Die Marmorhalle
Mit einem Mal war Harry von einer ungeheuren Neugierde und zugleich Besorgnis gepackt. Lautlos kletterte er durch das Portraitloch, ohne sich umzudrehen. Zwar hatte er den Tarnumhang an, doch er hatte Angst, an einen Lehrer zu stoßen, der in den Gängen umherging, was des öfteren vorkommen konnte. Prüfend schaute er sich um. Niemand war zu sehen. Mit raschen Schritten stieg er die Treppen hinunter, die ihm seltsam lang vorkamen. Als er schon im zweiten Stock war, fiel ihm ein, besser die Karte des Rumtreibers mitgenommen zu haben, dann brauchte er erst gar nicht nach Yuri zu suchen und konnte Filch ausweichen. Doch nun war er schon viel zu nah am Ausgang, anstatt noch einmal zurückkehren zu wollen. Einmal würde es auch ohne die Karte gehen...
Als er im ersten Stock vorbei an einer Statue von Ulrich dem komsichen Kauz schlich, hörte er plötzlich zwei Stimmen aus dem Verwandlungsklassenzimmer, die sich leise, aber höchst angeregt unterhielten. Harry wäre weitergegangen, um Yuri zu suchen, doch als er erkannte, dass es Professor McGonagall und Dumbledore waren, die so leise miteinander redeten, sodass man mit Leichtigkeit erkennen konnte, dass es niemand anderes hören sollte, blieb er stehen und horchte.
„Er wird sauer sein", zischte Professor McGonagall.
„Es bleibt mir keine andere Möglichkeit", sagte Dumbledre ruhig, „ein Leben ist mehr wert."
„Natürlich", entgegnte sie rasch, „aber er muss doch ein ganz normales Leben führen können, so wie jeder andere Mensch in seinem Alter."
„Sie sind an dem Punkt angelangt, an dem ich mich immer entscheiden muss", sagte er leise, „und leider ist die andere Seite nicht begehbar. Nur durch Unwissen wird sie frei."
„Halten Sie Potter für unvorsichtig ?", fragte Professor McGonagall scharf.
Harry stockte der Atem. Sie redeten also über ihn - er wünschte, es wäre nicht so. Immer wieder wurde etwas über ihn beschlossen, immer wieder gab es Geheimnisse über ihn, die ihm niemand sagte. Schon oft war er wütend darüber gewesen, und auch jetzt spürte er einen zornigen Stich.
„Ich halte ihn nicht für unvorsichtig", antwortete Dumbledore, „vor seinem Mut, seiner Tapferkeit und seinem Ehrgeiz habe ich Respekt. Aber ich weiß auch, dass er neugierig und schlau ist. Das war nicht immer gut, aber immer richtig."
„Ja, das ist er", stimmte Professor McGonagall zu. „Sie würden es also als einen Schutz bezeichnen ?"
„Wüsste ich etwas anderes, so würde ich es tun, Professor", sagte er.
„Dumbledore, glauben Sie - ", begann sie zagaft. Es schien, als wüsste sie nicht recht, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen könnte. „Denken Sie, dass das Glück nicht beständig für jemanden sein kann ?"
Dumbledore antwortete nicht sofort.
„Er hat kein Glück", sagte er dann nachdenklich, „sein Leben ist bisher ein ewiges Entkommen vor dem Tod gewesen. Keiner wäre gern an seiner Stelle. Die Last ist viel zu schwer... ich habe mich immer gewundert, weshalb Harry sie tragen kann."
„Ja, Sie haben recht", stimmte Professor McGonagall zu, wieder mit ihrer üblichen strengen Stimme. „Nun denn, wir werden sehen. Gute Nacht, Dumbledore."
„Gute Nacht", antwortete Dumbledore höflich.
Harry war noch so benommen von den Worten, die er zuvor gehört hatte, sodass er kaum wahrnahm, wie eine getigerte Katze durch den Türrahmen tänzelte, sich nach beiden Seiten umsah und in der Dunkelheit den Korridor entlang verschwand.
Harry schluckte und wagte es, seinen Kopf durch die Tür zu stecken. Doch Dumbledore war nirgends zu entdecken.
In seinem Kopf drangen die Sätze auf ihn ein, die er von Dumbledore und Professor McGonagall gehört hatte...
„Er hat kein Glück"... „Die Last ist viel zu schwer... niemand wäre gern an seiner Stelle" ... „Ein Leben ist mehr wert."
Er schüttelte sich und beschloss, später darüber nachzudenken. Er musste nun nach Yuri suchen. Harry hatte das Gefühl, sie würde etwas Leichtsinniges tun... sie hatte nicht die geringsten Bedenken gehabt, sich um Grawp zu kümmern und gegen die Teufelsschlinge zu kämpfen, obwohl sie noch nie etwas mit Pflanzen zu tun gehabt hatte. Harry war sich sicher, dass sie sich irgendwo im Verbotenen Wald aufhielt, denn Bane hatte etwas in ihr ausgelöst... er wusste nicht, was, aber er spürte ein stechendes Gefühl, das ihn beunruhigte.
Fast unvorsichtig laut eilte er zur großen Eichentür und lief eilends zum Rande des Verbotenen Waldes. Die Nacht war rabenschwarz und kühl. Kein Geräusch war zu hören, nur ein leichter Windzug zu spüren. Er griff in seine Tasche, um seinen Zauberstab hervorzuholen, doch er griff ins Leere: Sein Zauberstab war im Schlafsaal.
Unschlüssig starrte er in die unendliche Dunkelheit des Waldes hinein, als hoffte er, Yuri würde ihm entgegenkommen.
Wenn Yuri jedoch wirklich in Gefahr war, musste er ihr helfen. Doch ohne Zauberstab fühlte er sich schwach und machtlos...die einzige Waffe, die er hatte, war sein Tarnumhang und der würde in einem Kampf vermutlich keine große Hilfe sein. Aber einfach hier herumstehen konnte nicht...
Ohne weiter zu überlegen, rannte er in den Wald hinein und blickte sich hektisch um. Niemand war zu sehen. Er rannte weiter, weiter und weiter, doch alles um ihn herum schien in einen unheimlichen Schlaf verfallen zu sein. Kein Ast rührte sich, nur das Knacken einiger Stöcke auf dem Boden, auf die er trat, war das einzige Lebenszeichen in der Nacht.
Harry wusste nicht, wie lange er zwsichen den Bäumen umherirrte und nach Yuri rief.
Doch nach einiger Zeit fühlte er sich müde und kraftlos. Jeden Schritt machten seine Beine langsamer und widerwilliger...
Plötzlich schreckte er zusammen. Er hatte ein Rascheln gehört, doch er konnte nicht erkennen, woher es gekommen war. Langsam drehte er sich nach links und rechts – nichts.
Was nun geschah, passierte so schnell, sodass Harry später kaum wusste, was sich genau ereignet hatte.
Mit einmal Mal spürte er ein ungeheures Gewicht auf sich, dass von oben auf ihn gefallen war. Sofort stürzte er unter der Last zu Boden und ring nach Luft. Plötzlich spürte er nichts mehr, das Wesen musste von ihm heruntergegangen sein. Das letzte, was er sah, als er sich umdrehte, war nur noch eine riesige schwarze Masse, die sich gierig über ihn beugte, einen hellen Schrei und ein weißes, strahlendes Wesen, dass sie auf ihn zu bewegte... dann fiel er tief, tief, in endlose Dunkelheit, die ihn verschlang... er konnte ihr nicht entfliehen...
Harry sah etwas Verschwommenes... es war ein helles Gesicht. Er konnte zwei dunkelblaue Augen erkennen, die über ihm waren... sie strahlten ungewöhnlich hell...
