Das Wort des Zentauren
Nachdem die Sonne noch einige Tage über Hogwarts gestrahlt hatte, färbten sich nun die Blätter der Bäume, es wurde kühler und der Himmel dunkler. Im Tagespropheten war bisher nichts Aufsehenerregendes Neues über Voldemort geschrieben worden, und Harry hatte das Gefühl, er könnte in jedem Moment mit einem Mal vor seiner Nase auftauchen, doch nichts geschah. Manchmal kam es Harry fast ein wenig zu friedlich um ihn herum vor.
Noch immer hatte er keine Okklumentikstunde bei Dumbledore gehabt, und langsam fragte er sich, ob er ihn vergessen haben könnte und jemals eine Stunde bei ihm haben würde.
Professor Sprout war gestern aus dem Krankenflügel entlassen worden. Zwar sah sie wieder so munter aus wie immer, doch sie schreckte des öfteren vor längeren Gegegständen zurück, wie zum Beispiel Besenstielen oder Ästen.
Yuri hatte sich inzwischen gut eingewöhnt und fand selbst den Weg zu allen Klassenräumen.
Auch war sie neben Hermine in fast allen Fächern die beste und half Hagrid oft bei seinen Arbeiten mit den Tieren. Harry wusste, dass es Hermine weh tat, dass jemand so intelligent war sie, doch sie versuchte so gut wie möglich, es zu verbergen.
In einer Woche würde die Auswahl der neuen Quidditchmannschaft stattfinden, und Harry, der sich nun um die Aufgaben des Kapitäns kümmern musste, hatte es schwer, zwischen den Unmengen von Hausaufgaben noch Zeit für Quidditch zu finden. Oft saß er noch bis spät in die Nacht im Gemeinschaftsraum und arbeitete ein paar Spielstrategien aus, die er mit der neuen Mannschaft ausprobieren wollte. Ron blieb der Hüter, und Ginny wollte sich als Jäger versuchen. Was ihn allerdings sehr verwunderte war, dass sich die Creevey-Brüder als Treiber bewarben. In seiner Liste, die er am schwarzen Brett aufgehängt hatte, hatten sich die beiden sogar doppelt und mit roter Tinte eingetragen. Als der Tag der Auswahl gekommen war, liefen die beiden schon beim Frühstück in selbst zusammengeflickten Quidditchumhängen herum und winkten Harry begeistert zu.
„Die haben doch einen im Tee, oder?", meinte Ron und stopfte sich Cornflakes in den Mund.
„Du hast sie doch noch nie spielen gesehen, Ron", tadelte ihn Hermine vorwurfsvoll.
„Nein, hab ich nicht", stimmte Ron zu, „aber die sind so dumm, die können noch nicht mal den Quaffel vom Klatscher unterscheiden. Bewirbst du dich, Hermine?"
„Sehr witzig", entgegnete Hermine bissig. „Kannst du eigentlich Quidditch spielen, Yuri?"
„Ach, ich weiß nicht recht", sagte Yuri nüchtern, „ich musste ja die ganze Zeit in unserem Haus bleiben" –sie zog eine Grimasse - „aber ab und zu durfte ich schon spielen. Das habe ich immer geliebt, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, während dem ich vom Besen gefallen bin, wenn ich mal wieder einen Anfall oder sowas hatte."
„Probier es doch einfach mal", bemerkte Ron, während er sich seine Schüssel wieder auffüllte.
„Was? Ich?", fragte Yuri perplex. „Damit ich nochmal vom Besen stürze? Ich weiß nicht, wie oft meine Knochen das noch vertragen."
„Du kannst es doch wirklich mal versuchen", ermunterte sie Hermine, „du schaffst das sicher! Ich komme auch mit, und falls du wieder etwas hast, helfe ich dir."
„Na gut, wenn du meinst", antwortete Yuri, klang jedoch ein wenig eingeschüchtert, „einen Versuch ist es vielleicht wert."
