Der Irrwicht

Wie gebannt sah Harry auf ihr hübsches Gesicht, das mit rasender Geschindigkeit immer kleiner wurde und auf ihre Arme, aus denen schneeweiße, lange Federn wuchsen, die zu Flügeln wurden. Ihr Hals wurde von einer unsichtbaren Hand lang gezogen und gebogen, ihre Beine schienen zu verschwinden, nur ein winziger Teil an jedem Fuß blieb bestehen und formte sich zu orangefarbenen, kräftigen Plattfüßen mit Schwimmhäuten. Ehe Harry begriff, was passiert war, stand vor ihm ein riesiger weißer Schwan mit Yuris unverkennbar dunkelblauen Augen, der Cygnus in Nichts nachstand.

„Du-du bist ein Animagus ?", flüsterte er heiser und starrte sie unverwandt an.

Der Schwan nickte fast unmerklich, spannte seine Flügel aus und erhob sich langsam in die Luft. In dem unendlichen Dunkel der Nacht konnte man den weißen Schwan besonders gut ausmachen, und Harry verfolgte ihn, wie er ein paar Meter über den Peischenden Weide schwebte und dann pfeilschnell nach unten schoss, sodass die Weide nicht die geringste Chance hatte, mit einem ihrer Äste zu einem Schlag auszuholen. Sobald der Schnabel den Knoten berührt hatte, erstarrte der Baum und wirkte wie aus Stein gemeißelt.

Der Schwan landete neben der großen Erdspalte und verwandelte sich rasend schnell in Yuri zurück, die in die Spalte zwischen den Wurzeln hineinsprang.

Harry war wie gelähmt und fühlte sich nicht fähig, sich zu bewegen. Yuri war also ein Animagus, ein Schwan...und sie kannte den Eingang zue Heulenden Hütte...

„Kommst du nicht ?", rief sie halblaut und steckte ihren Kopf aus dem Loch.

„D-doch", sagte Harry, ging langsam auf den Spalt zu und sprang zu ihr herunter, wobei er sich den Kopf an einer Wurzel stieß, die aus der Erdwand herausragte.

„Warum hast du nie jemandem gesagt, dass du ein Animagus bist ?", zischte er und rieb sich seinen Hinterkopf.

„Weil das doch eigentlich widerrechtlich ist", antwortete Yuri entschuldigend und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. „Ich bin nicht im Zaubereiministerium eingetragen, nicht mal Dad weiß davon. Ich denke mal, er würde ganz schön durchdrehen, deshalb sage ich es ihm lieber nicht, er hat im Moment genug am Hals... na ja, er ist ja auch selber daran Schuld, aber so ist er nun einmal."

„Mir hättest du es ruhig sagen können, und Ron und Hermine auch", fügte er vorwurfsvoll hinzu. „Außerdem, kannst du den Desillusionierungszauber wieder rückgängig

machen ? So langsam habe ich es satt, wie der Boden auszusehen."

„Ich habe dir doch gezeigt, dass ich ein Animagus bin", entgegente sie grinsend und klopfte ihm mit ihrem Zauberstab auf den Kopf. „Dann glaubst du es mir wenigstens. Wenn ich es dir erzählt hätte, hättest du mich nur wieder für verrückt gehalten."

„Sehr witzig", sagte Harry schmunzelnd und begutachtete seine Schuhe, um sicherzugehen, dass er wieder sichtbar war.

„Los jetzt, sonst kriegen wir heute überhaupt keinen Schlaf mehr", sagte sie plötzlich und ging gebückt voran, den Tunnel entlang. Harry, der das unangenehme Gefühl hatte, der Tunnel sei seit seinem letzten Besuch noch ein wenig schmaler geworden, folgte ihr, vorsichtig darauf bedacht, nicht den Kopf zu heben.

Tatsächlich hatte Harry mehr Schwierigkeiten als beim letzten Mal, durch den Tunnel zu gelangen. Zwar beschleunigten sie ihre Schritte bald, doch nach einiger Zeit bekam Harry kaum noch Luft, er lief jedoch zielstrebig hinter Yuri hinterher, die weitaus weniger Probleme damit hatte, durch den engen Gang zu kriechen, da sie um einiger kleiner war als er. Dennoch atmete auch sie schwer, nachdem sie einige Zeit gegangen waren.

Doch bald erreichten sie eine unauffällige, dunkelbraune Tür, die mit klebriger, wurzelüberwucherter Erde bedeckt war.

„Seit wann gibt es hier eine Tür ?", keuchte Harry und war froh, endlich das Ziel erreicht zu haben.