Harry schreckte auf. Er war im Krankenflügel, eingehüllt in helle Bettlaken, neben ihm Yuri, die sehr erleichert wirkte und ein Taschentuch in der Hand umklammerte. Auf seinem Nachttisch stand ein gefülltes Glas Wasser, daneben eine seltsam aussehende Medizinflasche, die kein Schild trug, und eine kleine Uhr – es war sechs Uhr morgens. Unter seinem rechten Schulterblatt fühlte er einen stechenden Schmerz.
„Wie geht es dir ?", fragte Yuri besorgt.
„Wie komme ich hier hin ?", fragte Harry verwirrt und starrte sie an. „Wo warst du ?"
„Ich..."
„Ah, ist Potter wach ? Hat ja auch lang genau gedauert."
Madam Pomfrey war hereingekommen und öffnete die merkwürdige Medizinflasche.
„Noch ein Löffelchen davon, und Sie können in einer Stunde gehen", sagte sie gut gelaunt und schüttete einen Esslöffel der Medizin in das Wasserglas. „Trinken Sie es aus, ohne abzusetzten, verstanden ?"
„Warum bin ich hier ?", fragte Harry weiter.
„Nun, sie hier hat dich heute Nacht hierher gebracht", antwortete Madam Pomfrey und deutete auf Yuri. „Und jetzt trinken Sie."
Nun ging sie leise summend hinaus, ohne ihn nocheinmal anzusehen oder ihn wenigstens dazu zu zwingen, das Glas auszutrinken, wie sie es sonst immer getan hätte. Harry starrte Yuri an.
„Warum bin ich hier ?", fragte er nachdrücklich. „Ich kann mich nur noch an etwas Weißes und etwas riesiges Schwarzes erinnern... und an einen Schrei."
Yuri wirkte sehr bedrückt, nahm das Glas und drückte es ihm in die Hand.
„Ich weiß, ich schulde dir eine Erklärung", sagte sie schuldbewusst und setzte sich auf seinen Bettrand.
„Also ?", bohrte Harry nach und war nun endlich ruhig genug, um seine Medizin zu trinken. Sie schmeckte nach einem Gemisch aus Honig und sauren Gurken.
„Das Ding, was dich angefallen hat, war eine ziemlich große Acromantula", erzählte sie leise, „zum Glück bin ich gerade rechtzeitig gekommen und konnte sie besiegen. Was wolltest du eigentlich so spät im Wald ?"
„Das wollte ich dich auch fragen", entgegnete Harry erhitzt, „ich habe dich nämlich gesucht."
„Was ?"
Yuri starrte ihn entgeistert an.
Harry wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Eigentlich war er sauer auf sie, weil sie ihm viel zu viel verheimlichte, aber dieses Gefühl wurde durch ein anderes, seltsames in seinem Magen ersetzt.
„Das war noch nicht alles", sagte Harry, jedoch eher schmunzelnd als ärgerlich.
„Ich zeige dir den Rest", antwortete Yuri bestimmt. „Heute Nacht, elf Uhr am Portraitloch."
„Einverstanden", stimmte er leicht verwirrt zu. „Aber was denn ?"
„Das wirst du schon sehen", sagte sie, „erstmal muss es dir besser gehen, diese Spinne hat ganz schön auf dir herumgetrampelt und dich zu allem Überfluss leicht vergiftet, weil sie dich fressen wollte. Sie hat ständig gemurmelt, du wärst besonders wertvolles Fleisch."
„Wo sind Ron und Hermine ?", fiel Harry ein.
„Die beiden wissen noch nicht, dass du hier bist", sagte Yuri mit ernster Stimme, „und ich glaube, es ist besser, wenn nicht zu viele erfahren, dass du hier warst. Ich habe behauptet, ich hätte dich ohnmächtig im Gemeinschaftsraum gefunden, aber die Wunde auf deinem Rücken konnte ich nicht so leicht erklären. Ich glaube nicht, dass sie mir abgenommen hat, es wäre ein missglückter Zauber gewesen. Ich gehe jetzt Ron und Hermine wecken, okay ?"
„Jaaah", sagte Harry gedankenverloren , während sie aus dem Krankenflügel eilte.
„Ach, du brauchst ja noch ein Frühstück", rief Yuri abrupt und schlitterte zu seinem Bett zurück, bremste ab, zog ihren Zauberstab und hexte ihm ein Tablett mit Croissants, allem möglichen Belag und einer großen, dampfen Tasse Tee auf den Nachttisch, als sie auch schon wieder davon hastete.
Hätte er bloß nicht nach Yuri gesucht... anstatt sie zu retten, hatte sie ihn vor dem Tod bewahrt. Aus irgendeinem Grund war ihm dies fürchterlich peinlich. Es war dumm von ihm gewesen zu glauben, Yuri könne nicht auf sich selbst aufpassen. Was würde Professor McGonagall dazu sagen, wenn sie erfuhr, dass er nachts allein im Wald umherstreifte ? Mit einem kalten Grausen dachte er an sein erstes Jahr in Hogwarts zurück, als er und Hermine wegen einem nächtlichen Abenteuer, bei dem Filch sie erwischt hatte, so gut wie alle Punkte von Gryffindor verloren hatten. Er war wieder in die gleiche Falle getappt, in die er unaufhörlich trat...
„Harry, Harry !"
Ron und Hermine stürzten zu ihm ans Bett. Hermine war bleich und hechelte, Ron dagegen warf einen leicht ungläubigen Blick auf das reichhaltige Frühstückstablett neben Harrys Bett.
„Was ist passiert, Mann ?", fragte Ron langsam und wandte sich ihm zu.
„Geht's dir gut ?", fragte Hermine besorgt.
Nachdem Harry ihnen leise erzählt hatte, was sich letzte Nacht ereignet hatte, wurde Hermine rasend.
„Wie kannst du so mir nichts dir nichts in den Verbotenen Wald spazieren gehen, und das mitten in der Nacht, das ist gefährlich !", polterte Hermine. „Dir hätte sonst was passieren können. Und warum hast du niemanden von uns geweckt ?"
„Nicht so laut, Hermine", beruhigte Ron sie ängstlich und schaute sich zur Tür um, „Madam Pomfrey muss nicht unbedingt mitbekommen, dass -"
„Was interessiert mich Madam Pomfrey !", schrie Hermine schrill. „Immer wieder setzt du dein Leben aufs Spiel, Harry ! Ich dachte, du hättest gelernt, sorgsamer damit umzugehen. Dafür sind deine Eltern gestorben ! Oder hast du das vergessen ?"
Harry spürte von einer Sekunde zur anderen blanken Zorn in sich aufkochen.
„Was weißt du schon !", schrie er sie an, „du hast ja noch Eltern, die sich um dich kümmern, du musst nicht bei Leuten wie den Dursleys deine Sommerferien verbringen. Außerdem bin ich in den Wald gegangen um Yuri zu suchen, ich wollte ihr nur helfen ! Sie war nämlich nicht mehr im Gemeinschaftsraum !"
Hermine wusste darauf nichts zu erwidern. Sie atmete schwer und Tränen glitzerten in ihren Augen, dann rannte sie aus dem Krankenflügel, das Gesicht in den Händen verborgen und leise schluchzend.
Harry schluckte seinen Zorn hinunter und sah Ron an, der Hermine bestürzt nachsah. Mit einem Mal fühlte sich Harry schuldig. Er hatte Hermine angeschrien, obwohl sie sich nur um ihn gesorgt hatte.
„Schon wieder", stieß er wütend über sich selbst hervor und ließ sich ins Kissen fallen. Sein schlechtes Gewissen versetzte ihm schmerzhafte Stiche.
„Ich geh mal zu Hermine und beruhig sie", sagte Ron und stand auf, „das wird schon wieder. Ich kann ihr ja sagen, dass es dir Leid tut."
„Danke", murmelte Harry , warf einen Blick auf das Frühstückstablett und bemerkte, dass ihm der Hunger vergangen war. Selbst das duftende Croissant konnte seinen Appetit nicht wieder hervorlocken.
Doch er hatte kaum Zeit, sich über seinen erneuten Ausbruch zu ärgern, denn Yuri kam wenig später zu ihm, mit einem weiteren Glas Wasser in der Hand.