Der Nachmittag kam schneller, als Harry angenommen hatte. Zusammen mit Ron, der ihm bei der Auswahl helfen wollte, ging er aufs Spielfeld, wo schon eine Menge Schüler warteten. Das Wetter war genau richtig zum Quidditch spielen. Es war nicht zu heiß, aber auch nicht zu kalt, und der Wind war nicht allzu stark, sodass man mit Leichtigkeit fliegen konnte.
Auf der langen Bank, wo alle Bewerber Platz genommen hatten, sah er Hermine und Yuri sitzen, die ihm zuwinkten. Als die übrigen registrierten, dass Harry angekommen war, trat Stille ein.
„Ähm -herzlich willkommen zur diesjährigen Quidditchauswahl", eröffnete ihnen Harry verlegen und zog sein Klemmbrett hervor, auf dem er alle Bewerber aufgelistet hatte, „als erstes kommen die Treiber an die Reihe."
Die Creeveybrüder sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und schwangen sich auf ihre Besen, die schon über dem Spielfeld schwebten.
„Wir machen den Anfang, Harry!", riefen sie im Chor und stiegen in die Lüfte.
Harry sah Ron an.
„Na, in die Luft gehen können sie schon mal", gab Ron zu, „das einzige, was jetzt noch fehlt, sind die Klatscher. Mal sehen, wie sie damit klarkommen."
Ron ging auf die große Kiste mit den vier Spielbällen zu, befreite die Klatscher und ging zu Harry in Deckung. Die beiden Bälle rasten mit üblicher Geschwindigkeit auf die beiden Flieger zu. Dennis und Colin rasten zuerst auf den gleichen Ball zu, dann trennten sie sich jedoch und schlugen die Bälle mit all ihrer Kraft zur Seite. Anscheinend hatten sie eine Art Technik ausgearbeitet, denn immer wieder flogen sie in bestimmten Abständen voneinander durch das Spielfeld. Dabei flogen sie elipsenförmige Bahnen, die sich durch das Spielfeld zu ziehen schienen. Nach ein paar Minuten pfiff Harry die beiden wieder runter.
Im Inneren musste er sich gestehen, dass die beiden besser gespielt hatten, als er es sich ausgemalt hatte.
Auch nach den nächsten vier Bewerbern waren immer noch die Creeveybrüder die besten gewesen. Zwar waren sie nicht so gut wie die Weasleyzwillinge, doch wenn sie noch trainieren würden, war sich Harry sicher, dass sie ein Gewinn für die Mannschaft sein würden.
Danach folgten die Jäger. Zuerst flog Ginny auf Rons Sauberwisch. Sie machte ihre Sache gut, und auch Ron streckte den Daumen nach oben, als sie grinsend vom Besen stieg.
„Das war klasse, Ginny", sagte Harry anerkennend, als sie an ihnen vorüberschritt.
Nach einigem Drängen Hermines bestieg nun Yuri ihren Besen. Es war der neue Nimbus zweitausendzwei, wie Ron ihm fachmännisch mitteilte („Er kommt an den Feuerblitz nicht ran, klar, aber sieh dir mal diese Geschwindigkeit und Wendigkeit an, die ist ganz neu entwickelt worden", hauchte Ron).
Nun beobachtete Harry gespannt Yuri, die in die Lüfte stieg.
„Nicht schlecht", flüsterte Ron und verfolgte mit seinen Augen Yuri, die nun schon einige Meter über dem Boden flog. Lautlos und elegant raste sie über das Spielfeld und warf fast jeden Ball durch die Ringe, die ihr Ginny zuwarf. Zwar hatte sie ein paar Probleme mit Sturzflügen, doch abgesehen davon war sie eine zweifellos gute Fliegerin.
„Sie war wirklich gut, oder?", sagte Ron, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.
„Schon", nuschelte Harry und beugte sich über sein Klemmbrett. Nun bleiben nur noch Johnson, Britney und Strike, Henry übrig.
