Nachhilfe
Am Nachmittag war es seltsam still im Gemeinschaftsraum der Gryffindors, denn alle zischten sich zwischen ihren Bücher- und Pergamentbergen hindurch nur hin und wieder etwas Unverständliches zu, wobei sie Yuri, die Harry gegenüber saß, argwöhnische Blicke zuwarfen. Harry tat sie von Minute zu Minute mehr Leid, wie sie trübsinnig am Tisch saß und nur halbherzig zu ignorieren versuchte, dass sie unablässig beobachtet wurde; mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den Harry nicht entziffern konnte, schrieb sie tief über eine Rolle Pergament gebeugt ihren Aufsatz für Verwandlung zu Ende. Hermine saß missgelaunt neben ihr, warf den herüberstarrenden Schülern empörte Blicke zu, schnaubte unüberhörbar deutlich und schien drauf und dran, ein paar Zweitklässern, die besonders angeregt miteinander flüsterten, eine Strafarbeit aufzuhalsen. Ron dagegen spielte eine Partie Zauberschach mit sich selbst und ließ die Springer die besiegten Figuren absichtlich auf Hermines Hausaufgabe schleifen, was sie zusätzlich reizte; sie war jedoch so wütend auf die hinüberschauenden Schüler, dass sie es nicht als allzu störend zu empfinden schien.
Doch als der vierte, vor Schmerzen aufschreiende Bauer über die Skizze eines Muggelrasenmähers rollte, riss ihr endgültig der Geduldsfaden.
„Wann wirst du endlich erwachsen, Ron?", blaffte sie ihn an und gab dem Bauer einen unwirschen Klaps, sodass er bis auf den Kaminvorleger rollte. „Du solltest lieber deine Hausaufgaben erledigen, anstatt deine Zeit sinnlos zu vertreiben. Wenn du so weitermachst, wirst du nie ein Auror werden können", fügte sie noch eine Spur giftiger hinzu.
Ron murrte etwas von wegen „Spielverderberin", zog jedoch widerwillig seine Hausaufgaben hervor. Ab und an tat er so, als würde seine Feder nicht mehr funktionieren und schüttelte sie schließlich wild mit den Armen rudernd über Hermines Pergament.
„Jetzt reicht es", knirschte Hermine zornig, „wenn du dich nur hergesetzt hast, um mich zu ärgern und zu stören, dann kann ich sehr gut auf deine Anwesenheit verzichten."
Sie schulterte ihre Tasche und rauschte zum Portraitloch davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Warum kannst du sie nicht einfach mal in Ruhe lassen?", sagte Harry ärgerlich, dem die Streitereien von Ron und Hermine allmählich auf die Nerven gingen.
Ron erwiderte nichts, sondern starrte nur auf seine tintenbespritzte Pergamentrolle und schrieb den nun endlich zweiten Satz seiner Hausaufgabe zu Ende.
Um sechs ging Harry mit Ron hinunter zum Quidditchfeld. Es war noch hell und der Wind war nicht allzu stark. Als sie den Rasen überquerten, kam ihnen Hagrid entgegen, der eine Unmengen von dicken Kordeln in den Armen trug; die Wunden in seinem Gesicht schienen halbwegs geheilt zu sein, wenigstens konnte Harry keinen klaffenden, blutigen Kratzer entdecken.
„Hallo, ihr beiden", begrüßte er sie lächelnd und legte die Kordeln auf dem Gras ab.
„Hi, Hagrid", antworteten Harry und Ron im Chor.
„Alles klar mit euch?", fragte er und sah sie prüfend an. „Scheinst nich' besonners gut gelaunt sein", fügte er an Ron gewandt hinzu.
„Na ja –ähm -kann schon sein, viel Arbeit im Moment, weißt du", nuschelte er und seine Ohren liefen rot an.
„So?", sagte Hagrid und hob seine buschigen Augenbrauen. „Ich dachte immer, das sechste Jahr sei richtig entspannend im Gegensatz zum fünften? Aber natürlich kann ich mich auch irren, schließlich hab ich's nich' so weit geschafft."
