Der Punkt auf der Karte

Bis zum Mittagessen versuchte Ron, aus Hermine herauszukitzeln, was Professor McGongagall mit ihr besprochen hatte ( „Ach, nun komm schon, Hermine, wir sind doch deine Freunde. Oder willst du uns wieder so hintergehen wie mit dem Zeitumkehrer?", bettelte Ron mit wehleidiger Stimme. – „Ich habe euch nicht hintergangen !", fauchte Hermine empört zurück, „so etwas würde ich nie tun!" ), doch Hermine blieb eisern und, so schwer es ihr auch fallen mochte, erwiderte nicht ein Wort auf Rons unaufhörliche Betteleien.

Als sie am Haustisch der Gryffindors ankamen, gab es Ron endgültig auf, etwas aus ihr herauszubekommen. Zutiefst beleidigt häufte er sich seinen Teller mit Kartofflen voll und begann mit einem grießgrämigen Gesicht, sie zu Brei zu verarbeiten.

„Warum bist du nur immer so stur und musst gleich den Beleidigten spielen ?", fuhr ihn Hermine plötzlich an und hämmerte so fest mit ihrer Gabel auf den Tisch, sodass die Tischplatte eine Furche bekam.

„Was? Ich? Beleidigt? Ich bin überhaupt nicht beleidigt", entgegnete Ron hitzig, „du bist doch diejenige, die so verdammt stur ist und nichts sagen will."

„Ich darf eben nicht !", entfuhr es Hermine zornig.

„Ich wusste es! Ich wusste es!", schrie Ron schrill und deutete auf Hermine, während ihn ein paar Erstklässler erschreckt ansahen, „du hintergehst uns schon wieder, wie letztes Mal! Deine Loyalität ist dir wichitger als deine Freunde, und sowieso beachtest du uns überhaupt nicht mehr!"

„ICH – HINTERGEHE – EUCH – NICHT!", schrie Hermine wütend, „und was soll das heißen, ich beachte euch nicht? Wenn du Yuri meinst, kann ich dir nur sagen, dass ich ihr nur helfen will!"

„Trotzdem vertraust du mir nicht!", brach es aus Ron heraus, „du willst es mir nicht sagen!"

„Was? Du –du", stammelte Hermine halb entsetzt, halb kochend vor Zorn. Sie blickte sich kurz um und bemerkte nun, dass ungefähr die Hälfte der Großen Halle interessiert ihren Streit verfolgte. Manche Jungen aus der ersten Klasse hatten schon ihren Freunde herbeigeholt und diskutierten angeregt.

„Gleich gibt es eine Schlägerei, schaut mal! Voll cool", hauchte ein kleiner, hellhäutiger Junge.

„Ich wette auf das Mädchen", bemerkte ein stämmiger Junge hinter ihm mit borstigem Haar , „ich glaube, die hat Recht. Sie macht den Jungen fertig, guck mal, wie rot der schon aussieht! Ich sag dir, der hat eine Mordsangst. Weitere Wetten werden noch angenommen! Wer hat seine Schokofroschkarten dabei? Was bietet ihr?"

Hermine schluckte und lief noch ein wenig rosafarbener an.

„Ich glaube, wir sollten das Gespräch lieber woanders weiterführen", zischte Hermine giftig.

„Wie du willst", fauchte Ron mit verengten Augen zurück.

Nun aßen beide still vor sich hin und warfen einander gelegentlich vernichtende Blicke zu, und sahen dabei aus wie zwei Ringkämpfer, die am liebsten an die Gurgel springen würden.

„Nun beruhigt euch mal", sagte Harry behutsam, „warum müsst ihr euch bloß immer

streiten?"

„Wer –", setzte Ron mit erhitzter Stimme an, doch Hermine gebot ihm mit einem Blick zu schweigen.

„Nachher", sagte sie ihn bemüht ruhigem Ton und schüttete Orangensaft in ihr Glas.

Harry seufzte. Es war furchtbar, Ron und Hermine beim Streiten zuzusehen. Er fragte sich, warum sie sich einfach nicht vertragen konnten... inzwischen schaffte es Harry, ihre Kabbeleien einigermaßen zu überhören, aber wenn die beiden in einen lautstarken Streit übergingen, war es unmöglich, keine Notiz davon zu nehmen.

