihre Zauberstab hervor, der sehr lang und dünn war, „es gibt schließlich immer ein erstes Mal."
„Oh, nun, wenn man noch keinerlei Erfahrungen hat, sollte man nicht unbedingt mit einer Teufelsschlinge anfangen", warf Professor Sprout rasch ein und stellte sich vorsichtshalber zwischen die Kiste und Yuri, die schon in angriffsbereiter Pose vor der Kiste stand und den Zauberstab gezückt hatte.
„Aber-", setzte Yuri an, doch Professor Sprout unterbrach sie.
„Vielleicht lassen wir ihn mal ran", sagte sie bestimmt und zog Justin Finch-Flechtley hastig heran, „du kennst ja den Spruch. Also, auf drei. Du feuerst den Spruch ab, sobald sie eine Schlinge nach dir streckt, verstanden ? Alle zu Seite ! Nein, Finch-Flechtley, Sie bleiben selbstverständlich hier. Und Longbottom, nun stellen Sie sich nicht so an, ich bin ja da, es kann Ihnen nichts passieren. Nun... eins, zwei, drei !"
Mit einem ohrenbetäubenden Knall prallte der Deckel der Kiste auf den Boden, und sofort streckte die Teufelsschlinge eines ihrer langen Schlingen nach Justin aus, der mit angstgeweiteten Augen darauf starrte und nicht fähig schien, sich zu bewegen.
„Oh, sie ist größer geworden, als ich dachte", sagte Professor Sprout mit leichter Panik in der Stimme.
„Na los, machen Sie sie fertig ! Es ist doch erst eine Schlinge draußen ! Denken Sie an den Spruch !", feurte sie Justin mit einer Art Begeisterung in der Stimme an, der jedoch noch immer wie gelähmt dastand, während sich die Schlinge um seine Beine wickelte. Mit einem Mal schossen drei weitere Schlingen aus der Kiste, die wild um sich schlugen. Die Schlingen waren bräunlich und sahen recht vertrocknet aus. Eine davon traf Professor Sprout hart am Kopf, sodass sie seltsam die Augen verdrehte und zu Boden fiel.
„Sie – sie ist ohnmächtig !", schrie Hermine entsetzt und starrte mit Angst geweieteten Augen auf die bewusstlose Professor Sprout.
Einige kreischten hysterisch und rannten aus dem Gewächshaus, darunter alle Hufflepuffs und ein einige Gryffindors. Wieder kamen zwei besonders dicke Schlingen aus der Kiste. Einer von ihnen schlang sich um Harrys Körper, wobei er spürte, wie sein Zauberstab, den er in der Tasche seines Umhangs gehabt hatte, auf den Boden fiel. Verzweifelt versuchte er, sich ihrem Griff zu entwinden, doch die Schlinge war einfach zu dick und stark, um etwas gegen sie ausrichten zu können. Als er seinen Kopf panisch nach rechts und links drehte, erblickte er Ron, der seinen Zaubertsab erhoben hatte.
„LUMOS SOLEM !", brüllte er und richtete den Zauberstab direkt auf die Schlinge, die Harry umklammerte.
Harry spürte, wie die Schlinge zusammenzuckte, doch sie ließ ihn nicht los.
In seiner Verzwiflung suchte er hektisch nach Hermine, und er hätte geschrien, wäre ihm die Kehle nicht wie zugeschnürt. In der ebenso dicken Schlinge nicht weit von ihm entfernt steckte sie ohnmächtig fest, den Kopf kraftlos herunterhängend.
„Irgendjemand muss doch kommen, irgendjemand", dachte Harry fieberhaft und reckte sich abermals. Da entdeckte er Yuri, die auf dem Boden kniete und sich den Kopf schüttelte. Als sie den Kopf hob und Harry und Hermine erblickte, zog sie ihren Zauberstab hervor und schrie angsterfüllt : „Avada Kedavra !"
Mit einem Mal spürte Harry, wie die Kraft der Schlinge von einem Moment zum anderen verschwunden war. Die Schlinge löste sich, und er fiel auf den Boden, wie auch Hermine, die allerdings bewegungslos liegen blieb.
Sofort eilten er und Yuri zu Hermine herüber und knieten sich neben sie.
„Hermine ?", sagte Harry mit pansicher Stimme und schüttelte sie, „wach auf !"