„Vielleicht solltest du noch mal ein Glas trinken, es kann nicht schaden", sage sie ihn und schüttete einen erneuten Esslöffel der Medizin ins Wasser, „wie geht es dir denn ?"
„Ähm - gut", log Harry. Yuri musste nicht unbedingt wissen, dass ihm der Stich im Rücken fürchterlich ziepte, sonst hielt sie ihn womöglich für noch schwächer, als sie es ohnehin schon tun musste.
„Ach, und übrigens", sagte sie leise, während er die Medizin hinunterwürgte, „danke."
„Für was ?", fragte Harry verdutzt, nachdem er das Glas endlich geleert hatte; schließlich hatte sie ihn davor gerettet, von einer Acromantula verspeist zu werden.
„Na, dass du mich gesucht hast", antwortete Yuri, „warum hast du das eigentlich getan ?"
„Ähm-", sagte Harry. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, warum er es getan hatte; ganz abgesehen davon fand er es äußerst seltsam, dass sie ihn das fragte. Wäre es beispielsweise Lavender Brown gewesen, hätte ihn das sicherlich nicht gestört... Aber er konnte jetzt nicht einfach dasitzen und sie anstarren.
„Na ja, ich, ähm - ich dachte, das hätte etwas mit dem Zentauren zu tun", nuschelte er als Antwort.
„Oh...", sagte sie und klang dabei ein wenig enttäuscht, „nun, heute Nacht wirst du alles verstehen, versprochen. Jetzt solltest du ersteinmal etwas essen, und nach einer Stunde kannst du ja schon gehen, hat Madam Pomfey gesagt. Also, bis dann."
Yuri ging rasch aus dem Krankenflügel und ließ ihn allein.
Während er lustlos an einem Croissant knabberte, drangen Schuldgefühle auf ihn ein... er hatte Hermine angeschrien, vielleicht sollte er sich gleich heute Mittag bei ihr dafür entschuldigen... und was Yuri nun von ihm dachte ? Sicherlich hielt sie ihn für einen neugierigen Schwächling... unter dem Druck seines schlechten Gewissens schlief er schließlich ein, bis ihn Madam Pomfrey unsanft wachrüttelte.
„Aufstehen, Potter", sagte sie heiter, „Sie können jetzt gehen, ich habe mir ihre Wunde nocheinmal angeguckt, es scheint nicht zu schlimm zu sein. Seien Sie mir aber ja vorsichtig, belasten Sie ihren Rücken vorerst nicht zu stark, verstanden ?"
Es dauerte dann noch noch eine Viertelstunde, bis Madam Pomfrey ihn gehen ließ.
In der Großen Halle waren kaum noch Schüler, aber Ron und Hermine saßen noch am Haustisch der Gryffindors und warteten auf ihn.
Harry kam langsam auf Hermine zu, die aufgestanden war.
„Es – tut mir leid", sagte sie aufrichtig, „ich bin ein bisschen aus der Haut gefahren. Ich sollte damit aufhören, deine Verwandten irgendwo mitreinzuziehen, schließlich ist es nicht deine Schuld, dass sie-dass sie–t-tot sind."
„Oh nein, mir tut es leid", entgegnete Harry verwirrt; warum entschuldigte sie sich ? „Du hast es ja nur gut gemeint."
Sie sahen sich kurz an, dann mussten beide grinsen.
„Dann ist ja alles wieder in Ordnung", sagte Ron erleichtert, „und jetzt komm, Harry, wir haben Wahrsagen. Bis dann, Hermine."
Hermine verabschiedete sich von ihnen, denn sie hatte Arithmantikunterricht.
Als sie am Klassenzimmer elf angekommen waren, standen Parvati und Lavender bereits vor der Tür und schwärmten Yuri von Firenze vor.
„Ich glaube, er kann wirklich die Zukunft voraussehen", hauchte Parvati, „er versteht es, die Geheimnisse des Universums richtig zu deuten. Ich habe ein E in Wahrsagen bekommen, weißt du ? Ich freue mich schon wahnsinnig auf den UTZ-Kurs."
„Und dieses Ambiente", fügte Lavender träumerisch hinzu, „das gibt einem die nötige Ruhe und Inspiration. Firenze hat einfach Geschmack..."
Yuri schien nicht besonders interessiert und beteiligte sich nur mit einem gelegentlichen „Hmmm" oder „Ja" am Gespräch.
Firenze wollte heute mit ihnen die Handlesekunst beginnen, ganz zur Überraschung von Parvati und Lavender.
„Wir haben nur noch wenige Tage Zeit, und dann beginnen die UTZ-Kurse. Bis dahin müsst ihr unbedingt noch die Handlesekunst begreifen. Nun, Handlesen... die Zentauren kennen weder die Lebenslinie noch sonst irgendwelche Linien als brauchbare Mittel der Vorhersage an", sagte Firenze mit seiner üblichen geheimnisvollen Stimme und schwang dabei würdevoll seinen Palomino-Schwanz, „wir gehen nur nach den Bergen, die die Hand aufweist. Manche Berge sind nach einem Planeten benannt, wie zum Beispiel der Jupiterberg, der Saturn-, Mars-, und Venusberg. Schlagt euer Buch auf Seite vierunddreizig auf, dort sind die verschiedenen Berge gekennzeichnet. Lest euch die Seite gut durch, ich werde euch danach zu Paaren zusammenstellen. So ist es anspruchsvoller, die Zukunft und den Charakter des jeweils anderen zu deuten. Und vergesst nicht, dass die linke Hand die geerbten Eigenschaften birgt, die rechte dagegen die selbst errungenen."
Harry tat wie ihm geheißen und besah sich prüfend der Abbildung von einer Hand mit stark ausgeprägten Handballen, die jeder eine andere Bedeutung hatten, je nach dem, wie hoch sie waren. Paravti Patil und Lavender Brown hingen begierig über dem Buch und prüften schon jetzt ihre eigene Hand nach, bis Firenze sie ermahnte, und Parvati mit hochrotem Kopf das Buch zuklappte.
Nach einiger Zeit stellte sich Firenze vor die Klasse und sagte: „Jetzt werde ich nachprüfen, ob ihr das Kapitel sorgfältig gelesen habt und die Grundlage der Handlesekunst beherrscht. Macht euch genügend Notizen, denn als Hausaufgabe müsst ihr einen Aufsatz über den Charakter der anderen Person schreiben, wozu eure Aufzeichnungen dienen. Also, ihr beiden und ihr-"
Ron musste mit Parvati zusammenarbeiten, was ihn ganz und gar nicht begeisterte; missmutig setzte er sich zu ihr und sah sie nicht an. Parvati versetzte ihm ebenfalls einen vernichtenden Blick. Doch Rons Laune besserte sich etwas, als Firenze Neville zu Lavender schob. Der Gedanke, dass es auch jemand anderem so schlecht ging wie ihm, schien ihn zu besänftigen.
Als Firenze an Harry vorbeikam, murmelte er: „Harry Potter... hier hin-" und zog ihn zu Yuri herüber. Harrys Magen verkrampfte sich, als sie ihn anlächelte.
„Soll ich anfangen ?", fragte Yuri, als Firenze ihnen die Erlaubnis erteilt hatte, zu beginnen.
„Okay", entgegnete er und hielt ihr seine Hand hin.
Als Yuri sie ergriff, spürte er, wie sein Gesicht heiß wurde.
Sie besah sich prüfend seiner Handfläche und überlegte.
„Also, der Marsberg ist bei dir ungewöhnlich stark ausgesprägt", murmelte sie fast zu sich selbst und machte sich Notizen, „dagegen ist der Apolloberg und der Venusberg ganz schön niedrig, wie auch der Mondberg. Die anderen Handballen sind eher normal... gibst du mir noch deine andere Hand ?"