Nach dem Essen stand Ron sofort auf.

„Gehen wir nach darußen ", sagte er mit fester Stimme und schritt voraus, „komm mit, Harry, ich brauche dich als Verteidiger, Angreifer und Zeuge."

„Moment mal", warf Harry ein und hielt Hermine am Arm fest, die schon im Begriff war, Ron zornfunkelnd zu folgen, „wollt ihr euch draußen etwa duellieren?"

„Red keinen Unsinn", entgegnete Hermine forsch, „wir klären bloß eine Diskussion."

Harry seufzte abermals und folgte Ron, der nach draußen ging, bis zum See stapfte, dort anhielt und sich schnaubend umdrehte.

„So. Drinnen geht es also nicht. Was wolltest du sagen?", fragte Ron herausfordernd.

„Dass du unverschämt bist", antwortete Hermine kühl, die anscheinend in der Zwischenzeit an Hitzigkeit verloren hatte. „Natürlich vertraue ich dir... aber ich halte meine Versprechen, und ich habe Professor McGonagall mein Wort gegeben, nicht darüber zu sprechen. Was würdest du denn an meiner Stelle tun? Dein Wort brechen?"

„Na ja", nuschelte Ron nun um einiges weniger laut, „meinen besten Freunden würde ich es sagen, aber sonst niemanden. Aber anscheinend sind wir nicht deine besten Freunde, das ist wahrscheinlich Vicky, nehme ich an?", fügte Ron kalt hinzu.

„Halt ihn doch da raus!", sagte Hermine wütend, „was passt dir eigentlich nicht an ihm?"

„Alles passt mir an ihm", erwiderte Ron, „er ist ein internationaler Quidditchspieler, älter und ein ziemlich guter Sucher. Alles ist doch ganz perfekt an ihm. Was sollte mir da nicht

passen?"

„Sehr zu mögen scheinst du ihn aber nicht", setzte Hermine nach.

„Da hast du Recht, Hermine, ich mag keine grantigen Kerle, die sich überall einschleimen,", sagte Ron noch eine Spur kühler und drehte sich um, „gehen wir, Harry?"

„Ähm", sagte Harry und warf Hermine einen flüchtigen Blick zu, die Ron mit offenem Mund anstarrte, „okay."

Ihm war nicht ganz wohl zumute, Hermine einfach stehen zu lassen, doch er folgte Ron hoch in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors.

Dort ließ sich Ron in einen Sessel fallen und starrte mit trister Miene ins das prasselnde Feuer. Harry holte seine Schulsachen und begann, Hausaufgaben zu machen, schließlich musste er um acht Uhr fertig sein, da ihn Dumbledore in Okklumentik unterrichten würde.

Gerade war er mitten in seinem Aufsatz über Verkleinerungszauber für Zauberkunst, als Ron den Mund öffnete.

„Meinst du, sie ist – ähm – sehr sauer?", fragte Ron unsicher.

„Ähm, na ja", überlegte Harry, der Rons Frage ein wenig seltsam fand, „immerhin hast du Krum ganz schön beleidigt, oder?"

„Und?"

„Na, ich denk mal, sie steht auf ihn,", erwiderte Harry achselzuckend und wandte sich wieder seinem Blatt Pergament zu.

„Ich geh mal schlafen", sagte Ron kurz gebunden und stand auf.

„Was? Jetzt schon?", fragte Harry verdutzt.

„Ja, jetzt schon", brummte Ron und ging tatsächlich die Treppe zum Jungenschlafsaal hinauf.

Harry schaute ihm verwundert nach. Ron benahm sich schon seit gestern seltsam, und er wusste nicht wirklich, warum.

Während er wieder in seine Hausaufgaben vertieft war, ging plötzlich das Portraitloch auf und Hermine kam auf ihn zu.

„Oh, Hermine", sagte Harry etwas erschreckt, „du bist's. Wo warst du?"

„In der Bibliothek", antwortete Hermine in gleichgültigem Ton, „ich hatte noch Arithmantikhausausfgaben zu erledigen und brauchte dazu ein paar Bücher."