„Wie geht's Grawp?", fragte Harry.
„Bestens, bestens, macht große Fortschritte", antwortete Hagrid, „seit Yuri ihm Englischunterricht gibt-"
„Sie gibt ihm Englischunterricht?", brach es aus Harry hervor und Ron prustete verhalten.
„Yuri hat ihn schnell in den Griff bekommen, er hat fast mehr Respekt vor ihr als vor mir, würd ich sagen", sagte Hagrid, „hat 'n Händchen für Tiere."
„Allerdings", sagte Harry unwillkürlich und dachte schmunzelnd an ihr Einhorn Callida.
„Sie ist ein nettes Mädchen", meinte Hagrid anerkennend. „Na dann, ich muss noch zu den Re'ems und sie füttern, die Ratten reichen nich' aus, die verputzen die mit Lichtgeschwindigkeit. Wir sehn uns."
„Bis bald", riefen Harry und Ron ihm hinterher.
„Wofür wohl die Seile waren?", fragte Ron nachdenklich.
„Ich denke mal, er hat die Re'ems oder Thestrale damit dressiert oder am Koppelzaun angebunden, oder?", sagte Harry schulterzuckend. „Nichts besonderes."
Als die beiden auf dem Quidditchfeld ankamen, wartete bereits die gesamte Mannschaft erwartungsvoll auf der Bank im Umkleideraum. Die Creeveybrüder lieferten sich einen erbitterten Schwertkampf mit ihren Schlägern, während Yuri angeregt mit Ginny plauderte. Britney saß am Ende der Band und schaute sich gelangweilt um, als würde sie nach etwas Interessanterem als dem Fußboden suchen.
„Hallo", begrüßte sie Harry und ging zu der Tafel hinüber, um seine Spielstrategie zu erklären. „Colin, Dennis, könntet ihr jetzt mal euren Kampf abschließen? Aaah, pass auf-"
„Kein Problem, Harry!", sagte Colin und wich Dennis' schwungvollem Schlag aus.
„Wirklich überhaupt kein Problem!", bestätigte Dennis eifrig nickend und versetzte Colin noch einen letzten Stoß in die Rippen, der ihm diesen mit einem Schlag auf den Kopf heimzahlte.
„Accio Schläger!", rief Harry und fing die beiden Holzkeulen auf. „Ruhe jetzt, sonst können wir den Quidditchpokal gleich vergessen."
„Knirpse", murmelte Ron verächtlich und ließ sich neben Ginny auf die Bank fallen.
„Tut uns Leid", antworteten Colin und Dennis mit schuldbewussten Gesichtern im Chor.
Harry seufzte und holte seinen Zauberstab hervor, dann tiptte er dreimal gegen die alte Schiefertafel und sofort erschienen vierzehn leuchtende Punkte, je sieben grün und die restlichen rot.
„Also, die grünen Punkte sind die Slytherins –"
„Wieso ausgerechnet die Slytherins?", fragte Dennis laut.
„Das ist die erste Begegnung", sagte Harry und reichte ihm den Spielplan, den auch Colin begierig beäugte.
„Nun, wie ich schon sagte, das sind die Slytherins, und die roten Punkte sind folglich wir", erklärte er und stupste einen grünen Punkt zur Seite, der versuchte, einen roten aus dem Spielfeld zu werfen, das mit weißen Strichen eingegrenzt war.
Bis zum Abendessen war Harry damit beschäftigt, der neuen Mannschaft die neue Spielstrategie zu erläutern, und als er schließlich mit Ron und Hermine am Haustisch der Gryffindors saß, hatte er das Gefühl, für das erste Mal war es gar nichts so schlecht gelaufen wie es hätte sein können.
„Meinst du nicht, wenn der Jäger von rechts kommt, sollte man besser nach unten ausweichen und dann erst passen?", fragte Ron, als er und Harry die Strategie beim Essen besprachen, während Hermine, die immer noch recht steif mit Ron umging, schweigend ihre Salatblätter aufgabelte und sich nicht am Gespräch beteiligte.