„Ich habe sie gehext", antwortete sie und öffnete die Tür mit dem Alohomora-Zauber, „für jeden anderen würde sie wie klumpige Erde aussehen, deshalb ist sie äußerst nützlich. Pass auf, wenn du reingehst, und tritt lieber nicht auf den Teppich."

„Was für einen-", setzte Harry immer noch atemlos an, doch er stockte, und der Mund klappte ihm auf.

Der Raum, der einst verstaubt und befleckt war, glich nun einer vollkommen neu möbilierten Wohnung. Jeder Winkel blitzte vor Sauberkeit, und wenn Harry sich nicht schwer irrte, konnte man sich in den auf Hochglanz polierten Tischen spiegeln. Die Tapete war erneuert worden, der neue Parkettfußboden wies nicht mal einen Kratzer auf und vor den Fenstern hingen lange, weiße Gardinen. An dem kleinen Tisch neben dem größten Fenster stand ein riesiger Blumenstrauß, eine große Wanduhr tickte ruhig vor sich hin, und die Wände säumten unzählige Bilder von kichernden Elfen, die ihm verschmitzte Blicke zuwarfen.

„Wa-was hast du mit dem Raum angestellt ?", hauchte Harry fassungslos und starrte eine rundliche Teekanne mit Veilchenmuster an, die auf einem Holztablett stand. „Wenn einer hier hinein guckt !"

„Keine Sorge, wenn einer sich wirklich trauen sollte, einen Blick in die Heuldende Hütte zu werfen, wird er von den zugenagelten Fenstern abgeschreckt, die ich unzerbrechlich gehext hab", versicherte Yuri ihm. „Ganz davon abgesehen hatte dieses Haus wirklich mal eine gründliche Reinigung nötig, in den Ecken hatte sich lauter Ungeziefer eingenistet, es war ganz schön schwer, die alle wegzukriegen. Ich möchte mal wissen, warum es so vergammelt gewesen war..."

„Und was ist das ?", fragte Harry und zeigte auf die blühende Frühlingswiese, die man von den Fenstern aus betrachten konnte.

„Das ist alles nur gehext, so wie die Decke von der Großen Halle", beschwichtigte sie ihn, „es ist nur eine Illusion."

„Ah", murmelte Harry und beobachtete ungläubig einen Schmetterling, der zwischen einem Gardinenspalt auftauchte. „Nun, ähm... ist es das hier, was du mir zeigen wolltest ?"

„Oh, nein", wehrte Yuri ab, „das ist oben, komm."

„Was ist denn mit dem Teppich ?", fragte Harry neugierig und sprang sorgfältig über ihn hinweg.

„Das ist eine Falle, falls jemand hierher kommt, der es nicht sollte", antwortete Yuri und musste grinsen, „wenn du auf den Teppich trittst, fällst du ersteinmal ein paar Meter in einen nicht gerade gut riechenden Sumpf und musst solange dort bleiben, bis ich komme. Unterdessen muss man zwangsweise mit ein paar anderen Wesen Bekanntschaft machen. Aber das Schlimmste daran ist, dass der Schlamm sabbernde Hühneraugen und manchmal auch eiternde Warzen veursacht, wenn- "

„Schon gut, mehr wollte ich gar nicht wissen", sagte Harry matt und ging den Korridor entlang, der ebenfalls gründlich gesäubert worden war. „Wann hast du das bloß alles

geputzt ?"

„Mit Haushaltszaubern geht das wie von selbst", sagte Yuri lässig und stieg die Treppe hinauf. An der ersten Tür rechts machte sie Halt und öffnete die Tür einen Spalt breit, sodass Harry hindurchblicken konnte.

Hätte er nicht gewusst, dass sie in der Heulenden Hütte waren, hätte es das Zimmer für Firenzes Klassenzimmer gehalten, denn genau wie dieses glich das Zimmer mehr einem Wald als einem Raum. Steine, Bäume und Büsche überwucherten den Waldboden, und von der Decke hingen unzählige Äste und Lianen. Allerdings stand in der hintersten Ecke des Zimmer ein leicht silbrig schimmerndes Einhorn, dass unruhig mit den Hufen scharrte.

„Ist das-", hauchte Harry und starrte das blendend helle Tier an. Mit einem Mal wurde ihm klar , was er auf seiner Anreise vom Hogwarts-Express und vom Turmfenster aus gesehen hatte.

„Darf ich vorstellen, das ist mein Einhorn Callida", flüsterte Yuri und beäugte es liebevoll.

„Warum versteckst du ein Einhorn in der Heuldenden Hütte ?", fragte Harry langsam, als Yuri die Tür wieder leise schloss.