Britney Johnson, Angelinas kleine Schwester, flog recht gut, obwohl sie eine Schwierigkeiten damit hatte, den Quaffel durch die Torringe zu bekommen –meist traf sie ein paar Zentimeter daneben. Mit einem immer mehr verbissen aussehenden Gesicht machte sie ungefähr zwanzig Versuche, ein Tor zu schießen, was ihr aber nur sieben Mal gelang. Die roten Bälle häuften sich schon um die Torstangen herum und rollten vom Spiefeld; Colin und Dennis sammelten sie mit größter Begeisterung wieder ein.
Henry Strike flog einen ziemlich morschen Shootingstar, der ab und zu nicht so flog, wie er es wollte um ihn zu ärgern. Das führte einige Male dazu, dass er die Ringe nicht genau traf, sodass die Quaffel in hohem Bogen wieder auf ihn zurückprallten und sogar einmal das Ende seines Besens trafen, das daraufhin mit einem hässlichen Geräusch zersplitterte („Ruhe in Frieden, alter Freund", flüsterte Ron bedächtig). Als er landete, schmetterte er seinen Besen mit voller Wucht auf den Boden und schrie ihn an.
„Also, ehrlich gesagt, mich wundert es nicht, dass das Ding dem Tod geweiht ist", meinte Ron kopfschüttelnd. „Bei der Behandlung... Da gehe ich ja sogar besser mit Pig um."
Am Abend setzten er, Ron und Hermine sich zusammen und suchten die Spieler für die Mannschaft aus. Hermine strickte dabei noch ein paar Hüte und hielt Ausschau nach Dingen, die als Müll durchgehen könnten. Krummbein hatte sich neben ihren Füßen eingerollt und döste.
„Zuerst mal die Treiber", meinte Ron und studierte Harrys Aufzeichnungen. „Ich glaube, das wären dann die Creevey-Brüder, sie haben am besten abgeschnitten. Ein bisschen Training brauchen sie zwar, aber das wird schon, denk ich mal."
„Einverstanden", stimmte Harry zu und trug sie auf die Liste der Ausgewählten ein, die er wieder am schwarzen Brett im Gryffindorturm aufhängen wollte.
„Jäger?", fragte Ron weiter.
„Ginny und Yuri auf jeden Fall", sagte Hermine und riss Ron die Notizen aus den Händen.
„Das sind aber nur zwei, man braucht drei Jäger", sagte Ron schneidend und sah Hermine mürrisch an.
„Entweder Johnson oder Strike", sagte Harry und tauchte seine Feder erneut ein.
„Etwa diesen Typen, der seinen Besen verkloppt ?", fragte Ron ungläubig. „Dann Johnson."
„Sie hat wirklich besser gespielt", fügte Hermine hinzu, „außerdem hat sie Ehrgeiz bewiesen, und das ist doch sehr wichtig, besonders im Sport, oder? Ach, und meint ihr, Steine gelten als Müll?"
„Na gut", entgegnete Harry und trug auch sie ein. „Und nein, Hermine, Steine gelten nicht als Müll, da bin ich mir ziemlich sicher."
Hermine seuftze und zerknüllte ein Blatt Pergament, dass sie halbherzig auf einen ihrer Mützen legte.
„Yuri kann einfach alles", grummelte sie.
„Meinst du im Unterricht?", fragte Harry. Er wusste, dass sie sich schlecht fühlte, weil sie plötzlich den Platz der besten Schülerin mit jemandem teilen musste.
„Nicht nur im Unterricht", stieß sie hervor, „auch im Quidditch."
„Aber bestimmt kann sie etwas nicht, was du kannst", munterte Ron sie auf.
„Und was soll das sein?", entgegnete sie mit hoch gezogenen Augenbrauen.
„Na ja, zum Beispiel...", setzte Ron an, „also... vielleicht kann sie ja nicht jeden Zauber so schnell lernen wie du, und vielleicht ist sie auch nicht so mutig wie du."