Auch sie ließ sich nun in den Sessel fallen und schaute mit den gleichen Gesicht wie Ron zuvor in das Feuer.

„Was ist nur mit Ron los?", fragte sie Harry ratlos.

„Ähm, tja, ich glaube, er ist sauer, weil du Krum magst", entgegnete Harry leise und beugte sich ein wenig weiter über den Tisch.

„Was?", brach es aus Hermine hervor und schien plötzlich weder auf das Feuer, noch auf irgendetwas anderes zu starren, „wirklich?"

Harry brummte ein „Ja, würd ich mal sagen" und schrieb weiter. Wenn er in dem Tempo weiterarbeitete, würde er die Nacht durcharbeiten müssen, und dazu hatte er nicht im Geringsten Lust.

Nun stapfte Hermine die Treppe zum Jungenschlafsaal hoch und öffnete leise die Tür.

Harry hörte noch, wie sie ein „ Ron? Meine Güte, jetzt tu bloß nicht so, als ob du schläfst" von sich gab, bevor die Tür zufiel.

Um zehn vor acht verließ Harry den Gemeinschaftsraum, um zur Okklumentikstunde zu gehen, bis ihm einfiel, dass Dumbledore ihm nicht gesagt hatte, wo sie stattfinden würde.

Deshalb ging er wieder in den Gemeinschaftsraum ( „Es wäre nett von dir, wenn du dich entscheiden würdest, ob du rein oder raus willst" rief die fette Dame entzürnt. ) zurück und stieg die Treppe zum Schlafsaal hoch. Ron und Hermine waren nicht da, nur Dean Thomas und Seamus Finnigan saßen auf ihren Betten und übten gemeinsam Bewegungen mit dem Zauberstab für Verwandlung. Harry ging so unauffällig wie möglich zu seinem Koffer, zog die Karte des Rumtreibers heraus, flüsterte leise „Hiermit schwöre ich feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin" und suchte nach einem kleinen schwarzen Punkt, der mit dem Namen „Dumbledore" versehen war. Doch er konnte nichts entdecken, so sehr er auch jede Stelle des Pergaments studierte. Stattdessen entdeckte er einen kleinen Punkt, der sich vor dem großen See auf den Ländereien befand und mit einem ihm wenigstens halbwegs bekannten Namen gekennzeichnet war...

Yuri Fudge.

Harry ließ die Karte wieder verschwinden und machte sich auf den Weg zum See.

Yuri saß mit zusammengezogenen Beinen am Seeufer unter der Buche, den Kopf auf ihre gefalteten Hände gestützt. Ihr langes, welliges Haar tanzte in dem leichten Wind, der über die Ländereien von Hogwarts wandelte und den Herbst ankündigte, der kommen würde. Der Himmel war klar und sternenübersäht, kein Schüler war mehr außerhalb des Schlosses.

Harry näherte sich unsicher, wobei er jeden Grashalm einzeln unter seinen Schuhen knacken hören konnte.

„Ähm – alles in Ordnung mit dir?", fragte Harry behutsam.

„Nein", antwortete sie leise.

„Ist es wegen – wegen heute morgen?", fragte er.

Sie nickte und drehte sich zu ihm. Ihre großen, blauen, mandelförmigen Augen waren die traurigsten Augen, aber auch die schönsten, die Harry je gesehen hatte. Sie starrten ihn an.

„Woher kannst du diesen Zauberspruch?", fragte Harry leise. „Yuri Fudge."

Bei seinen letzten Worten schreckte sie zusammen.

„Du- du"

„Ja, ich weiß es", sagte Harry, „aber nicht Hermine hat es mir gesagt. Es war vielmehr ein –ein Gegenstand, der mich darauf gebracht hat."