„Weil es gejagt wird, sozusagen", antwortete sie energisch, „mein Vater wollte es verkaufen, sobald er erfahren hatte, dass ich sie besaß. Das war am ersten September."

„Also hast du es nach Hogwarts gebracht ?", schloss Harry.

„Erst hatte ich sie im Verbotenen Wald untergebracht, weil ich dachte, dort würde sie niemand finden", sagte sie, „aber als Bane mir gedroht hat, er würde sie töten, habe ich Angst um Callida bekommen und nach einem neuem Versteck gesucht."

„Woher wusstest du von der Heulenden Hütte ?", bohrte Harry nach.

„Das war reiner Zufall", antwortete sie, „ich bin in die Peitschende Weide geraten und als ich versucht habe, den Äste auszuweichen, bin ich immer weiter in die Enge getrieben worden, und schließlich an den Knoten gekommen, weil ich gestolpert bin."

„Dann warst du also gar nicht bei Grawp, sondern immer hier ?", fragte er kühl und sah sich in dem langen, erleuchteten Korridor um.

„Nein, ich war immer hier, bevor ich zu Grawp gegangen bin", protestierte Yuri, „mir macht es viel Spaß, mich um ihn zu kümmern, er ist nämlich im Grunde sehr liebenswürdig. Vielleicht ein bisschen schwer zu bändigen", fügte sie der Fairness halber hinzu, als Harry die Augenbrauen hochzog, „aber wenn man sein Vertrauen gewonnen hat, ist er viel gehorsamer."

Harry erwiderte nichts; selbst Hagrid hatte Grawp immer wieder verletzt, obwohl er sein Halbbruder war und ihm sogar das Leben gerettet hatte. Er glaubte nicht, dass Grawp jemals korrektes Englisch beherrschen würde, selbst wenn Dumbledore ihn täglich unterrichten würde.

„Warum will dein Vater Callida überhaupt verkaufen ?", fragte Harry.

Yuri seufzte laut und starrte auf den Fußboden. „Du weißt doch, dass ich nicht wirklich viel machen konnte, bevor ich vollständig geheilt war", erzählte sie, „und mit Callida bin ich nachts immer ausgeritten, obwohl ich das nicht hätte machen dürfen. Auch in den Nacht, als du-du mich gesucht hast, war sie mit mir im Wald. Außerdem bewahrt sie etwas sehr Wichtiges auf."

„Was denn ?", fragte Harry neugierig.

„Ich kann es dir zeigen, aber ich weiß selbst nicht, wozu man es braucht", entgegnete sie schulterzuckend und drückte die Klinke der Tür leise auf.

„Schon gut, ich bin's", sagte sie sanft, als sich das Einhorn ruckartig umdrehte und schnaubte, doch als es sah, dass es seine Besitzerin war, die auf ihn zukam, beruhigte es sich.

„Ganz ruhig, ganz ruhig", flüsterte sie und streichelte den prächtigen Kopf des Einhorns. „Du kannst ruhig herkommen", fügte sie zu Harry gewandt hinzu, der sich daran erinnerte, wie Professor Raue-Pritsche gesagt hatte, dass Einhörner die Hand eines Mädchens bevorzügen.

Langsam schritt Harry auf das silbrige Einhorn zu und behielt dabei seine Augen nicht aus den seinen.

„Hier, das ist es", sagte Yuri, zog Callida ihr Lederhalsband aus und reichte es ihm.

Harry entdeckte einen etwa walnussgroßen Anhänger, der wie ein hohles Herz aus Glas aussah, indem seltsam glitzernder Staub wirbelte. Als er sich näher darüber beugte, um den Wind, der in dem Herz zu herrschen schien, unter die Lupe zu nehmen, bemerkte er, dass sich in der Mitte des Hohlraumes ein winziges Baby befand, in weiße Laken eingewickelt. Außerdem schien das Herz eine unheimliche Aura zu umgeben, und Harry spürte, wie sein seltamer Zauber bis in seine Fingerspitzen kroch.

„Wer ist dieses Baby ?", wisperte er. „Ist es etwa dadrin eingeschlossen ?"

„Das Baby war ich", antwortete Yuri traurig, „dieses Herz hat sich aus dem glitzernden Staub entwickelt, als das Windherz zerstört worden ist. Ich weiß nicht, wozu es gut ist, oder ob es überhaupt zu irgendetwas gut ist, aber ich denke, also, ich habe die Theorie, dass dieses Ding die Kraft des Windherzes irgendwie-naja-aufgenommen haben muss, oder ? Ich meine, wenn es sich selbst zerstört hat, dann müsste seine Macht doch trotzdem erhalten bleiben, sie kann nicht einfach verschwunden sein. Aber leider weiß ich nicht viel über Wirbelzeiter, es ist kaum etwas über sie bekannt."