Während sie sich auch zu Harrys linker Hand Notizen machte, beobachtete Harry Ron, der Parvatis Hand absichtlich zwickte und behauptete, der Plutoberg ( den es nicht einmal gab ) sei bei ihr auffallend dick und deutete an, dass sie besonders leichtgläubig war. Parvati jedoch bekämpfte Feuer mit Feuer und bestätigte ihm recht glaubwürdig, auf seiner rechten Hand wäre der Venusberg nicht einmal vorhanden und zeigte, dass er niemals die wahre Liebe finden würde, was Ron allerdings überhörte.
Schließlich steckte Yuri ihre Feder weg und streckte Harry ihre rechte Hand hin.
Harry gab sich einen Ruck und versuchte, ihre zarte, schmale Hand bemüht lässig zu greifen. Als er ihre zerbrechlich wirkende Hand in der seinen spürte, bemerkte er, dass es gar nicht so schwer gewesen war, wie er geglaubt hatte.
Am Nachmittag saßen er und Ron im Gemeinschaftsraum an ihren Aufsätzen für Wahrsagen, nachdem sie die Aufgaben für Kräuterkunde erledigt hatten, als Hermine durch das Portraitloch kletterte und sich zu ihnen setzte.
Yuri hatte ihr Berufsberatungsgespräch, das sie nachholen musste, und danach würde sie ihre erste ZAG-Prüfung bestehen müssen, die sie im letzten Jahr versäumt hatte.
„Was schreibst du denn da ?", fragte Hermine interessiert und beugte sich über Rons Aufsatz, als sie ihre Bücher auf den Tisch fallen ließ und sich setzte.
„Ich muss etwas über Parvati schreiben", erwiderte Ron düster und kritzelte seinen Satz lustlos zu Ende.
„Ach tatsächlich ?", sagte Hermine mit einem Mal sehr bissig und studierte seine Hausaufgaben. „War sie deine Partnerin ?"
„Firenze hat mich gezwungen, mit ihr zusammenzuarbeiten", protestierte Ron, „freiwillig würde ich sowas nie tun."
„Oh, na dann", sagte Hermine in bemüht gleichgültigem Ton. „Übrigens, das hier ist der Jupiterberg, das ist der Mondberg", fügte sie mit einem flüchtigen Blick auf das aufgeschlagene Buch zu.
„Was macht das schon für einen Unterschied", brummte Ron und fuhr gelangweilt fort.
„Mit wem hast du zusammengearbeitet ?", fragte Hermine an Harry gewandt, der diese Frage vorausgesehen hatte.
„Yuri", antwortete Harry knapp.
„Ah...", sagte Hermine und zog eine neue Rolle Pergament hervor. „Ach ja, bevor ich es vergesse, heute ist das erste DA-Treffen nach den Ferien", fügte sie hinzu, während sie ihr Buch aufschlug, „das hast du nicht vergessen, oder ?"
Harry stockte; es stimmte, er hatte völlig vergessen, dass es heute stattfinden würde. Insgeheim hoffte er, es würde nicht zu lange dauern, damit er sich schneller mit Yuri treffen konnte.
„Ähm, nein, hab ich nicht", schwindelte Harry.
„Bestens", meinte Hermine. „Nun, ich habe mir gedacht, wie wäre es, wenn wir einen kleinen Duellierwettkampf machen würden, um die Sprüche vom letzten Jahr zu wiederholen ? Immer zwei könnten gegeneinander antreten. Außerdem können wir ruhig etwas lauter sein, wo die Treffen nun vollkommen legal sind, nicht ?"
„Oh, ja, gute Idee", sagte Harry und dachte sich dabei, dass er selbst nie auf so etwas gekommen wäre. „Kommen alle, die auch vor den Ferien dabei gewesen sind ?"
„Hm, ja, ich denke schon, jedenfalls hat sich keiner abgemeldet, als ich und Ron herumgefragt haben", teilte sie ihm mit und begann, auf ihrem Pergament eine große Zahlentabelle anzufertigen, die sie mit einer Bewegung ihres Zauberstabs bunt einfärbte.
„Cho hat sich auch nicht abgemeldet", bemerkte Ron, ohne von seinem Aufsatz aufzublicken.
Bei diesen Worten fühlte Harry ein beklommendes Gefühl in sich aufsteigen. Er wollte sie nicht sehen, und schon gar nicht mir ihr reden.
Mit dem Gefühl, das Treffen würde mehr unangenehm als erfreulich werden, beendete er seinen Aufatz für Wahrsagen und begann damit, den Verschwindezauber für Zauberkunst zu wiederholen.
Um halb acht stiegen Harry, Ron und Hermine aus dem Portraitloch und genossen es, endlich einmal entspannt und ohne sich zu dritt unter Harrys Tarnumhang zu quetschen, zum Raum der Wünsche gehen zu können. Filch warf ihnen misstrauische Blicke zu und schnaubte erbost, als sie an ihm vorbeischlenderten, und Mrs Norris schnüffelte an Rons Hosenbein herum, anscheiend auf der Suche nach etwas Verdächtigem.
Als sie schließlich im siebten Stock vor der gewohnten kahlen Wand ankamen, gingen sie das Stück vom Fenster bis zur mannsgroßen Vase dreimal auf und ab.
Dabei flüsterte Hermine immer wieder angespannt: „Einen großen Raum, einen großen Raum, eine Halle mit viel Platz-"
Ron murmelte etwas Ähnliches vor sich hin und hatte die Augen krampfhaft verschlossen.
Harry starrte stur nach vorne und dachte angstrengt: Wir brauchen irgendwas Großes, eine Halle, wo wir üben können... gib uns einen großen Raum, komm schon...
„Geschafft !", sagte Hermine erleichtert, als sie die Augen wieder geöffnet hatte und drückte die Klinke einer schweren Eichentür hinunter.
„Wow", hauchte Ron.
Vor ihnen entfaltete sich die Pracht einer riesigen Kampfarena aus schneeweißem Marmor, die von eben so weißen, stark verzierten Säulen gestützt wurde. Um den großen Kampfplatz herum, der sich in der Mitte befand, waren unzählige Sitzplätze angebracht, die einen gemütlichen Eindruck machten. Die Gewölbedecke war übersäht von winzigen, leuchtenden Punkten, doch da die Decke ebenfalls weiß war, bemerkte man sie kaum. An den Wänden waren zusätzliche Kerzen angebracht, die allerdings noch nicht angezündet waren, lebensgroße Gemälde von berühmten Zaubererenun, und unheimliche Statuen von Zähne bleckenden Werwölfen und Adlern waren um den Kampfplatz herum aufgestellt. Hermine beäugte sie interessiert.
„Vielleicht haben wir ein wenig übertrieben mit unserem Wunsch nach einer großen Halle", sagte sie schließlich, „das hier ist ein bisschen zu groß, meint ihr nicht ?"
„Quatsch keinen Unsinn", erwiderte Ron begeistert und testete die Sitzplätze auf ihre Sprungqualität, „das hier ist doch einfach cool. Was meinst du, Harry ?"
„Schon ein bisschen übertrieben", gab Harry zu und musterte den Kampfplatz, der mit einer seltsam schimmernden Linie in zwei Hälften geteilt war, „aber wenigstens haben wir hier genug Platz, oder ?"
„Stimmt auch wieder", gab sich Hermine geschlagen.
Um viertel vor acht kam Yuri herein, mit einem dicken, alten Buch in der Hand, das wohl noch von ihrer ersten ZAG-Prüfung war.
„Hallo", begrüßte Hermine sie, „wie ist es gelaufen ? Was war denn deine erste Prüfung ?"
„Ach, ganz in Ordnung", antwortete Yuri und legte das Buch auf einem plötzlich erschienen Tisch ab, „es war Geschichte der Zauberei, revolutionäre Koboldaufstände und so."
„Wann hattest du eigentlich Zeit, dafür zu lernen ?", fragte Hermine fast argwöhnisch. „Immerhin haben wir ja auch Hausaufgaben auf, und zusätzlich kümmerst du dich um Grawp und hilfst Hagrid."