„Es ist das erste Mal passiert, als ich neun war", flüsterte sie, „ich hatte einen Hund. Ich... ich bin mit ihm in einen Wald gegangen, obwohl ich nicht durfte. Ich war zu schwach, aber ich habe die Freiheit geliebt. Das heißt wohl, heute ist es auch noch so... dann – dann hat uns ein Werwolf angegriffen. Mein Hund wollte mich beschützen, aber der Werwolf biss ihm in den Hals, und ich tötete ihn, bevor ich wusste, was ich tat. Ich weiß noch, wie ich weinend über seiner Leiche zusammengebrochen bin..." –sie wischte sich mit dem Ärmel rasch über die seltsam glänzenden Augen, bevor sie fortfuhr –„Mein Lehrer sagte, es wäre nicht schlimm, weil ich ihn nur hatte beschützen wollen, doch ich schwörte mir, es nie wieder zu tun. Aber heute... ich habe es wieder getan. Ich wollte euch beschützen, aber ich habe dafür getötet."

Harry schluckte. Er fragte sich, wie er sich fühlen würde, wenn er jemanden umgebracht hätte.

„Es war ja nur eine Pflanze", tröstete Harry sie, auch wenn er selbst nicht ganz überzeugt war von seinen Worten; immerhin war es auch ein Lebewesen, „und es ging nicht anders. Wenn mich dieses Ding noch weiter zerdrückt hätte, wäre ich nicht mehr am Leben. Du hast mir mein Leben gerettet. Und, ähm – also, warum sast du niemandem deinen Nachnamen?"

„Bitte, Harry, du darfst es nicht weitersagen", sagte Yuri mit ängstlicher Stimme, „Dumbledore möchte nicht, dass es jemand weiß. Nur Hermine weiß davon, weil sie mich letzten Sommer besucht hat."

„Nein, natürlich nicht", versicherte ihr Harry. „Also Cornelius Fudge?"

„Ja", antwortete Yuri leise, „er hat mich adoptiert. Ich weiß nicht, wer mein wirklicher Vater ist... ich wünschte, ich wüsste es. Meine Mutter hieß Liana Stormfield, ich wurde eingeschlossen in einem Windherz neben ihr gefunden, doch sie war tot. Das einzige, was ich über sie weiß, ist, dass sie nach Hogwarts gegangen ist..."

„Tut mir leid", sagte Harry rasch, der sich wünschte, nicht gefragt zu haben. Sicher wollte Yuri nicht darüber sprechen.

„Ähm – gehen wir ins Schloss zurück?", schlug Harry rasch vor, um das Thema zu wechseln, „du bist bestimmt müde."

„Ja", entgegnete Yuri mit leiser Stimme und stand auf.

Als sie im Gemeinschaftraum angekommen waren ,wünschte Harry ihr eine gute Nacht und wendete sich der Treppe zu, um in den Schlafsaal zu gehen. Doch Yuri hielt ihn am Arm fest.

„Ach, ähm, Harry", sagte sie leise.

„Hm?", fragte Harry und drehte sich um.

„Danke."

„Für was denn?"

„Dafür, dass du mir zugehört hast. Ich bin dir sehr dankbar", sagte sie lächelnd.

„Oh, kein Problem", antwortete Harry überrascht und spürte, wie er rot anlief.

„Tja, dann gute Nacht", sagte Yuri immer noch lächelnd und stieg die Treppe zum Mädchenschlafsaal hoch.

Harry sah ihr verdutzt nach. Sie war also die Tochter von Cornelius Fudge... das hätte er nie erwartet. Er stieg gedankenverloren die Treppe hinauf. Im Schlafsaal lag Ron auf seinem Bett und las das Kapitel über Letifolde, dass ihnen Hagrid als Hausaufgabe aufgegeben hatte.

„Hast du dich wieder mit Hermine vertragen?", fragte Harry, während er seinen Pyjama anzog.

„Öhm – ja", nuschelte Ron und hielt sein Buch ein wenig höher, „sie hat sich wieder beruhigt."

Wohl eher umgekehrt, dachte Harry und legte sich auf sein Bett.

„Hat sie dir das mit Krum übel genommen?", fragte Harry, „ habt ihr den Schlafsaal zusammengeschrien?"

„Ähm, naja", antwortete Ron verlegen, „sie sagte, dass sie ihn nur als Freund betrachtet, nichts weiter und ich keinen Grund habe, sauer auf ihn zu sein. Und ich denke, sie hat schon recht."

„Ach, plötzlich", entgegnete Harry schnippisch.

„Wo warst du eigentlich?", fragte Ron, wie es schien, um vom Thema wegzukommen.