„Gibt es denn nirgends ein Buch darüber ?", fragte Harry ratlos.

„Es kann gut möglich sein, dass irgendwo eines existiert, in dem alle Geheimnisse über das Windherz geschrieben stehen", sagte Yuri und schien in die Ferne zu blicken. „Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wo es sein könnte, ehrlich. Es gibt zwar ein paar Bücher, in denen Wirbelzeiter erwähnt werden, aber das ist meistens nicht viel."

„Was weißt du eigentlich über deinen wirklichen Vater ?", fragte Harry, bevor er seine Worte überhaupt gewählt hatte; doch insgeheim war er froh draüber, dass er das, was ihm die ganze Zeit lang auf der Zunge gelegen hatte, endlich ausgesprochen hatte.

„Nichts", entgegnete sie schlicht.

„Gar nichts?", drängte Harry.

„Gar nichts", wiederholte Yuri nachdrücklich und schüttelte den Kopf. „Ich hoffe nur, dass er meine Mutter geliebt hat. Manchmal male ich mir aus, warum beide tot sind, und dann glaube ich immer daran, dass sie bei einem Umfall ums Leben gekommen sind."

„Jeder liebt", warf Harry ein und dachte verbittert an Sirius.

„Ja, das hoffe ich auch", stimmte sie ihm lächelnd zu und band Callida wieder ihr Lederhalsband um. „Nun, ich bin überzeugt, irgendwann werde ich wissen, wozu das Windherz gut ist; bis dahin wird es Callida beschützen", fügte sie hinzu streichelte ihr Einhorn, das wohlig schnaubte.

„Gehen wir?", fragte Yuri, als sie den Raum verlassen hatten.

„Nur noch eine Frage", sagte Harry rasch, denn ihm war etwas eingefallen. „Wie bist du in den Hogwarts-Express gekommen, wenn du auf Callida neben dem Zug geritten bist?"

„Das hast du also auch gesehen", sagte sie beeindruckt. „Tja, ich musste rechtzeitig apperieren, bevor der Zug in die Nähe des Hogwartsgeländes gekommen ist."

„Du kannst apperieren?", fragte er ungläubig.

„Mein Lehrer hat mir so gut wie alles beigebracht, was in meinem Alter widerrechtlich ist", entgegenete sie mit einem gequälten Lächeln. „Aber ich muss zugeben, manchmal ist es recht nützlich."

Als sie nach einiger Zeit wieder im Gemeinschaftsraum der Gryffindors standen und Yuri ihren Desillusionierungszauber aufhob, hatte Harry das Gefühl, sie schon seit Jahren zu kennen.

„Ein paar Stunden Schlaf kriegen wir noch", flüsterte sie mit einem Blick auf ihre kleine, silberne Uhr, die sie um ihr Handgelenk trug.

„Schlaf gut", sagte Harry und gähnte; erst jetzt spürte er, wie müde er war.

„Du auch", antwortete sie leise. „Ach, und noch eines", begann sie zaghaft, „das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen... was ist das eigentlich für eine Narbe, die du auf der Stirn hast? Sie ist mir heute morgen im Krankenflügel aufgefallen... Ist das die Acromantula gewesen?"

Harry hatte das Gefühl,jemand hätte ihm all seine Eingeweide hinausgesogen. Sie wusste nicht, wer er war? Hatte sie etwa nie den Tagespropheten gelesen?

Eigentlich müsste ich dankbar dafür sein, dachte Harry und spürte immer stärker Müdigkeit in sich aufkommen, die langsam auch auf seine Augenlider kroch.

„Morgen", murmelte Harry matt und schlurfte die Treppe zum Jungenschlafsaal hoch.

Der nächste Morgen brach hell und leicht kühl an. Einige Blätter waren bereits gelb gesprenkelt, und man konnte Hagrid dabei beobachten, wie er unermüdlich Holz hackte.

Harry fühlte sich müde und erschöpft, als er am nächsten Morgen aufwachte und mit Ron und Hermine zum Frühstück ging; Yuri war nirgends zu entdecken.

„Ich hab tierischen Hunger", kündigte Ron an und zog einen Teller mit herrlich duftendem Speck zu sich heran, der auch Harrys Appetit weckte und seine Müdigkeit auf wundersame Weise verringerte.