„Wir werden sehen", antwortete Harry und schnitt ein Stück von seinem Rumpsteak ab, „ich hoffe, dass die drei schnell genug für die andere Variante sind. Wenn sie das schaffen, sind wir auf jeden Fall im Vorteil."
„Hast du dich schon auf morgen vorbereitet, Harry?", meldete sich Hermine zu Wort.
„Auf was vorbereitet?"
„Die Nachhilfestunden bei Professor McGonagall", sagte Hermine vorwurfsvoll. „Du solltest doch den grundlegenden Stoff wiederholen, den wir gerade behandeln, damit ihr gleich anfangen könnt-"
„Er musste doch die neue Spielstrategie entwerfen", warf Ron ein, „immerhin ist er der Mannschaftskapitän, da muss man seine Pflichten eben erfüllen, jetzt wirf ihm das nicht vor."
Hermine tat so, als hätte sie Ron nicht gehört und sah Harry weiter mit hoch gezogenen Augenbrauen an.
„Also?"
„In Ordnung, ich hab nichts wiederholt, ist es das, was du hören willst?", fauchte Harry.
„Nein, das ist es nicht", entgegnete Hermine entrüstet, „du strengst dich kein bisschen an-"
„Aha, so, so, ich hänge also den ganzen Tag nur faul herum und tue nichts", sagte Harry hitizg.
„Das habe ich nicht gesagt!", sagte Hermine verärgert, „ich meine doch nur, dass du dich wenigstens ein bisschen bemühen solltest, besser zu werden, immerhin opfert Professor McGonagall ihre wertvolle Freizeit für dich -"
„Wie nett von ihr", sagte Harry kühl.
„Weißt du was, vergiss die Nachhilfestunden am Samstag", erwiderte Hermine wütend, „wenn dir nichts daran liegt –ich will dich zu nichts zwingen, ich wollte dir nur helfen. Aber wenn du meine Hilfe nicht würdigst, brauchst du sie anscheinend nicht -"
Harry machte empört den Mund auf, doch Ron war schneller.
„Jetzt komm mal wieder auf den Teppich, Hermine", sagte er behutsam und blickte sie ein wenig flehend an, da sie im Begriff schien, zornig hinauszustürmen, „Harry hat im Moment eben viel um die Ohren, und wir schätzen deine Hilfe –wirklich", fügte er nachdrücklich hinzu, als Hermine innehielt und ihn anstarrte. „Harry hat doch gar nicht gesagt, dass er deine Hilfe nicht will, aber du musst schon zugeben, dass es echt hart ist... Zusatzstunden mit der McGonagall und jeden Samstag Nachhilfe bei dir -"
„Was soll das denn heißen?", fragte Hermine bissig.
„Na, hör mal, einen grausameren Wochenplan hätte man Harry nicht aufhalsen können."
Hermine konnte nicht anders als zu grinsen und wandte sich wieder an Harry.
„Aber jetzt mal im Ernst", sagte Hermine energisch, als wäre nichts gewesen, „nächste Woche solltest du vorbereitet sein!"
„Schon gut, ich werd's versuchen", sagte Harry matt und nahm einen Schluck Tee.
Hermine wirkte höchst zufrieden und holte ihre Tasche hervor, aus der sie ein verstaubtes, stark mitgenommen aussehendes dickes Buch heraushievte.
„Ich muss nur mal schnell in die Bibliothek", sagte sie und stand auf, „ich muss das heute zurückgeben, Madam Pince wartet schon darauf, sie will es unbedingt putzen. Nicht, dass das Teil es nicht nötig hätte, aber ich war noch nicht ganz fertig damit. Ich komme gleich wieder, ja?"
„Geht klar", sagte Ron und sah Hermine nach, als sie auch schon hinter einer Gruppe Hufflepuffs verschwand. „Sie ist ziemlich reizbar im Moment, findest du nicht auch?", fragte Ron nachdenklich und schlürfte seinen Tee so laut, dass ein paar ziemlich jung wirkende Hexen zu ihm hinüberstarrten und empört flüsterten.
Harry nickte. Er hatte es überhaupt nicht bemerkt, aber es stimmte, dass Hermine im Moment gern in die Luft ging, wenn man sie reizte oder störte.