„Sie ist nur bewusstlos", sagte Yuri ruhig. „Ich weiß, wie man sie heilen kann. Einen Moment."
Sie zog ihren Zauberstab hervor und richtete ihn auf Hermine Herz. Nun schloss sie die Augen und lächelte, als wäre alles in bester Ordnung.
Harry starrte sie ungläubig an. Was sollte das alles ?
„W – was ist ?"
Hermine hatte die Augen geöffnet und setzte sich auf. Sie besinnte sich kurz und entdeckte dann Ron, der reglos nur ein paar Meter weiter von ihr entfernt lag.
„Ron !", schrie sie entsetzt, „was ist mit dir ?" Sie rüttelte an ihm.
„Was ist denn mit Ron passiert ?", fragte Harry ratlos, „eben war er doch noch wach !"
„Ich weiß es nicht", entgegnete Yuri und sah ihn besorgt an, „vielleicht hat er auch einen Schlag abbekommen. Diese Teufelsschlinge war ziemlich seltsam. Ich habe nie etwas darüber gelesen, dass sie wie wild um sich herumschlagen."
„Ich auch nicht", sagte Hermine ungeduldig, „aber wir sollten ihn jetzt besser zum Krankenflügel bringen."
„Nicht nötig", sagte Yuri, holte abermals ihren Zauberstab hervor und heilte Ron auf die gleiche Weise, wie sie es bei Hermine getan hatte.
Auch Ron schlug sofort die Augen auf und blickte sich hastig um.
„Wo ist das Ding ? Was sitzt ihr hier herum, raus hier !", rief er aufgebracht.
„Es ist alles vorbei, Ron", sagte Hermine erleichtert.
„Vorbei ?", fragte Ron verdutzt.
„Du und Hermine seid ohnmächtig geworden, als uns dieses Ding angegriffen hat, aber Yuri hat euch geheilt und die Teufelsschlinge– umgebracht", sagte Harry, dem erst jetzt wieder einfiel, dass Yuri einen der unverzeihlichen Flüche benutzt hatte.
„Umgebracht ?", sagte Hermine entsetzt, „wie denn das ?"
„Mit dem Avada Kedavra Fluch", antwortete Yuri ruhig, „es tut mir leid, ich hatte aber einfach keine andere Wahl, es war zu stark, ein Lumos Solem Spruch hatte nicht ausgereicht. Ach, und hier, dein Zauberstab, Harry", fügte sie hinzu,drückte ihm seinen Zauberstab in die Hand und rannte aus dem Gewächshaus. Harry hatte gesehen, wie ihr die Tränen in den Augen aufgestiegen waren, während sie geredet hatte.
„Was war denn das ?", fragte Ron verdutzt, stand auf und reckte sich.
„Da kommt Professor McGonagall !", rief Hermine und deutete zur Tür.
„Was war hier los ?", fragte sie aufgebracht und betrachtete ungläubig die am Boden liegende Teufelsschlinge, „Miss Granger, ich muss Sie bitten, mit in mein Büro zu kommen. Weasley, Potter, Sie können gehen, falls Sie nicht verletzt sind."
„Aber sie hat gar nichts damit zu tun, Professor !", warf Ron ein.
„Das weiß ich, Weasley", erwiderte Professor McGonagall streng, „kommen Sie jetzt mit."
Hermine folgte ihr gehorsam aus dem Gewächshaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Ich verstehe gar nichts mehr", sagte Ron schwach, „und gleich haben wir Pflege magischer Geschöpfe, wir müssen runter zu Hagrid."
Erst wollte Harry Ron erklären, was sich ereignet hatte, doch dann überkam ihn das Gefühl, es besser keinem mitzuteilen. Was, wenn es besser nicht einmal er gesehen hätte, was Yuri getan hatte ?
Als Harry und Ron bei Hagrid ankamen, hatte der Unterricht bereits angefangen.
„Entschuldige, Hagrid, aber drüben beim Gewächshaus gab es einen Zwischenfall, und deshalb –", setzte Harry an, doch Hagrid tat seine Entschuldigung mit einer Handbewegung ab.
„Is' schon gut, Harry, ich weiß bescheid", sagte er halblaut, „setzt euch, wir ham grad erst angefangen."