„Ich weiß nicht", sagte Hermine, sah aber sichtlich geschmeichelt aus.
Plötzlich hörten sie, wie das Portrait aufschwang, und Yuri hineinkam, mit einem großen Kratzer an der linken Hand versehen.
„Was ist passiert?", fragte Hermine in nur halbwegs besorgtem Ton und warf einen flüchtigen Blick auf die Wunde.
„Ich war gerade bei Hagrid", sagte sie und zog ihren Umhang aus, „weil ich seinen Bruder kennenlernen wollte."
„Grawp?", würgte Hermine hervor und wurde ein wenig bleich. „Hat er dich angegriffen?"
„Er ist ein bisschen wild, aber ich habe Hagrid versprochen, mich ab und zu um ihn zu kümmern", eröffnete sie ihnen und ließ ihre Wunde, von der sie offenbar erst jetzt Notiz genommen hatte, mit einem Schlenker ihres Zauberstabs verschwinden, „wenn ich öfters zu ihm gehe, gewöhnt er sich bestimmt an mich."
„Ein bisschen wild?", wiederholte Hermine tonlos und starrte sie an.
„Es ist doch so nett von Hagrid, dass er ihn beschützt hat", setzte Yuri hinzu.
„Nun, er –also, nun ja, er hat eben eine Schwäche für Monster", sagte Hermine, und klang dabei fast so, als würde sie sich Sorgen um Yuris Verstand machen, „aber Grawp ist gefährlich, sei vorsichtig. Außerdem können es nur Zauberer mit sehr viel Erfahrung schaffen, einen Riesen zu zähmen. Ich habe viel darüber gelesen, das ist nicht einfach, glaub mir."
„Ich habe ja meinen Zauberstab dabei", entgegnete Yuri, „keine Sorge, ich schaffe das
schon!"
„Hoffentlich", murmelte Hermine mürrisch und begann, mit dem Stricken fortzufahren. Inzwischen hatte ihr Zauberstab die Mütze zu einer übergroßen Socke werden lassen, dessen Maschen sie nun wieder auflöste.
Ron warf Hermine einen ratlosen Blick zu und wandte sich dann an Yuri.
„Ach, übrigens, herzlich willkommen in der Quidditch-Mannschaft", bemerkte er und schüttelte Yuri feierlich die Hand.
„Oh, danke", sagte sie strahlend. „Wer ist denn noch dabei?"
„Ginny, Colin, Dennis und Britney", las Harry vor.
„Ich freue mich schon auf die Trainingsstunden", schwärmte Yuri mit leuchtenden Augen und warf einen ehrfürchtigen Blick auf das Quidditchfeld, das man vom Turm aus sehen konnte.
„Gehen wir schlafen?", fragte Hermine bemüht freundlich und zog Yuri vom Fenster weg.
„Ähm –okay", sagte Yuri veriwrrt und warf Harry noch einen letzten Blick zu, bevor sie im hinter der Tür zum Mädchenschlafsaal verschwand.
„Kein Wunder, dass sie sich freut", murmelte Ron grinsend und sah Harry von der Seite an.
„Red keinen Unsinn", erwiderte Harry und mied entschieden seinen Blick.
Als Harry am nächsten Morgen zum schwarzen Brett ging, um den Zettel aufzuhängen, standen die Colin und Dennis bereits mit müden, aber weit aufgerissenen Augen da und rannten auf ihn zu, sobald sie ihn erblickten.
„Sind wir dabei, Harry?", riefen sie wie aus einem Munde aufs Äußerste gespannt.
„Ähm, ja", antwortete Harry und hielt ihnen die Liste vor die Nasen, „ihr habt es geschafft."
Die Reaktionen der beiden waren für ihn nicht unerwartet.