„Ehrlich gesagt, ich hab nicht die geringste Ahnung, woran das liegt", sagte Ron ratlos.
„Ihr beide versteht einfach nichts von den Gefühlen eines Mädchens."
Ginny hatte sich auf Hermines leeren Platz gesetzt und hielt ihren halb geleerten Frühstücksteller in der Hand, den sie nun abstellte.
„Na und?", fauchte Ron, „was kann ich dafür, wenn sie sich so komisch verhält?"
„Hab ich das gesagt?", fragte Ginny gereizt.
„Nein", entgegnete Ron nun ein wenig kleinlauter, „also, warum ist sie im Moment so leicht reizbar?"
„Nun, Hermine weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Sie sitzt sozusagen zwischen zwei Stühlen, auf dem einen würde sie lieber sein, aber wenn sie sich nicht auf den anderen setzt, geht er vielleicht kaputt...oder so... hmm... dieser Vergleich ist wahrscheinlich doch etwas zu unpassend... hat sie euch denn nichts von dem Brief erzählt?", fragte Ginny verdutzt. „Obwohl, ist ja eigentlich klar", fügte sie hinzu und warf Ron einen flüchtigen Blick zu.
„Was für ein Brief denn?", fragte Harry neugierig. „Meinst du den vom Ministerium? Deshalb muss man doch wirklich nicht so schlecht drauf sein."
„Ministerium?", fragte Ginny vollkommen verwirrt, „was für ein Brief vom Ministerium?"
Harry schluckte. Mrs Weasley hatte ihnen verboten, Ginny von Wurmschwanz zu erzählen, doch nun hatte er sich verplappert, und ihm war klar, dass sie es ihnen nicht abnehmen würde, wenn sie ihr sagen würden, es wäre eine Werbebroschüre für Arbeitsplätze im Ministerium gewesen. Harry entschied sich für die Wahrheit und erzählte Ginny leise,was sich in jener Nacht ereignet hatte.
„Aber erzähl es bloß nicht deiner Mum, sie würde mich köpfen", schloss Harry.
„Keine Frage", sagte Ginny und zog eine Schnute. „Das ist ja typsich, ich bin wieder mal das kleine Baby und darf nicht mal erfahren, wenn ein Todesser bei uns einbricht... aber das Hermine wirklich außerhalb der Schule zaubern würde, hätte ich nie im Leben von ihr gedacht -"
„Ich auch nicht", bestätigte Harry.
„Was ist jetzt mit diesem Brief?", hakte Ron nach. „Wir haben dir vom Ministeriumsbrief erzählt, du erzählst uns von diesem Brief. Das ist doch ein fairer Handel, oder?"
„Nicht so fair, wie du denkst", entgegente Ginny mit einem künstlichen Lächeln, „ich kann euch auf gar keinen Fall davon erzählen, sonst wäre Hermine für immer und ewig sauer auf mich."
„Jetzt sei nicht so egoistisch", drängte Ron. „Hermine braucht ja nicht zu wissen, dass du uns davon erzählt hast."
„Ich hab's ihr versprochen", widersprach sie bestimmt, „es ist ihre Angelegenheit."
„Ihre Angelegenheit", äffte Ron sie verächtlich nach, „das hast du damals beim Weihnachtsball auch gesagt, und was war? Sie ist mit diesem Idioten zum Ball gegangen, und wenn du es mir gesagt hättest, dann hätte ich es ihr noch ausreden können. Das war alles deine Schuld."
„Was bitte?", sagte Ginny empört. „Es ist doch deine eigene Schuld, wenn du zu blöd bist um zu erkennen, dass sie ein Mädchen ist."
„Entschuldige mal, ich weiß schon von der ersten Minute an seit ich sie kenne, dass sie ein Mädchen ist", knurrte Ron, „so dumm bin ich nun auch wieder nicht."
„Ach wirklich?", sagte Ginny gehässig und ihre Augen funkelten gefährlich. „Warum hast du sie dann nicht gefragt, ob sie mit dir zum Ball kommen will?"