„Ist ja klar, dass seine Lieblingsschüler Potty und Wiesel zu spät kommen dürfen", flüsterte Malfoy mit einem hässlichen Grinsen, „unsereins darf sich sowas natürlich nicht erlauben. Aber vielleicht darf ich es ja auch, wenn ich mir den Schädel aufschlitze. Was meinst du, Narbengesicht ?"
Harry tat so, als hätte er Malfoy nicht gehört und setzte sich neben Ron, der Crabbe genüsslich die Zunge herausstreckte, als er sich kunstvoll niederließ.
„Also ,wie gesagt, heute befassen wir uns nochmal 'n wenig mit Thestralen, ihr werdet es brauchen", kündigte Hagrid an. „Wer weiß noch, wie man Thestrale anlockt ?"
Ohne Hermine war es seltsam, in einem Klassenraum zu sein. Ihre Hand, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Höhe schoss, schien in dem gewohnten Umfeld zu fehlen. Doch Harry konnte sich noch sehr gut erinnern, dass man Thestrale am besten mit Blut anlocken konnte – das hatte ihm einst sehr geholfen.
„Harry ?"
„Mit frischem Blut", antwortete er.
„Zehn Punkte für Gryffindor", sagte Hagrid anerkennend und fuhr fort.
Die ganze Stunde über wiederholten sie die verschiedenen Eigenschaften der Thestrale. Ron wirkte von Minute zu Minute gelangweilter und vertrieb sich schließlich die Zeit damit, ungleiche Abbilder von Snape in sein Buch zu kritzeln.
In der nächsten Stunde hatten sie Verteidigung gegen die dunklen Künste. Harry und Ron freuten sich so sehr, Lupin wieder als Lehrer zu haben, sodass sie schon zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn in das Klassenzimmer stürzten. Lupin saß am Pult, kränker und älter aussehend denn je, und lächelte ihnen zu. Sein Umhang schien noch verschlissener als jemals zuvor zu sein, und sein Haar wirkte recht spärlich. Wahrscheinlich hatte man kaum Zeit auf sein Aussehen zu achten, wenn man ein Mitglied es Ordens war, dachte Harry, das wäre nichts für Lockhart.
„Schön, euch mal wieder als Schüler zu begrüßen", sagte er grinsend.
„Warum haben Sie eigentlich Zeit, uns zu unterrichten, obwohl Sie im Orden sind ?", fragte Ron neugierig.
„Ssssch !", zischte Lupin, „nicht so laut ! Ich bin hier, um – ähm - sicherzugehen, dass keine Spione von Voldemort in Hogwarts auftauchen. Und um euch zu unterrichten natürlich", fügte er hinzu. „Und erwähn den Orden nicht, wenn wie hier sind, verstanden ?"
„Schon kapiert", sagte Ron ein wenig enttäuscht, „aber gerade ist doch niemand da. Also, was gibt es Neues ?"
„Nicht viel", erwiderte Lupin nüchtern, „und außerdem darf ich euch nicht zu viel sagen, das wisst ihr doch."
„Mum will, das wir nichts erfahren", murrte Ron verdrießlich.
„Nichts ?", wiederholte Lupin. „Übertreibst du nicht ein bisschen ?"
„Na ja, so gut wie nichts", gab Ron zu und seine Ohren färbten sich rosa.
„Wie geht es dir, Harry ?", fragte Lupin freundlich.
„Ähm – gut", entgegnete Harry und war selbst überrascht, dies zu sagen. Zwischen all der Freude, wieder in Hogwarts zu sein und dem Unterricht hatte er fast Sirius vergessen. Im nächsten Moment fühlte er sich schuldig.
Auch in den nächsten Stunden waren Hermine und Yuri nicht gekommen, erst als Harry und Ron vor dem Klassenzimmer für Zauberkunst standen, kam Hermine auf sie zugehastet.
Schwer atmend stemmte sie sich gegen sie Wand.
„Hoffentlich – habe – ich nicht – zu - viel verpasst", würgte sie hervor, „aber – es ging – nicht schneller."
„Nein, hast du nicht", sagte Ron genervt, „was wollte die McGonagall denn von dir ?"
„Mit mir reden", erwiderte Hermine, die nun wieder recht normal atmete.
„Aha, so, so, mit dir reden", wiederholte Ron ungeduldig, „und über was ?"
„Denk mal scharf nach", antwortete Hermine bissig, „und wenn du das nicht weißt, kann ich dir auch nicht weiterhelfen."