„Heute ist das erste Quidditchtraining der Saison, nicht?", fragte Hermine ein wenig steif. „Seht mal, da kommt die Post...", fügte sie hinzu und wandte den Kopf zur Decke, als zwei Eulen auf sie zugeflogen kamen; die eine hatte den üblichen Tagespropheten im Schnabel, den sie Hermine auf den Kopf fallen ließ,die andere hingegen ließ einen wichtig aussehenden Brief neben ihren Teller fallen.

„Was ist das denn?", wollte Ron verdutzt wissen, als Hermine ihn mit besorgter Miene öffnete. Während sie laß, wurde sie bleich und schluckte einen sichtlich unangenehmen Gedanken hinunter.

„Was ist los?", fragte Harry und nahm die Rolle Pergament entgegen, die sie ihm stumm reichte.

Auch Ron beugte sich über das Schreiben und gemeinsam lasen sie:

Sehr geehrte Miss Hermine Jane Granger,

wie wir zur Kenntnis nehmen mussten, haben Sie in Ottery St. Catchpole am frühen Morgen des dreizigsten Juli um vierzig Minuten nach eins einen Ganzkörperklammerfluch verwendet.

Wie Sie bereits wissen müssten, ist es minderjährigen Hexen untersagt, außerhalb der Schule zu zaubern, und bei mehrfacher Ausführung besagter Tätigkeit sehen wir uns gezwungen, Sie von der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei zu verweisen (Erlass zur Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger, 1875, Abschnitt C).

Wir bitten Sie daher, weiteres Zaubern außerhalb der Schule zukünftig zu unterlassen.

Hochachtungsvoll,

Mafalda Hopfkirch

Abteilung für unbefugte Zauberei

Zauberministerium

Harry gab Hermine das Pergament wieder zurück und goss sich dampfenden Pfefferminztee in seine Tasse ein.

„So einen hab ich auch mal bekommen", sagte er tröstend. „Solange du es nicht noch zweimal machst, ist das doch nichts Schlimmes, es ist bloß ein blöder Brief von diesem bescheuerten Ministerium-"

„Heißt du wirklich Jane mit zweitem Namen?", fragte Ron und unterdrückte ein Kichern. „Die Umbridge heißt auch so..."

„Hast du was dagegen?", fauchte Hermine und bekam wieder Farbe im Gesicht.

„Ich habe nichts dagegen", versicherte ihr Ron, „er ist immerhin besser als mei-"

Ron brach abrupt ab, seine Ohren färbten sich rosa und er schob sich hastig Speck in den Mund.

„Besser als deiner?", ergänzte Hermine mit einem überlegenen Grinsen. „Und der wäre?"

Ron tat so, als hätte er sie nicht gehört und schnitt sein Spiegelei sorgfältig in dünne Streifen, mit denen er kunstvoll seinen Speckhaufen bedeckte.

„Wie dem auch sei", fuhr Hermine unbeeindruckt fort und sah Ron nicht an, „nächste Woche beginnen die UTZ-Kurse. Weißt du schon, in welche du gehst, Harry?"

„Tja, ich denke mal in die, die man braucht, um ein Auror zu werden", erwiderte Harry achselzuckend, während er sah, dass Professor McGonagall die Zettel mit der Kursliste austeilte. Als sie an ihm vorbeikam, griff sie nach dem untersten Papier des Stapels und reichte es ihm wortlos.

„Danke", murmelte Harry und entdeckte am unteren Rand des Zettels eine handschriftliche Notiz:

Ich habe mir Ihre ZAG-Ergebnisse gründlich angeschaut, Potter, und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Ihnen je Freitags von acht bis zehn Uhr abends (Klassenzimmer für Verwandlung) Nachhilfe in Zaubertränke, Verwandlung und Zauberkunst gebe; in diesen Fächern müssen Sie es jeweils schaffen, in ein O eingestuft zu werden, sonst sehe ich keine Chance für Sie, ein Auror zu werden. Bis dahin bitte ich Sie, die grundlegenden Themen bis zur nächsten Woche Freitag zu wiederholen, damit wir sofort mit den Wiederholungen und Festigungen beginnen können. Und denken Sie immer daran: Es geht um Ihre Zukunft als Auror, also strengen Sie sich an und trödeln Sie nicht herum.

Harry schnaubte leise, als er den letzten Satz durchlas und dachte verbittert daran, wie es sein würde, wenn er jeden Freitag Abend in Professor McGonagalls Nachhilfestunde sitzen und mit Arbeit zugeschüttet werden würde-er kannte sie; diese Vorstellung ließ ihn in eine triste Stimmung verfallen. Als er Hermine und Ron davon erzählte, unterschieden sich ihre Reaktionen deutlich voneinander.