Dennis fing an zu weinen, strahlte dabei über das ganze Gesicht und schnäuzte sich die Nase in seinem stark mitgenommen aussehenden Umhang. Colin dagegen hüpfte von einem Bein aufs andere, sang dabei die Schulhymne und stieß bei einem seiner Luftsprünge eine Ritterüstung um, die Harry gerade noch abstützen konnte, auch wenn der rostige Helm klirrend auf den Boden fiel und eine unübersehbare Delle bekam.
Während er versuchte, Dennis zu beruhigen, der nicht mehr aufhören konnte zu weinen und Schluckauf bekam, kam Professor Flitwick an ihnen vorbei, der auf der Suche nach einem geeigneten Kupferkessel war, wie er ihm heiter erklärte, und begutachtete interessiert den springenden Colin, welcher ihn nicht bemerkt hatte („Waaaaarzenschweiiiiiiiniges Hoooohogwaaarts!", brüllte er und stieß mit der Faust in die Luft.)
„Kommen Sie zurecht, Mr. Potter?", piepste er und verfolgte immer noch Colin, der mit geschlossenen Augen den Platz um den Kamin hüpfend umrundete.
„Eigentlich wollte ich bloß diese Liste hier aufhängen, Professor", antwortete Harry und zeigte sie him.
„Ah, die neue Mannschaft!", flötete er. „Äußerst lobenswert, wie Sie ihr Amt bewältigen, Mr. Potter, wirklich lobenswert. Aber ich denke, ein bisschen Hilfe kann selbst ein Mannschaftskapitän ab und zu gebrauchen, nicht wahr?", fügte er hinzu, ließ Colin mit einem Zauberspruch stillstehen und brachte Dennis zum Schweigen.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, hatte Harry wenig Zeit, um zu frühstücken, denn sie hatten in den ersten beiden Stunden Pflege magischer Geschöpfe.
Hagrid erwartete sie bereits vor seiner Hütte.
„Morgen", begrüßte er sie gut gelaunt und schulterte einen vollgestopften Sack „wir machen heute 'nen kleinen Ausflug in den Verbotenen Wald, hoffe, die Zentauren sin' nich allzu schlecht gelaunt. Haltet eure Zauberstäbe aber bereit."
Harry sah in den Augenwinkeln, wie sich Malfoy rasch hinter Crabe und Goyle stellte, seinen Zauberstab so weit wie möglich von sich hielt und sich hektisch in alle Richtungen drehte.
„Keine Sorge, 's is nicht weit", sagte Hagrid und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, „brauchte bloß 'ne Weide. Also los jetzt."
Harry, Ron, Hermine und Yuri folgten Hagrid, der sie mit einer Laterne durch den dunklen Wald führte. Harry bemerkte, wie Yuri die trostlosen, kalten Bäume traurig anstarrte und in den Tiefen des Waldes nach etwas zu suchen schien. Wahrscheinlich suchte sie nach Anzeichen von Grawp, dachte er sich. Ihre Augen leuchteten seltsam in der Dunkelheit, die zwischen den Bäumen herrschte. Glücklicherweise begegnete ihnen kein Zentaur auf dem Weg.
Nach kurzer Zeit kam ein stabil wirkender Holzzaun in Sicht. Harry sah etwas Goldenes aufblitzen, das jedoch genauso schnell wieder verschwand. Plötzlich blieb Hagrid stehen, legte einen Finger an den Mund und löschte seine Lampe.
„Leise", flüsterte er heiser, „auf der Weide hab ich zwei Re'ems. Unheimlich wild un' drehen schnell bei lauten Geräuschen durch. Also, seid so leise wie möglich, verstanden? Ich bin mir nich' sicher, ob der Zaun sie aushält. Weiß jemand, was Re'ems sind? Hermine?"
„Der Re'em ist ein äußerst seltener Riesenochse mit goldenen Hufen. Sie kommen in der Wildnis Amerikas und im Fernen Osten vor. Das Blut des Re'em verleiht dem, der es trinkt, enorme Kraft, doch es ist sehr schwer zu beschaffen," flüsterte Hermine deutlich.