„Na ja, ab und zu zwischendurch hatte ich schon Zeit, du übertreibst", entgegnete sie.
Hermine schnaubte leise und begann damit, kleine Zettel zu schreiben, um die Gegner auszulosen. Ron half ihr dabei, eine Kiste herzustellen, die die Paare per Zufall ausloste.
Nun kam Yuri zu Harry hinunter, der auf dem Kampffeld stand und sich der seltsam schimmernden Linie näher besah, die, wenn man genau hinsah, aus winzigen silbrigen Kugeln bestand, die sich umeinander bewegten und sich gegenseitig mit Funken besprühten.
„Was machst du da ?"
„Oh, du bist's", sagte Harry erschreckt und spürte, wie er rot anlief. „Ist alles gut gelaufen ?"
„Ja, schon - hoffe ich", sagte sie und kam zu ihm an die Trennlinie heran. „Was ist das ?"
„Keine Ahunung", erwiderte Harry, „aber ich habe irgendwie das Gefühl, es ist eine Grenze oder so etwas."
„Hmmm", sagte Yuri und beugte sich vor, „vielleicht-"
„NICHT !", rief Harry und hielt sie gerade noch zurück, bevor sie ihren Fuß über die Linie setzte.
„Was ist ?"
„Vielleicht ist es gefährlich", antwortete Harry und spürte, wie sein Herz klopfte.
„Ich kann es ja mal mit einem Holzstück versuchen", sagte sie und hexte eines hervor, das die Größe eines Buches hatte.
Sie warf es, doch über der Linie schien eine unsichtbare Mauer zu sein, sodass das Holz, welches die Mauer zusätzlich stark angekokelt hatte, pfeilschnell zurückprallte und fast Yuris Gesicht getroffen hätte.
„Oh", murmelte sie niedergeschlagen, „das hätte ich sein können."
„Zum Glück nicht", sagte Harry und lief noch ein wenig röter an, als sie ihn angrinste.
„Hey, Harry !", rief Ron von oben. „Wir fangen an, es sind schon alle da. Kommt ihr jetzt endlich mal ?"
„Ja", antworteten Harry und Yuri im Chor und hasteten die Treppe hinauf.
Rund um den Loskasten herum waren nun alle DA-Mitglieder auf samtweichen Kissen versammelt und starrten die riesige Halle beeindruckt an. Ginny, Parvati und ihre Schwester Padma neben Luna Lovegood ( mit einem wie immer verträumten Blick ), hinter ihr Dean, Neville und die Creevey-Brüder, die unruhig auf ihren Plätzen hin und her rutschten. Auf der anderen Seite hockten Ernie Macmillan, Susan Bones und Hannah Abott, vor ihr Justin Finch-Fletchley, Anthony Goldstein, Terry Boot und Michael Corner, selbst Zacharias Smith warf den Adlerstatuen einen ehrfürchtigen Blick zu. Und neben Michael Corner saß Cho mit ihrer Freundin Marietta, die peinlich berührt schien, wieder beim DA-Treffen erschienen zu sein.
Harry sah aus den Augenwinkeln, wie Cho Yuri sichtlich abneigende Blicke zuwarf, sich aber sonst nichts anmerken ließ und versuchte, sich auf den Loskasten zu konzentrieren und ihn entschieden nicht ansah.
„Nun, ähm - schön, dass ihr alle wieder da seid", durchbrach Hermine leicht verlegen das Schweigen. „Ich habe heute an einen kleinen Duellierwettkampf gedacht, deshalb hat sich der Raum auch in eine Kampfarena verwandelt. Also, seid ihr dafür ?"
Überall hörte man zustimmendes Murmeln.
„Das ist eine echt tolle Idee, Hermine", sagte Yuri anerkennend, was Hermine bestärkte und sie strahlen ließ.
„Ich habe mit Ron schon Lose geschrieben", sagte Hermine eifrig und nahm die Kiste in die Hand. Nun zog sie ihren Zauberstab hervor und tippte dreimal gegen den Kasten, der danach einige weiße, zusammengefaltete Zettel durch seinen Schlitz ausspie, von denen je einer jedem in die rechte Hand flog.
Verdutzt fing jeder den seinen auf.
„Jetzt müsst ihr nachgucken, gegen wen ihr in der ersten Runde kämpft", kommandierte Hermine sie herum und faltete begierig ihren Zettel auf. „Oh, Parvati", sagte sie ein wenig enttäuscht, nachdem sie nachgesehen hatte.
Harry hatte Zacharias Smith bekommen und dachte dabei erbittert, er hätte es wissen müssen.
„Wen hast du gezogen, Ron ?", fragte Harry und sah auf seinen Zettel. Dean Thomas.
„Und du ?"
„Zacharias Smith", antwortete Harry und versuchte, nicht allzu düster zu klingen.
Nachdem sich alle untereinander ausgetauscht hatten, wer gegen wen kämpfte, hexte Hermine eine Tafel hervor, auf der alle Gegner aufgezeichnet waren.
Harry las:
DUELLIERWETTKAMPF – DUMBLEODRES ARMEE
Justin – Anthony
Terry – Susan
Cho – Yuri
Padma – Michael
Harry – Zacharias
Hermine– Parvati
Ginny – Marietta
Ernie – Neville
Dennis – Colin
Dean – Ron
„Los geht's !", schrie Colin Creevey begeistert und hüpfte die Treppe zum Kampffeld hinunter.
„Moment noch", warf Hermine ein, „zuerst sollten wir einen Schiedsrichter wählen."
„Das kannst du ja sein", schlug Ron vor, „sind auch die anderen damit einverstanden ?"
Da keiner etwas einzuwenden hatte, was vielleicht auch daran lag, dass alle ganz scharf darauf waren, endlich mit dem Duellieren zu beginnen, wurde Hermine zur Schiedsrichterin ernannt.
Das ist genau das Richtige für Hermine, dachte Harry schmunzelnd und sah ihr dabei zu, wie sie vollkommen in ihrem Element war.
„Also, hört mal alle her, wir fangen jetzt an", rief sie und setzte sich auf einen Platz ganz nahe dem Kampffeld, „alle suchen sich Plätze um das Feld herum und ich rufe dann die einzelnen Paare auf. Die Regeln lauten wie folgt: Erstens, es wird niemand verletzt. Zweitens: Es wird niemand berührt. Drittens, man darf nur seinen Zauberstab benutzen. Viertens: Man muss auf seiner Hälfte bleiben. Fünftens, es wird niemand umgebracht. Die ersten sind Justin und Anthony. Und nicht vergessen, wir sind nicht hier, um zu gewinnen, sondern um zu lernen !"
„Und berührt bloß nicht diese Grenze, wenn ihr euch nicht an lebendigem Leibe grillen wollt", fügte Harry hinzu.
Mit etwas weniger selbstbewussten Mienen als kurz zuvor stapften Justin Finch-Fletchley und Anthony Goldstein je auf eine Seite des Feldes und starrten sich angriffslustig an.
Die anderen saßen angespannt auf ihren Sitzplätzen und sahen gebannt zu, wie sich die beiden anfunkelten. Dennis hatte sogar den Mund halb offen, ohne es zu bemerken.
„Bei drei !", rief Hermine. „Haltet eure Zauberstäbe schon bereit ! Und konzentriert
euch ! Nun... eins, zwei, drei !"
„Expelliarmus !", schrie Justin mit ungewöhnlich heller Stimme, noch bevor Anthony wirklich registrieren konnte, dass Hermine schon bei drei angelangt war.
„Protego !", brüllte Anthony noch, jedoch zu spät: Der Zauberstab glitt ihm bereits aus den Händen, bevor er auch nur die erste Silbe seines Spruches ausgesprochen hatte.