„Mein Beileid, Mann-Zusatzstunden bei der McGonagall...", sagte Ron mitfühlend und schüttelte ungläubig den Kopf, während er seinen eigenen Zettel studierte und ihn mit Toast bekrümelte.

Hermine warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wandte sich an Harry.

„Hör mal, das ist doch wirklich anständig von ihr", sagte sie energisch, „du hast eine Menge Arbeit vor dir, wenn du ein Auror werden willst, das ist kein Zuckerschlecken. Professor McGonagall ist wirklich nett, sie hat selbst schon genug am Hals, aber sie hilft dir trotzdem – gib dein Bestes, Harry!", fügte sie hinzu und stieß mit der Faust in die Luft, wobei sie Harrys Brille knapp verfehlte.

Harry antwortete nichts, sondern fühlte sich unwillkürlich an Professor McGonagall erinnert, als Hermine mit leuchtenden Augen ,die nur so vor Arbeitsmotivation glänzten, in die Ferne schaute und sich wahrscheinlich ausmalte, welche Bücher sie ihm als erstes auf den Nachttisch legen würde.

„Ich hoffe nur, sie gibt mir nicht noch zusätzliche Hausaufgaben auf", sagte Harry grimmig und sah auf seinem Zettel, dass Professor McGonagall ihm bereits kleine Punkte hinter die UTZ-Kurse gemacht hatte, die er belegen sollte. „Außerdem lässt mich Snape nie und nimmer in seinen Kurs, ich hatte nur ein E-"

„Ein E?", fragte Hermine aufgeregt. „Wie hast du das nur geschafft, Harry? Das ist ja wunderbar!"

„Keine Ahnung", entgegnete Harry. „Außerdem nimmt er nur Schüler in seinen UTZ-Kurs auf, die ein O haben. Ich hab nicht den Hauch einer Chance."

„Deshalb gibt dir Professor McGonagall ja auch Nachhilfeunterricht", sagte sie aufbrausend und wedelte mit dem Zettel vor seiner Nase herum, „wenn du dich anstrengst, wirst du vielleicht in ,Ohnegleichen' von Snape eingestuft!"

„Ha, ha", sagte Harry tonlos. „Nenn mir ein einziges Mal, wann Snape fair zu mir war. Ich kann mich ohnehin kaum konzentrieren, wenn er hinter meinem Rücken herschleicht und nur darauf wartet, mir eine Strafe aufzuhalsen oder Gryffindor Punkte abzuziehen."

„Deshalb gibt dir ja auch Professor McGonagall Nachhilfe", sagte Hermine nachdrücklich und ihre Augen funkelten vor Begeisterung, „du schaffst das, Harry! Ich denke, ich könnte dir jeden Samstag ein wenig Nachhilfe geben, was meinst du?"

„Nun mach mal halblang, Hermine", meldete sich Ron zu Wort, „darf er denn keinen freien Tag mehr in der Woche haben? Wozu ist das Wochenende da?"

„Er hat den Sonntag", sagte Hermine trotzig. „Ganz davon abgesehen kennt man keine Freizeit, wenn man ein richtiger Auror ist!"

„Moment mal, keine Freizeit?", wiederholte Ron langsam, als dachte er, er hätte sich verhört. „Ich will auch Auror werden-"

„Um Himmels willen, Ron, natürlich hat man als Auror auch mal einen freien Tag, aber man sollte schon einsatzbereit sein, wenn es wirklich mal brennt. Und wie willst du es eigentlich schaffen, ein Auror zu werden?", fügte sie spitz hinzu.

„Glaubst du, ich packe das nicht?", fragte er entrüstet.

„Naja, du hast nicht gerade Spitzennoten, und bist noch dazu nicht besonders fleißig", entgegnete Hermine abfällig, „ich glaube, in den letzten vier Jahren wurde keiner genommen, man muss wirklich gut sein."

„Falls ich Hilfe brauche, frage ich einfach Yuri, sie kann sowieso alles", sagte Ron mit einem überlegenen Blick und genoss es, wie Hermines Gesicht einen zornigen Ausdruck annahm.

Sie schnaubte wütend, vergrub ihr Gesicht in „Verwandlung für Fortgeschrittene" und würdigte Ron den ganzen Morgen keines Blickes.

Der Himmel war zwar den ganzen Vormittag makellos geblieben, doch ein kühler Wind zerzauste die Baumkronen der Bäume und spielte mit den wenigen Blättern, die leblos auf dem Boden lagen.

Nach der Mittagspause ging Harry mit Ron und Hermine, die immer noch nicht mit Ron redete, zu Vereidigung gegen die dunklen Künste. Vor dem Klassenzimmer stand bereits Yuri bei Dean Thomas und Seamus Finnigan, die mit ihr über Professor Lupin diskutierten.