„Fünfzehn Punkte für Gryffindor", sagte Hagrid leise. „Wir geh'n jetzt 'n bisschen näher ran, aber haltet Abstand. Achtet besonders auf die goldenen Hufen, sie sin' n begehrtes Mittel für Zaubertränke, aber man kommt fast nie dran. Und bloß kein lautes Geräusch."
Vorsichtig schlich sich Hagrid an. Zuerst wollte ihm niemand so recht folgen, doch Harry, Ron, Hermine und Yuri folgten ihm tapfer. Hinter einem knorrigen Baum blieb Hagrid stehen.
„Da, seht ihr's?", hauchte er, und wieder war eine Art Begeisterung in seiner Stimme zu vernehmen, so wie immer, wenn er ein gefährliches Tier erblickte.
Doch auch Harry konnte nicht leugnen, dass die Re'ems nicht so hässlich waren, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Augen, so konnte man erkennen, waren beigefarben und hatten einen warmen Ausdruck, wenngleich die spitzen, unförmigen Hörner diesen Eindruck als eine Täuschung erschienen ließen. Die goldenen Hufe blitzten ab und zu auf, was ein paar Schüler heranlockte. Die Re'ems hatten jeweils zwei dicke, kurze Schwänze, an denen flauschige Fellbüschel hingen. Langsam und gemächlich schritten sie auf dem Feld umher und nahmen keine Notiz von ihnen.
„Die beiden hier sin' Weibchen", erklärte ihnen Hagrd leise, „die Männchen haben drei Schwänze und sind größer, deshalb kann man sie leicht unterscheiden. Vielleicht kommen sie 'n bisschen näher,wenn wir sie mit Futter anlocken. Hier, Yuri, willst du ihnen diese toten Ratten zuwerfen? Die steh'n auf Rattenfleisch."
Yuri nahm die fünf fetten, toten Ratten in die Arme und ließ sie mit ihrem Zauberstab langsam unter dem Zaun hindurch in das Feld gleiten.
Tatsächlich schritten die beiden Tiere langsam auf die Ratten zu und begannen sie langsam zu essen.
„Los, skizziert sie!", befahl Hagrid aufgeregt. „So nah bekommt man sie fast nie zu sehen!"
Hastig zogen die Schüler Pergament und Kohle heraus und fingen an, die beiden Re'ems abzumalen. Ron unterließ es, die toten Ratten mit in seine Skizze aufzunehmen, und zeichnete stattdessen ein paar Bäume in den Hintergrund, um sein Bild nicht allzu leer erscheinen zu lassen. Harry versuchte, ihre treuen Augen zur Geltung zu bringen, was ihm allerdings nicht so ganz gelang, wie er es sich vorgenommen hatte. Als er aufsah, um sich die Form der Beine anzusehen, sah er, wie Hermine bereits mit ihrer Skizze fertig war und zusammen mit Yuri weitere Ratten zu den Re'ems schweben ließ, die sie gierig verschlangen. Hagrid stand atemlos dabei und leerte seinen Sack vollständig, in denen er die toten Ratten aufbewahrt hatte.
„Sie scheinen bei Mädchen zutraulicher zu sein", mutmaßte er atemlos, „oder vielleicht bei kleinen Menschen? Bei mir kamen sie jedenfalls nich. Die eine Ratte kannst du 'n bisschen näher runterlassen – ja, so isses gut."
Nachdem jeder eine mehr oder weniger ansehnliche Skizze der Re'ems gefertigt hatte, zündete Hagrid seine Laterne wieder an und schritt voraus.
„'S ist Zeit", sagte er halblaut.
Der Rückweg kam Harry länger vor als der Hinweg. Der Wald schien an Dunkelheit gewonnen zu haben, er konnte kaum den Boden erkennen.
Als sie gerade eine Lichtung überquerten, blieb Hagrid so ruckartig stehen, sodass Hermine an seinen massigen Arm prallte.
„Wer ist da?", rief er misstrauisch und holte aus den Tiefen seines Umhangs eine kleine Armbrust heraus.