Alle waren überrascht, wie schnell der Sieger aus diesem Duell hervorgegangen war; alle hatten mit einem langen, harten Kampf gerechnet, doch nun ging Justin scheinbar höchst mit sich selbst zufrieden auf seinen Platz zurück, während Anthony Goldstein sich wütend an Hermine wandte.
„Er hat viel zu schnell angefangen !", rief er entrüstet. „Ich konnte nichts machen, das war unfair !"
„Tut mir Leid, aber er war eben schneller, und das zählt bei einem Zaubererduell auch", antwortete Hermine entschuldigend und rief das nächste Paar auf, Terry Boot und Susan Bones.
Susan blockte sehr geschickt alle Flüche von Terry durch den Schildzauber ab und traf ihn schließlich hart mit dem Pertrificus Totalus – Zauber, der ihn so stark erwischte, dass ihn Harry und Ron vom Feld schleifen mussten.
Nun waren Cho und Yuri an der Reihe. Cho ging verbissen auf ihre Seite und sah Yuri missmutig an, die noch dabei war, Terry Boot zu heilen, der wie versteinert auf einer Trage lag, welche aus dem Nichts erschienen war. Als Yuri an Harry vorbei kam, flüsterte er ihr ein „Viel Glück" zu.
Sie zwinkerte ihm zu und zog ihren zerbrechlich wirkenden Zauberstab hervor.
„Also, bereit ?", rief Hermine, als Yuri auf ihrer Seite ankam. „ Eins, zwei, drei !"
„Stupor ", krächzte Cho, die ganz beseelt schien von dem Wunsch, gegen Yuri zu gewinnen.
Doch der rote Strahl prallte an Yuri ab. Einige Strähnen ihres langen, dunkelbraunen Haares fielen ihr über ihr hübsches, schmales Gesicht und ihre blauen Augen leuchteten ungewöhnlich hell zwischen all dem weißen Marmor, der sie umgab. Harry kam sie fast ein wenig geheimnisvoll vor, als sie dort vollkommen ruhig stand und Cho fest in die Augen blickte. Nein, sie war geheimnisvoll... mit einem Mal schien sie jemand völlig anderes zu sein. Doch Harry konnte ihren Blick nicht entziffern.
„Stupor !", wiederholte Cho hektisch, „STUPOR !"
Als die beiden kurz aufeinander folgenden Strahle wieder an ihr abprallten, schien sie den Tränen nahe und schrie schrill „Diffindo !"
Nun schien Yuri wieder beweglich zu sein, sie hob ihren Zauberstab und sagte fast lässig: „Impedimenta !"
Cho hob es rücklings von den Füßen und sie knallte mit einem dumpfen Geräusch an eine der dicken Steinsäulen, die um das Feld aufgestellt waren. Bewusstlos lag sie am Fuß der Säule und rührte sich nicht. Ihr Kopf hing kraftlos herunter und ihr schwarzes Haar verdeckte ihr Gesicht.
Yuri lief um die Grenze herum und kniete sich zu ihr nieder. Auch Hermine schien recht geschockt und rannte eilends zu ihnen herüber, sodass sie fast über ihre eigenen Füße gestolpert wäre, doch sie konnte sich noch rechtzeitig auffangen und hastete weiter.
Auch die andreren DA-Mitlgieder kamen nach und nach heran und scharten sich um die bewusstlose Cho.
„Oh mein Gott", stöhnte Hermine und war sichtlich aufgelöst, „es sollte doch niemandem etwas passieren... Kannst du sie nicht wieder heilen, Yuri ?"
„Kein Problem", sagte sie und richtete ihren Zauberstab auf Chos Herz.
Langsam hob sie den Kopf und starrte Yuri angsterfüllt an, wie auch bereits einige andere.
„Du – du", stammelte sie und zitterte heftig am ganzen Körper, „warum konnte ich dich nicht angreifen ? Alle Flüche sind an dir abgeprallt !"
„Das war der Firmate-Zauber", antwortete Yuri verständnislos und sah Cho verdutzt an.
„Der was ?", wiederholte Cho ungläubig und rührte sich immer noch nicht.
„Der Fimate-Zauber", sagte sie nachdrücklich, „kennst du den nicht ?"
„Nein, kenne ich nicht", entgegnete Cho matt.
„Ich kenne ihn", sagte Hermine ungewöhnlich steif, „den lernt man, wenn man ein Auror werden will. Ich habe mal was darüber gelesen, in „Die fernen Welten der Magie", es ist unglaublich schwer, ihn zu beherrschen, nur die wenigsten schaffen es, da der Herzschlag eine ungewöhnliche niedrige Anzahl pro Sekunde betragen muss."
Yuri sagte nichts, sondern starrte auf den Boden.
„Geht schon mal auf eure Plätze zurück, gleich kommen die nächsten dran", sagte Hermine rasch und scheuchte den Rest der Da-Mitglieder mitsamt Cho fort, die inzwischen wieder auf den Beinen stand, sich jedoch auf Mariettas Schulter abstützen musste, um gehen zu können.
Nur Harry und Ron hatte Hermine bleiben lassen, die sich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen.
Harry hatte noch nie von einem Firmate-Zauber gehört, und Ron, wie es schien auch nicht, denn er sah Hermine gespannt an, als hoffte er, sie würde ihm alles erklären, mitsamt Kapitel- und Seitenagabe des Buches, aus dem sie ihr Wissen in den meisten Fällen entnahm.
„Also, Hermine", sagte Ron mit einer Stimme, als wäre es ganz selbstverständlich, was nun kommen würde, „was ist das ?"
„Eine Art Schildzauber", antwortete Hermine forsch, doch sie konzentrierte sich nicht auf Ron.
„Was ?", fragte Ron verdutzt. „Wo bleibt der Name des Kapitels ? Nicht mal der Buchtitel ? Ist das alles ?"
„Sag es ihm doch", warf Yuri ein.
„Das kannst du sicher besser", erwiderte Hermine frostig und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten, „immerhin beherrscht du ihn ja, oder ?"
Sie machte wütend auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon. Harry hörte, wie sie wenig begeistert das nächste Paar aufrief, Padma Patil und Michael Corner.
„Was hat sie denn ?", fragte Yuri besorgt und starrte ihr verwirrt nach.
„Sie ist sauer, weil du in allem besser bist als sie", erklärte ihr Ron ohne Umschweife.
„A - aber... Hermine ist doch so gut", entgegnete Yuri ratlos.
„Tja, du hast sie überholt", erwiderte Ron trocken und wich einem rotem Strahl von Michael Corner aus, der vermutlich Padma hätte treffen sollen. „Lass ihr ein bisschen Zeit, sie wird sich daran gewöhnen", fügte er etwas grimmig hinzu und ging auf seinen Platz zurück.
Etwas wortkarg blieb Harry bei Yuri stehen, die den Kopf hängen ließ.
„Das wollte ich nicht", sagte sie niedergeschlagen.
„Du kannst doch nichts dafür", tröstete Harry sie und streckte jäh den Arm aus, zog ihn jedoch hastig zurück, als sie den Kopf hob.
„Komm, du bist gleich dran", sagte sie plötzlich und ging das Feld hinunter, vorbei an Padma Patil, die zueben von Michael Corner besiegt worden war, was sie sichtlich ärgerte. Missmutig stieß sie mit ihrem Bein an eine reich verzierte Marmorsäule und ließ sich recht gut nicht anmerken, dass ihr Fuß schmerzte.
Dann waren Harry und Zacharias an der Reihe. Harry sah, wie Zacharias wild entschlossen auf seine Seite marschierte und den Zauberstab zückte. Harry wusste, dass er alles daran setzen würde, um ihn zu besiegen.
Sobald Hermine bis drei gezählt hatte, feuerte er einen Schockzauber auf Harry ab, verfehlte ihn aber um einige Zentimeter. Während er noch entrüstet auf die Stelle starrte, auf der sein Fluch aufgekommen war, hob Harry seinen Zauberstab und sagte: „Rictusempra !"