„Ich hätte ja eigentlich Unterricht in Okklumentik haben müssen", sagte Harry, „aber Dumbledore war nicht da. Auf der Karte der Rumtreiber habe ich ihn nicht entdeckt, deshalb bin ich zu Yuri gegangen. Sie war am See."

„Wieso am See?", fragte Ron verdutzt und blickte ihn über den Rand seines Buches an.

„Nun, ich denk mal, sie hat nachgedacht über das, was sie getan hat", sagte Harry und zog die Vorhänge seines Bettes zu. Ron erwiderte nichts, sondern schlug die nächste Seite des Buches auf.

Harry starrte die Decke seines Bettes an, während Ron leise eine selbst kreierte Zusammenfassung des Kapitels leise vor sich hin murmelte.

Harry schloss die Augen und versuchte sich von allen Gefühlen und Gedanken zu lösen.

Doch ständig hatte er das Gesicht von Yuri vor Augen. Er sah sie genau vor sich, wie ihre dunklen Haare im Wind tanzten, und wie ihn ihre großen Augen unverwandt anblickten... unaufhörlich tauchte dieses Bild vor seinen Augen auf, immer wieder wurde er von ihrem Blick gefesselt. Irgendetwas sagte Harry, dass sich noch etwas hinter dieser Tiefe verbarg, etwas, das keiner vermuten würde, etwas, das Hoffnung bedeutete... er musste danach greifen, er musste es verstehen, er musste einfach...

Harry schreckte auf. Er war eingeschlafen.

Er spürte keine Angst oder Zorn, so wie er es im letzten Jahr jeden Morgen getan hatte, wenn Voldemort in seinen Kopf eingedrungen war. Es war vielmehr Neugierde und Erleichterung, die ihn überkam.

Er versuchte wieder einzuschlafen, doch mit einem Mal schien er hellwach zu sein.

Harry zog sich seinen Morgenmantel über und lehnte sich aus einem der Turmfenster, das ihm einen Blick auf den Verbotenen Wald bot. Die Luft war etwas abgekühlt, jedoch noch immer recht warm. Er schloss die Augen und spürte den Duft der blühenden Bäume, die in der Nacht selbst zu schlafen schienen und ließ gedankenverloren seinen Blick über die Ländereien schweifen.

Plötzlich riss ihn der Anblick eines seltsam weißen Geschöpf aus seiner Trance, das am Rand des Verbotenen Waldes kurz zwischen den Bäumen auftauchte und dann wieder verschwand.

Harry hätte schwören können, dass es dasselbe weiße Ding gewesen war, dass er auf seiner Anreise im Hogwarts-Express gesehen hatte, doch das konnte unmöglich sein. Wie hätte das Wesen diesen Weg in so kurzer Zeit zurücklegen können?

Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein, dachte er und legte sich wieder in sein Bett, wahrscheinlich bin ich so wild darauf gewesen, dieses Ding wiederzusehen, dass ich es mir förmlich in den Wald gewünscht habe.

Er schüttelte sich den Kopf und versuchte sich von allen Empfindungen und Gedanken frei zu machen, was ihm dieses Mal gelang.

Am nächsten Morgen hatte Harry nicht die geringste Lust aufzustehen, denn die ersten zwei Stunden hatten sie Zaubertränke. Doch als Ron ihm ein „HARRY ! FRÜÜÜÜÜHSTÜCK!" ins Ohr brüllte, konnte er nicht anders als sich zu waschen und anzuziehen. Griesgrämig schlurfte er Ron hinterher in die Große Halle, der sich bestens gelaunt setzte und ihnen Saft einschenkte.

Doch seine Laune besserte sich etwas, als Yuri ihm zulächelte, die schon neben Hermine am Tisch saß.

„Schlecht geschlafen, Harry?", fragte Hermine stirnrunzelnd.

„Nein, ich hab gut geschlafen", erwiderte Harry, „aber wir haben Zaubertränke. Das verdirbt mir den Morgen."

„Ach, nun komm schon, so schlimm wird es nicht werden", sagte Hermine aufmunternd. „Außerdem habe ich heute das erste DA-Treffen angesagt, das wird dich aufheitern."