Harry wandte sich um –er hatte ein Knacken gehört. Da sah er, wie plötzlich ein fahles Gesicht aus dem Schatten der Bäume hervorkam und sie anstarrte. Immer weiter wagte sich das Wesen in das fahle Licht. Harry brauchte nicht lange um zu erkennen, dass es Bane war. Er sah sehr mitgenommen aus, und sein Gesicht wies einige Wunden auf.
Seine Augen verengten sich, als er Hagrid erblickte.
„Heute allein, Bane?", fragte Hagrid kühl und ließ die Armbrust ein Stück sinken.
„Du sprichst mit unwürdigem Munde am Platz anderer", antwortete Bane kalt. „Verschwinde."
Harry sah, wie Malfoy bleich wurde und versuchte, sich hinter Crabbe zu verstecken, der den Mund nicht mehr zu bekam. Hermine klammerte sich an Harrys Arm und hielt, wie es schien, die Luft an. Harry und sie hatten im letzten Jahr genug Erfahrungen mit Zentauren gesammelt um zu wissen, dass man ihnen besser nicht in die Quere kam.
„Das is' nicht dein Wald", brummte Hagrid, „begreif es endlich. Ich hab genauso das Recht oder Unrecht hier zu sein wie du auch. Aber heute bist du zu schwach, um dich diesen Worten zu widersetzten, was?"
„Nicht nur bei euch herrscht Zwietracht, Menschenwesen", sagte Bane zornig, „aber ihr seid viel zu dumm, um zu begreifen, dass in den Sternen mehr als anderswo geschrieben steht, nur die Zentauren haben Teil am Wissen des Universums. Ihr könnt nicht über Schicksal und Zufall entscheiden, ihr könnt es nicht einmal wahrnehmen. Ihr Menschen denkt, überall bestimmen zu können..."
Er reckte den Kopf und atmete tief ein. Dann musterte er scharf die einzelnen Schüler, sah sie eindringlich an und schritt zu Yuri herüber.
„Du", sagte er leise, „versuche nicht, den Wald mit Licht zu erfüllen, sein Licht ist in den Händen der Sterne. Der Wald ist ein ewiger Spiegel, in den wir sehen. Und merke dir, dass wir immer die Wahrheit sehen wollen, was es auch kosten mag."
Bane schnaubte, warf Hagrid einen letzten, niederträchtigen Blick zu und galloppierte hochmütig von dannen.
„Fürchterlich", murmelte Hagrid verdrießlich, steckte die Armbrust wieder in seinen Umhang zurück und schritt weiter. Während des ganzen Wegs diskutierten die Schüler aufgeregt über die Geschehnisse, die sich soeben ereignet hatten. Malfoy, Pansy Parkinson und Crabbe waren der festen Überzeugung, dass Hagrid die Zentauren beleidigt hatte und die Herde einen Angriff planten, dessen Ankündigung hinter Banes geheimnisvollen Worten gesteckt haben sollte.
Harry, Ron und Hermine sagten jedoch nichts, sondern starrten Yuri an, die etwas benommen neben ihnen hertrottete.
„Was hat er damit gemeint?", fragte Hermine schließlich, „Kennst du die Zentauren schon?"
„Nein", antwortet Yuri leise, „ich wusste nicht, dass sie im Wald leben."
„Was glaubst du, was er gemeint hat?", drängte Hermine.
„Ich weiß es noch nicht."
Am Abend hatten sie noch so viel Hausaufgaben zu erledigen, sodass sich Harry, Ron, Hermine und Yuri an einen Tisch im Gryffindorgemeinschaftsraum setzten und noch um zehn Uhr an den Hausaufgaben zu schaffen hatten. Hagrid hatte ihnen aufgegeben, einen Aufsatz über Re'ems zu schreiben, und dabei ja nicht die Skizzen zu vergessen. Hin und wieder hexte Yuri eine Etagère voll von köstlichen Pralinen, die ihnen die Arbeit versüßten, und Hermine versorgte sie mit einer Kanne Früchtetee, die sich von allein auffüllte.