Wie durch eine unsichtbare Hand wurde Zacharias zurückgetrieben und rang nach Luft, als Harry „Impedimenta !" rief und es ihn rücklings in die Luft hob.
Mit einem lauten Knall landete er knapp vor der Grenze wieder auf dem Boden, richtete sich rasch auf und rieb seinen schmerzenden Arm, mit dem er aufgekommen war.
„Stupor !", krächzte er und traf Harry an der Schulter, doch der Zauber ließ ihn nur leicht nach hinten torkeln.
„Tarantallegra !", rief Harry.
Sofort begann Zacharias mit vor Zorn verzerrtem Gesicht Foxtroot zu tanzen und mühte sich dabei, seinen Zauberstab auf ihn zu richten, doch er zitterte heftig dabei, sodass er unmöglich hätte zielen können.
„Expelliarmus !", sagte Harry ruhig und fing Zacharias' Zauberstab auf, der noch immer unbeholfen Foxtrott tanzte und sich dabei ständig mit seinen Beinen verhedderte.
„Finite", murmelte Harry und sofort hörte er auf zu tanzen. Doch sein Gesicht war noch immer rot und recht kleinlaut kroch er auf seinen Platz in der zweiten Reihe zurück, wobei er noch ein wenig hinkte.
„Das war voll krass, Mann, du hast ihn erledigt", sagte Ron nicht ohne Schadenfreunde in der Stimme und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„Danke", sagte Harry und guckte sich nach Yuri um, doch er konnte sie nirgends endecken.
„Wo ist eigentlich Yuri ?", fragte er bemüht beiläufig, ohne Ron anzublicken.
„Yuri ?", sagte Ron verwirrt und ließ seinen Blick kreisen. „Eben war sie noch da, aber jetzt sehe ich sie auch nicht mehr... vielleicht ist sie aufs Klo gegangen. Jedenfalls ist sie echt seltsam, würde mich wirklich interessieren, was das für ein Zauber war. Sowas hab ich noch nie gesehen. Ich muss mal Dad danach fragen."
„Hmm...", sagte Harry und guckte Hermine dabei zu, wie sich Parvati mit einem einzigen, gekonnten Spruch besiegte. Parvati war viel zu langsam, als dass sie es mit Hermine hätte aufnehmen können.
Zufrieden ging Hermine an ihren Platz zurück und schickte Ginny und Marietta auf das Feld.
Ginny legte einen so guten Beinklammerfluch hin, dass Marietta nicht den Hauch einer Chance hatte, einen Zauberspruch auszusprechen. Strahlend machte Ginny ihren Fluch rückgangig und half Marietta auf die Beine, die sie wütend anfunkelte und sich wütend zu Cho setzte, die ebenfalls nicht sonderlich gut gelaunt schien.
Im nächsten Duell unterlag Ernie MacMillan Neville, der sich im letzten Jahr in Verteidigung gegen die dunklen Künste zum Guten hin gesteigert hatte. Harry hatte er anvertraut, dass er in den ZAG-Prüfungen sogar ein A geschafft hatte und er nicht wusste, wie er es vollbracht hatte, nachdem er den neuen Hut eines Zauberers angekokelt und die hüsche Pfauenfeder dabei in Staub verwandelt hatte. Harry glaubte, dass Neville sich so sehr anstrengte, weil er seine Eltern eines Tages rächen wollte, doch er fragte ihn nicht danach.
Der folgende Kampf war wohl der längste, denn die beiden Creeveybrüder waren fast gleich schnell, und obwohl Colin älter als Dennis war, schlug er sich gut. Immer wieder schossen sie Schock- und Entwaffnungszauber ab, doch meist trafen sie nicht, sondern demolierten die Marmorsäulen oder brannten Löcher in die Sitzplätze. Doch schließlich traf Colin Dennis mit einem Entwaffnungszauber und siegte.
„Hast du's gesehen, Harry ?", schrie er freudig und deutete auf Dennis, der trotz seiner Niederlage guter Dinge war. „Ich habe gewonnen, mit dem gleichen Zauber wie du ! Hast du das gesehen ?"
„Gut gemacht, Colin", sagte Harry.
Die letzten waren Ron und Dean Thomas, die sich nun auf dem Feld gegenüberstanden.
Ron verzog das Gesicht und blickte ängstlich auf die glitzernde Linie; wahrscheinlich stellte er sich gerade vor, wie er als Steak aussehen würde.
Ron, der anscheinend so schnell wie möglich das Kampffeld verlassen wollte, feuerte einen Kitzelfluch nach dem anderen auf Dean ab, ohne zu bemerken, dass er ihn schon dreimal getroffen hatte. Dean musste so heftig lachen, dass er heiser wurde und ihm bereits einige argwöhnische Blicke zuwarfen. Doch dann griff Hermine ein und sagte: „Finite Incantatem !"
Von einer Sekunde zur anderen lag Dean keuchend auf dem Boden, legte die Hand auf seinen schmerzenden Bauch und schleppte sich mühsam auf einen der Sitze in der ersten Reihe zurück, das noch kein Brandloch besaß.
„Ich glaube, das waren alle, nicht ?", sagte Hermine schließlich, als sie die Tafel mit einem Schlenker ihres Zauberstabs verschwinden ließ. „Das nächste Mal fahren wir fort und losen die weiteren Paare von den Siegern aus. Die, die verloren haben, können nächste Woche als Zuschauer kommen, wenn sie Lust haben."
Nach und nach hinkten und gingen alle DA-Mitglieder aus der Kampfhalle. Cho, die sich nun auf Michael Corner stützte, warf Harry einen kurzen Blick zu und errötete, als sie an ihm vorbeihumpelte. Harry sah sie ausdruckslos an und es war, als würde er zurückblicken in eine vergangene Zeit, die er vergessen hatte und ihn mit einer unbeschreiblichen Leere erfüllte.
Nur noch Harry, Ron und Hermine blieben zurück um aufzuräumen;Yuri war noch immer nicht aufgetaucht. Harry reparierte die durchlöcherten Sitzplätze und Ron fegte den Gang um das Kampffeld herum.
„Ich denken, es ist ganz gut gelaufen, oder ?", meinte Hermine, als sie sich dem Boden des Kampffeldes annahm. „Alle konnten zeigen, was sie gelernt haben."
„Immer warst du nicht damit einverstanden, wenn jemand gezeigt hat, was er drauf hat", bemerkte Ron mit hoch gezogenen Augenbrauen und tat einen besonders kräftigen Schub mit dem Besen über den Marmorboden.
Bis sie den Raum der Wünsche verlassen hatten und im Gryffindorgemeinschaftsraum waren, sagte Hermine kein Wort zu Ron.
Erst als es zehn Uhr war und Hermine sagte, sie wolle schlafen gehen, während Harry und Ron mitten in einer Partie Koboldstein waren, überwand sie sich zu einem leicht steifen „Gute Nacht, Ron" und stieg die Treppe zum Mädchenschlafsaal hoch.
Nachdem die beiden das Spiel beendet hatten ( Ron hatte haushoch gewonnen ), gingen sie ebenfalls zu Bett. Harry versuchte möglichst unauffällig mit seiner Kleindung in sein Himmelbett zu steigen, und es gelang ihm sogar, da Ron sichtlich müde war und sich kaum auf das konzentrierte, was er tat. Als Harry sein leises Schnarchen hörte, sah er auf die kleine Uhr auf seinem Nachttisch: Es war fünf vor elf. Hastig kletterte er aus seinem Bett, holte den Tarnumhang aus seinem Koffer hervor und machte die Tür so leise wie nur möglich auf.
In der Dunkelheit konnte er zwei strahlend blaue Augen in der Nähe des Portraitlochs erkennen – Yuri. Je näher er den beiden Augen kam, desto deutlicher sah er ihre Umrisse, die sich deutlich von dem dunklen Wandteppich hinter ihr abhebten.
„Ähm - Yuri ?"
„Ja, ich bin's",antwortete Yuris Stimme flüsternd. „Lumos."