„Er ist einfach cool", meinte Dean und fuchtelte mit seinem Zauberstab in der Luft herum, „er ist ein Werwolf, okay, aber Lupin war der beste Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste, den wir je hatten!"

„Weißt du noch, wie er Peeves das Kaugummi ins Nasenloch geschossen hat?", erinnerte sie Seamus und lachte genüsslich. „Das war einfach klasse."

Als Yuri Harry sah, lächelte sie und kam zu ihnen herüber, was Hermine sichtlich ärgerte. Sie starrte eine Rüstung an und tat so, als würde sie Yuri nicht bemerken; Harry sah jedoch, dass Hermine aus den Augenwinkeln jede ihrer Bewegungen scharf verfolgte.

„Kann ich mal kurz mit dir reden, Hermine?", fragte Yuri freundlich.

„Meinetwegen", entgegnete sie kalt und folgte ihr in eine Ecke des Korridors, „aber gleich fängt der Unterricht an, also beeil dich."

Harry sah, wie sich Hermines Miene aufhellte und sie schließlich munter plaudernd mit Yuri in das Klassenzimmer kam.

„Unsere letzte Stunde", bergrüßte sie Lupin in feierlichem Ton, „die nächste wird die des UTZ-Kurses sein. Ich habe hier eine Liste angefertigt mit den Schülern, die in den Kurs aufgenommen werden würden, wenn sie denn wollen-erfreulicherweise sind einige von euch dabei, viele haben wirklich gut abgeschnitten bei den ZAG-Prüfungen. Nun, ich werde die Liste herumgehen lassen", fügte er hinzu und reichte sie Dean Thomas, der begierig die Hand danach ausstreckte und einen leisen, triumphierenden Laut von sich gab, als er einen Blick auf sie warf; Harry nahm an, dass er aufgenommen worden war.

Als Ron die Liste mit einem Grinsen an ihn weitergab, sah Harry, dass Rons, Hermines und sein Name ebenfalls auf der Liste vermerkt waren, was ihn ein wenig aufheiterte.

„Ich dachte, es wäre ganz nett, in unserer letzten Stunde nocheinmal einen Irrwicht zu erledigen", sagte Lupin munter und deutete auf einen kleinen zerkratzten Schrank, der Harry vorher nicht aufgefallen war, da er in der hintersten Ecke des Klassenzimmers stand; in der Klasse hörte man begeisterte Zurufe und ein aufgeregtes Flüstern.

„Neville, weißt du noch, wie man einen Irrwicht verjagt?", fragte Lupin und grinste ihm zu.

„Ja", antwortete Neville fast herausfordernd, „mit Riddikullus."

„Sehr gut", lobte ihn Lupin und hob seinen Zauberstab, „mach den Anfang; eins-zwei-drei-LOS!"

Sterne aus seiner Zauberstabspitze schossen auf den kleinen, hübschen Holzgriff des Schrankes, und heraus fiel – nicht wenige schrien spitz, einige Mädchen kreischten schrill und machten einen großen Satz zurück – die Leiche von Nevilles Mutter, die ihn mit ihren leeren Augen anstarrte und ein Bonbonpapier in der linken Hand hielt, die Haut wirkte wie aus Wachs und spannte sich fest über ihre knochigen Hände, die verkrümmt und leblos auf dem Boden lagen.

Harry konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Hermine leise wimmerte und sich fest an Rons Arm klammerte, dessen Gesicht seltsam bleich geworden war.

Nevilles Augen weiteten sich angstvoll, sie glänzten vor Tränen und seine Miene verkrampfte sich unter dem Versuch, die Erscheinung weniger schrecklich aussehen zu lassen; kurze Zeit später hatte seine Mutter einen Hut an, auf dem ein ausgestopfter Geier thronte.

„NEIN!", schrie Neville zornig. „Riddikullus!"

Sofort verschwand die Leiche seiner Mutter, und an ihrer Stelle bäumte sich ein Knallrümpfiger Kröter auf, dessen Giftstachel gefährlich groß war.

Riddikullus!", japste Parvati Patil und schwang nervös ihren Zauberstab.

„Sehr gut, Parvati!", rief Lupin und verfolgte den Irrwicht, wie er hart gegen die Wand prallte. „Los jetzt, Yuri!"