„So läfft ef schich auschhalten", schmatzte Ron, als er seine Skizze studierte.
„Sei leise, Ron", zischte Hermine und kritzelte den letzten Satz auf das Pergament. Danach holte sie ihr Arithmantikbuch hervor und begann darin zu lesen.
Yuri starrte trübsinnig auf ihren beendeten Aufsatz.
„Was ist denn?", fragte Ron verdutzt. „Dein Aufsatz ist doch länger als vorgegeben!"
Hermine gab ihm mit ihrem Ellebogen einen kräftigen Stoß in die Rippen und brachte ihn damit zum Schweigen.
„Das ist es nicht", sagte Yuri leise, nahm ihr Kräuterkundebuch in die Hand, setzte sich auf einen der Sessel und schlug es auf.
„Was denn?", fauchte Ron Hermine an.
Hermine antwortete nicht, sondern vergrub ihr Gesicht wieder hinter dem Buch. Ron starrte den in Goldlettern angebrachten Titel „Wesen der Numerologie" missmutig an.
Nach und nach gingen auch die letzten Gryffindors in die Schlafsäle hoch. Hermine ging kurze Zeit später auch die Treppe zum Mädchenschlafsaal hinauf, allerdings ohne Ron eine gute Nacht zu wünschen.
Als Harry um Mitternacht fertig mit all seinen Hausaufgaben war, wollte er Ron gerade die Treppe hinauf folgen, als ihm einfiel, dass Yuri ja noch im Gemeinschaftsraum war. Er lief zurück zu den Sesseln am Kamin und bemerkte, dass sie eingeschlafen war.
Mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck war sie tief und fest eingeschlafen. Ihr Kopf lag auf einer der Lehnen. Plötzlich fing sie an, etwas Unverständliches zu murmeln.
„Nein, nein", stöhnte sie leise, „ich werde dich beschützen..."
Ihre Stimme klang sehr fern und verloren. Harry starrte sie an.
„Was? Was willst du beschützen?", fragte er leise.
Unruhig drehte sie ihren Kopf hin und her und atmete schwer.
„Lauf, LAUF!", murmelte sie verzweifelt.
Zuerst verspürte Harry den Drang, weiter zuzuhören, doch als Ron ihn ungeduldig rief, entschied er sich doch anders und ging in den Schlafsaal.
Ron schlief schnell ein, was er an seinem lauten Schnarchen erkannte. Doch Harry fühlte sich hellwach, er drehte sich von einer zur anderen Seite und versuchte einzuschlafen, aber immer wieder weckte ihn der Gedanke an Yuris Worte.
Was sie wohl beschützen wollte? Vielleicht war es auch nur ein Traum von ihr gewesen, aber für ihn hatte es so wirklich geklungen... außerdem war er auch überzeugt davon, dass Yuri ihnen etwas über die Zentauren verschwieg. Denn als Bane sie eindringlich angesehen hatte, war sie kreidebleich geworden und hatte die Augen aufgerissen –so wie jemand, dem etwas schlagartig bewusst wurde. Etwas, was man gefürchtet hat... er musste es wissen.
Harry beschloss, noch einmal in den Gemeinschaftsraum zu gehen und nachzusehen, ob Yuri noch dort schlief. Allerdings zog er sich vorher den alten Tarnumhangs seines Vaters um.
Er war sich nicht gerade sicher,ob er Hauspunkte für Gryffindor bekommen würde, wenn ihn ein Lehrer um diese Uhrzeit an einem anderen Ort als in seinem Bett sehen würde. So leise wie möglich öffnete er die Tür des Schlafsaals, schlich die Treppe hinunter und zu den Sesseln vor dem nun erloschenen Kamin.
Yuri lag nicht mehr dort.
Und Harry war sich ziemlich sicher, dass sie nicht in ihrem Bett lag und schlief.