Die Spitze von Yuris Zauberstab leuchtete auf und Harry sah nun ganz deutlich ihr hübsches, schmales Gesicht, dass ihn anlächelte.
„Jetzt sag endlich, was du mir zeigen willst", sagte Harry leise.
„Das, was du wissen willst", flüsterte sie als Antwort, „zuerst müssen wir uns unsichtbar machen, sonst werden wir erwischt."
„Ich habe meinen Tarnumhang dabei", sagte Harry und zeigte ihr den alten Umhang, „da können auch zwei drunter."
„Das ist viel zu umständlich, außerdem bleibt man damit leicht hängen, und das wäre wirklich schade um ihn", meinte sie nachdenklich, „ein Desillusionierungszauber wäre besser."
„Kannst du den ?", fragte Harry neugierig.
„Sonst hätte ich es nicht vorgeschlagen", flüsterte sie grinsend und klopfte ihm und ihr selbst auf den Kopf. Wieder hatte Harry das seltsame Gefühl, ein Ei, das mit kaltem Wasser gefüllt war, würde auf seinem Kopf zerbrechen. Er sah an sich hinunter und konnte erkennen, dass sein Körper, oder das, wo er sich eine Sekunde zuvor befunden hatte, so dunkel wie der Fußboden geworden war.
Auch Yuris Körper war nun nicht mehr vom Wandteppich hinter ihr zu unterscheiden.
„Hast du deinen Zauberstab dabei ?", murmelte sie ihm ins Ohr.
„Ja", antwortete Harry und ertastete ihn in den Taschen seines Umhangs, den er zwar nicht sehen, jedoch spüren konnte.
„Gut", sagte Yuri, „vielleicht brauchen wir unsere Zauberstäbe gleich."
„Warum ?", fragte Harry und bemühte sich, nicht allzu besorgt zu klingen.
„Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme", sagte sie. „Folg mir."
„Wie denn, wenn ich dich nicht sehen kann ?"
„Oh... du hast recht... ich lasse am besten meinen Zauberstab weiter leuchten."
„Und was ist, wenn ein Lehrer das Licht sieht ?"
„Dann – ähm – ist es ein Glühwürmchen", entgegnete Yuri, allerdings sichtlich ratlos.
„Ähm... nein... dann machen wir es so", flüsterte sie nach einer Pause, „bis zum Ausgang findest du den Weg ja alleine. Erst wenn wir draußen sind, mache ich das Licht an, okay ? Nox."
Yuri stieg durch das Portraitloch ( „Wer bist du ?", fragte die fette Dame argwöhnisch. „Wehe, du bist ein kleiner, hilfloser Schüler und stronerst noch in der Schule rum", fügte sie vorwurfsvoll hinzu, „Filch wird dich erwischen und Mrs Norris kann dich riechen, bleib lieber in deinem Gemeinschaftsraum... " ), Harry tapste ihr etwas unsicher hinterher.
Bis sie am Ende des Korridors angelangt waren, konnte er die Verwünschungen und Warnungen der fetten Dame hören, die in der Stille der Nacht wie ein Echo in seinen Ohren widerhallten. Es war seltsam, nur den leisen Schritten eines unsichtbaren Menschens zu folgen. Harry konnte sich nicht erklären, weshalb er ihr vertraute – schließlich führte sie ihn mitten in der Nacht durch die Schule, und sie hatte ihm nicht einmal gesagt, was sie ihm zeigen wollte, außer ein „das, was du wissen willst" – was wollte er eigentlich wissen ?
„Harry, bist du da ?", flüsterte Yuri und ließ die schwere Eichentür mit einer kaum merklichen Bewegung ihres Zauberstabs gerade so weit lautlos aufschwingen, dass sie hindurchschlüpfen konnten.
„Ja", murmelte er und sah, wie hinter der Tür eine Zauberstabspitze aufleuchtete.
„Wohin gehen wir jetzt ?", fragte Harry nachdrücklich.
„Zur Peitschenden Weide, anders kommt man leider nicht rein", seufzte Yuri.
Harry stockte. Meinte sie etwa-
„Willst du zur Heulenden Hütte ?", fragte er ungläubig und für einen Augenblick glaubte er, die Kehle sei ihm zugeschnürt.
„Du kennst sie ?", hauchte sie verblüfft.
„Das ist eine lange Geschichte", sagte Harry knapp und schluckte, als ihm schlagartig bewusst wurde, wohin Yuri gehen wollte, „hör mal, das ist viel zu gefährlich, Ron hat sich das letzte Mal das Bein gebrochen wegen diesem -"
„Ron war auch da ?", flüsterte sie verwirrt. „Kennt jeder diesen Eingang ?"
„Nein", antwortete Harry kurz gebunden; er war enttäuscht.„Komm, wir gehen besser wieder in den Gemeinschaftsraum zurück."
„Vertraust du mir nicht ?", fragte Yuri plötzlich und klang dabei sehr traurig.
„Doch, aber-", begann Harry hilflos. „Man muss schon eine Ratte sein, um heil da rein zu kommen."
„Es muss nicht unbedingt eine Ratte sein", widersprach sie. „Auch ein Schwan kann es schaffen."
„Cygnus ist aber nicht hier", sagte Harry.
„Das muss er auch gar nicht", meinte sie.
Harry wusste nicht, was er darauf sagen sollte, und starrte stattdessen nur ratlos in den sternenübersähten Himmel, der sich über ihnen erstreckte.
„Du vertraust mir also nicht."
„Doch, schon", nuschelte Harry. Er zögerte. „Na gut, gehen wir zur Peitschenden Weide. Aber sei bloß vorsichtig", fügte er hinzu.
„Keine Angst, ich passe auf", sagte sie strahlend und Harry wusste, dass sie lächelte.
Mit einem schweren Kloß im Magen folgte Harry dem leuchtenden Punkt in der schwarzen Nacht, der ihn zu dem todbringenden Baum führte.
Warum wollte sie zur Heulenden Hütte ? Was war dort, was sie ihm zeigen wollte ? Zwanghaft versuchte Harry, nicht an die Nacht zu denken, in der er Sirius zum ersten Mal getroffen hatte... der schwarze Hund war ihm immer wieder begegnet, er hatte ihn nicht mehr sehen wollen... nocheinmal sah er sich selbst vor Augen, wie er seinen Zauberstab auf Sirius' Herz gerichtet hatte und ihn für den Tod seiner Eltern verantwortlich gemacht hatte... wie Unrecht er gehabt hatte... Sirius war ein guter Mensch, er hätte nie jemanden im Stich gelassen... und nun hatte Harry ihn für immer verloren.
„Wir sind da."
Harry blickte auf und sah, wie die Peitschende Weide ruhig in der rabenschwarzen Nacht stand, kein Zweig knackte, kein Ast rührte sich, kein Blatt raschelte im seichten Wind. Man hätte meinen können, es sei ein Baum wie jeder andere, der auf den Ländereien stand.
„Und wie willst du an den Knoten kommen ?", wisperte Harry und achtete sorgfältig darauf, ja nicht zu nahe an die todbringende Weide heranzukommen; er erinnerte sich nur zu gut an die Schnittwunden, die ihm die wild rotierenden Äste eingebracht hatten.
„Indem ich einfach mit dem Schnabel draufgehe", flüsterte Yuri zurück.
Harry starrte sie an. Schnabel ? Langsam glaubte er, dass etwas nicht mit ihr stimmte; war es vielleicht jemand anderes, der einen Vielsafttrank getrunken hatte und sich nur als Yuri ausgab ?
„Du hast keinen Schnabel", sagte Harry matt zu dem leuchtenden Punkt.
„Wenn ich will schon", antwortete sie und hob den Zauberstab.
Harry sah, wie sie den Desillusionierungszauber wieder rückgängig machte und ihre blaue Augen in der Nacht leuchteten. Was nun geschah, verschlug Harry endgültig die Sprache...