Harry nickte nicht ganz überzeugt, während Hermine Yuri auch gleich zu dem Treffen einlud, was sie begeistert annahm.

„Magst du Zaubertränke nicht?", fragte Yuri, als sie sich auf Hermines Liste eintrug.

„Ähm –nein",sagte Harry und klappte sein Toast zu.

„Er mag es nur nicht, weil Snape ihn hasst", flötete Ron, „er brummt ihm bei jeder Gelegenheit eine Strafarbeit auf oder zieht Gryffindor Punkte ab. Er ist der Hauslehrer von Slytherin, verstehst du, und deshalb bevorzugt er sie ständig. Sein Lieblingsschüler ist übrigens dieser Trottel Malfoy. Na ja, mich wundert es nicht."

In den Kerkern war es dunkler und kalter denn je; die Fackeln, die sonst immer mit blassblauem Licht den Weg erleuchteten, schienen nun hellgrüne Flammen zu haben, die weit weniger hell waren als ihre Vorgänger. An der Decke waren überflüssigerweise verrostete Kronleuchter mit fast abgebrannten Kerzen angebracht worden, die allerdings eher dazu da schienen, zu verstauben als zu brennen. Harry fühlte, wie er jeden Schritt widerwilliger machte, je näher er dem Klassenzimmer für Zaubertränke kam.

Als sie angekommen waren, belegten sie vier Plätze in der Mitte des Klassenraumes. Hermine sezte sich neben Yuri, Harry neben Ron.

„Oooh, Yuri", ertönte plötzlich eine hämische Stimme hinter ihnen, „setzt dich zum niederen Volk, was? Jemand wie du hat doch den Platz bei den Reinblütern verdient."

Harry wandte sich um sah in das grinsende Gesicht von Malfoy, hinter ihm dumm wie eh und je aussehend Crabbe und Goyle, die unablässig leise Laute von sich gaben, die sich wie das Grunzen eines Schweines anhörten.

„Ach, Draco, du bist's", sagte Yuri mit gelangweilter Stimme und drehte sich zu Hermine.

„Du lässt dir von einem Schlammblut helfen?", fragte Malfoy weiter und musterte Hermine geringschätzig.

„Ja, sie ist sehr intelligent, weißt du", sagte Yuri laut ohne sich umzudrehen. Hermine versuchte, nicht allzu geschmeichelt auszusehen, aber sie lief leicht rosa an. Harry musste unwillkürlich grinsen.

„Tatsächlich?", sagte Malfoy und tat so, als wäre er überrascht, sagte aber nichts weiter, sondern setzte sich an einen Tisch nicht weit von ihnen entfernt. Crabbe und Goyle lieferten sich einen erbitterten Kampf, wer neben Malfoy sitzen durfte. Sie sahen dabei aus wie zwei wild um sich schlagende Gorillas, die sich um die letzte Mahlzeit zankten.

Harry sah zu Yuri herüber. Sie unterhielt sich mit Hermine, die ihr eingehend das Zaubertränkebuch präsentierte.

„Wieder ein neues Jahr voller Arbeit und Stress", zischte eine kalte Stimme hinter ihnen.

Snape war hereingekommen und stellte sich vor die Klasse, die mit einem Mal verstummt war.

„So, dieses Jahr wird es nicht so einfach wie das letzte", flüsterte er, „es geht um die Aufnahme in meinen UTZ-Kurs, die – bedauerlicherweise – so gut wie niemand erhalten wird."

Dabei sah er Harry hämisch an, der sich schmerzhaft daran erinnerte, dass er wohl oder übel in seinen UTZ-Kurs gehen musste, wenn er ein Auror werden wollte. Aber wenn ihn Snape weiterhin so tyrannisieren würde, wie er es immer getan hatte, sah er nicht die geringste Chance, gut genug für ein O zu sein.

Harry konnte in den Augenwinkeln erkennen, wie Hermines Gesicht einen ehrgeizigen Ausdruck angenommen hatte und sie unruhig auf ihrem Platz hin und her wippte.

Snape verengte ein letztes Mal die Augen und zog eine Namenliste heraus, die er in raschem Tempo vorzulesen begann. Wie immer sprach er den Namen „Potter" bemüht missbillligend aus und warf Harry dabei einen spöttischen Blick zu.