Yuri nickte und sah den Knallrümpfigen Kröter ruhig an, der plötzlich wie von einer unsichtbaren Hand verzerrt wurde und einige Zeit nur als schwarze, undurchschaubare Masse vor ihr schwebte, bis sie sich schließlich zu regen begann, als Yuri sie immer noch verständnislos betrachtete und sich nicht rührte. Langsam löste sich die schwarze Masse auf, wurde fast durchsichtig und formte sich zu einem riesigen, leuchtenden Spiegel, in dem zwei weit geöffnete Augen erschienen und sie unverwandt anstarrten.

„Was ist das?", zischte Hermine angstvoll Ron zu, der den Mund offen hatte.

„Ein Spiegel", hauchte Ron kaum merklich.

„Ach tatsächlich?", fauchte Hermine und klang verärgert, da sie vergessen hatte, dass sie ja nicht mehr mit ihm redete.

Als der Spiegel jedoch zu reden begann, unterließ selbst Hermine eine bissige Antwort.

„Ich sehe nichts in deinem Herzen", flüsterte ein plötzlich erschienener Mund unter dem unheimlichen Augenpaar. Die Stimme war unangenehm stechend und ließ Harry schaudern.

„Hast du vor nichts Angst?", zischte die Stimme höhnisch und der Mund kräuselte sich zu einem Grinsen.

„Sieht ganz so aus", antwortete Yuri und sah den Spiegel genauso scharf an, wie er es bei ihr tat.

„Schön, dann glaubst du, du hast es verdient, einen Irrwicht in seiner wahren Gestalt zu

sehen?", fuhr er abfällig fort. „Dein Herz ist leer, Mädchen. Du bist bemitleidenswert."

„Da ist eine ganze Menge drin", widersprach Yuri, „aber du kannst es nicht sehen, denn deine Augen sehen nicht mehr als die Angst, deshalb bist du ein Irrwicht; die Seele eines Menschen besteht aus viel mehr als einzig und allein der Angst."

„Eine Hexe, die keine Ängste besitzt, ist kein richtiger Mensch", sagte der Spiegel höchnäsig.

„Und was bin ich dann?", warf Yuri mit hoch gezogenen Augenbrauen ein.

„Woher soll ich das wissen?", blaffte er sie an. „Noch keiner vor dir hat je einen Irrwicht in seiner wahren Gestalt gesehen... doch halt... einer hatte die Ehre...ah, ich erinnere mich..."

„Wer?", drängte Yuri und kam ihm sehr nahe, sodass ihre Nase fast an den Spiegel stieß.

„Das kann ich dir bedauerlicherweise nicht sagen", höhnte der Spiegel, „ich kann mich doch nicht an jeden dahergelaufenen Zauberer erinnern. Außerdem war es meine Großcousine Elizabeth, die sich in ihrer wahren Gestalt zeigen musste... armes Ding, muss fürchterlich peinlich gewesen sein. Obwohl, wenn man es recht bedenkt, sie ist ohnehin dabei gestorben... viel gemerkt haben muss sie nicht."

„Warum ist sie gestorben?", fragte Yuri.

„Weil derjenige die meiste Angst vor dem Tod hatte", antwortete er mit einem genüsslichen Unterton in der Stimme.

„Warum musste sich deine Cousine-", begann Yuri.

„Sie war meine Großcousine", verbesserte er sie und klang höchst pikiert.

„Warum musste sich deine –Großcousine –denn in ihrer wahren Gestalt zeigen?", fragte sie nachdrücklich. „Wenn es der Tod war, den die Person am meisten fürchtete, dann hätte sie doch sofort sterben müssen, nicht?"

„Seid still", zischte Lupin scharf, als Dean Seamus etwas ins Ohr flüsterte.

„Wir Irrwichte sind auch Lebewesen", antwortete der Spiegel verärgert, „manchmal wehren wir uns dagegen, uns in das zu verwandeln, was unser Gegenüber am meisten fürchtet, wenn es denn der Tod sein sollte."

„Jaah", murmelte Yuri, „natürlich, es gibt nur wenige, die nicht am Leben festhalten wollen... du hast recht."

„Genug der Fragen", sagte er und seine Augen blitzten gefährlich. „Es ist Zeit, dass du etwas fürchten lernst-"

Riddikulus!"

Professor Lupin war zwischen Yuri und den Spiegel gesprungen, den Zauberstab auf ihn gerichtet, der wie ein Wahnsinniger lachte und schließlich nach einem letzten, süffisanten Grinsen in unzählige Staubwölkchen zerfiel, die nacheinander verschwanden.

Sein Lachen hallte noch einige Zeit in dem Klassenzimmer, in dem Stille herrschte. Und dieses Mal war es nicht Harry, der von allen unverwandt angestarrt wurde –und doch fühlte er sich schlecht.