„O'Hara ?", sagte Snape, als er geendet hatte und suchte in der Klasse nach ihr. Als er sie musterte, kratzte er sich am linken Arm und seine Augen weiteten sich. Harry hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, es sei Angst, doch schon hatte Snape seinen Blick von Yuri abgewandt und faltete die Hände.

„Wir fangen mit etwas Schwerem an, um euch nicht auf falsche Gedanken zu bringen", kündigte er hämisch grinsend an, „es wird nicht leicht für euch. Schlagt Seite zehn auf und lest das Kapitel über den Eingeweideumkehrtrank. Ihr habt bis zum Ende des Unterrichts Zeit, um den Trank zu brauen. Am Ende der Stunde bringt ihr eine gefüllte Flasche nach vorne, und wenn es einer vergisst, teste ich an derjenigen Person seinen eigenen Trank aus."

Harry schlug missmutig sein Buch auf und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Auf dem Bild war ein junger Zauberer abgebildet, dem die Leber aus dem Knie rag. Statt Haaren befanden sich auf seinem Kopf Gedärme, und an den Fingerspitzen hingen bluttriefende Sehnen herunter.

Ron würgte leise und blätterte die Seite um. Auch Harry schüttelte sich und wandte sich schleunigst dem Text zu. Der Zaubertrank war sehr kompliziert, die Zutaten musste man äußerst konzentriert zubereiten.

Als Harry gerade dabei war, sein Einhornhorn zu mahlen, schaute er kurz auf, da Yuri aufgestanden war. Sie ging zielstrebig auf Snape zu und stellte ihm eine gefüllte Flasche auf das Pult.

„Hast du aufgegeben?", fragte Snape und starrte sie an. Ausnahmsweise klang er nicht hämisch, sondern leicht überrascht. Harry hatte noch nie erlebt, dass er einen Gryffindor so ansprach.

„Nein, ich bin fertig", antwortete Yuri bestimmt uns setzte sich wieder auf ihren Platz.

Auch Hermine hatte aufgeschaut und starrte sie halb beeindruckt, halb verwundert an, denn sogar sie war noch nicht ganz fertig mit ihrem Trank. In ihrem Kessel brodelte noch die gelbgrüne Flüssigkeit und stieß ab und zu ein paar Dämpfe in die Luft, die nach Fischinnereien rochen.

So sollte es eigentlich sein, doch Rons Gebräu hatte eine purpurrote Farbe angenommen, die hin und wieder ein paar Wellen erzeugte, sodass der Trank einige Male beinahe übergeschwappt wäre.

„Sie sind nicht bei der Sache, Weasley", bemerkte Snape höhnisch hinter ihnen. Harry hatte nicht bemerkt, dass er zu ihnen herüber gekommen war, drehte sich jedoch nicht um, sondern arbeitete bemüht ruhig weiter, auch wenn er Zorn in sich aufkommen spürte.

„Sie sind ja nie wirklich anwesend, machen geschweige denn etwas richtig", fügte Snape hinzu, „aber heute ist es ja nicht mehr mit anzusehen, Weasley. Die Drachenleber hätten Sie in die andere Richtung einschneiden müssen, und die Adlerfedern muss man in zwei Hälften geteilt hinzugeben. Haben Sie das Kapitel etwa nicht gelesen?"

„Doch", antwortete Ron wahrheitsgetreu.

„Und warum ist ihr Trank dann der schlechteste aus der ganzen Klasse?", zischte Snape giftig zurück. „Selbst Longbottom ist heute besser als Sie. Dafür ziehe ich Gryffindor zehn Punkte ab. Und jetzt fangen Sie nocheinmal von vorne an", herrschte er ihn an und glitt weiter durch die Reihen.

Harry erwartete eine abfällige, wenn auch leise Bemerkung oder wenigstens einen verbitterten Blick von Ron, doch es schien ihn überhaupt nicht zu stören, dass Gryffindor soeben zehn Punkte abgezogen worden waren. Ohne einen Ton von sich zugeben, begann er von vorne und holte ein neues Drachenherz hervor.