„Ich wusste ja nicht, ob sie wollte", nuschelte Ron.
„Tja, wenn du sie gefragt hättest, dann hättest du es gewusst", entgegnete sie mit einem überlegenen, kalten Blick und rauschte davon.
Ron saß etwas wortkarg vor seinem Teller und schob seine Sesamkrümel darauf hin und her, und bevor Harry etwas sagen konnte, kam Hermine wieder durch die Tür der Großen Halle gehastet und setzte sich schwer atmend.
„Entschuldigt, Madam Pince wollte unbedingt, dass ich ihr noch alle Bücher aufzähle, die ich ausgeliehen hab, weil sie meine Liste verlegt hat", sagte sie entschuldigend.
„Kein Problem", sagte Harry, „wir haben uns in der Zwischenzeit mit Ginny unterhalten."
„Was ist los mit dir, Ron?", fragte Hermine verdutzt. Ron, der sie unentwegt angestarrt hatte, murmelte ein undeutliches „Nichts" und wandte sich schnell zur Seite.
„Also, gehen wir in den Gemeinschaftsraum?", fragte Harry rasch und zog seine Tasche hervor.
Im Gemeinschaftsraum ging es wie immer laut und wild zu. In einem Sessel sah Harry Yuri sitzen, die Nase in einem dicken Wälzer vergraben, und mit einem unangenehmen Stich erinnerte er sich daran, dass er ihr gesagt hatte, er würde ihr heute erzählen, was es mit seiner Narbe auf sich hatte. Als er Ron und Hermine davon erzählte, prustete Ron los.
Hermine warf ihm einen empörten Blick zu. „Keine Sorge, Harry, ich mach das schon. Kümmere du dich lieber um die Nachhilfestunden bei Professor McGonagall", sagte Hermine würdevoll und ging davon.
Harry stöhnte und schlurfte zu einem freien Tisch in der Ecke des Gemeinschatfsraumes, wo er, was seine Stimmung noch ein wenig weiter sinken ließ, einen Stapel von Hermines Ordnern entdeckte, die durch die Last ihrer Notizen jeden Moment auseinanderzufallen drohten. Sie waren beschriftet mit „Zaubertränke – Jahr 5 und 6" und „Verwandlung mit Säugetieren".
„Du hast immerhin noch das Quidditch-Training", tröstete ihn Ron als Harry begann, widerwillig den Deckel eines besonders vollgestopften Ordners aufzuschlagen. „Und außerdem hat Hermine dir nur zwei Ordner gegeben. Ich weiß, dass sie noch viel mehr von den Dingern hat."
„Jaaah", sagte Harry und versuchte mit aller Kraft, sich auf Hermines detailreiche Notizen zu konzentrieren, die sie durch die unzähligen Randanmerkungen und zusätzlichen Worterläuterungen nicht gerade einfacher gestaltet hatte.
„Tja, ähm –ich geh dann mal hoch in den Schlafsaal", sagte Ron, dem es sichtlich unangenehm war, keine Arbeit zu haben, während Harry über dicken Ordern brüten musste.
Harry nickte kaum merklich und schlug die Seite um. Wort für Wort, Zeile für Zeile las er sie durch, und dabei strömten Bilder aus dem Unterricht und den missglückten Verwandlungsversuchen an ihm vorbei... seine Augenlider fühlten sich immer schwerer an... ein gefährlich rotschimmernder Zaubertrank wurde immer größer... Snapes zischendes Flüstern schien plötzlich in seinem Kopf widerzuhallen... oder war es doch die Stimme eines anderen? Harry kannte sie... diese kalte, spitze Stimme...
„Ich will nicht länger warten, Bella. Ich muss das Risiko eingehen, um wieder dort zu sein, wo ich hingehöre."
„Oh nein, nein, eure Lordschaft, nie sollt Ihr länger warten als nötig–"
„Willst du damit sagen, ich habe noch zu warten? Ich bin stark genug, meine Kraft ist unvorstellbar."
„Niemals habe ich das angezweilfelt, Herr", sagte Bellatrix und verbeugte sich. Dann hob sie wieder ihren Kopf. „Dennoch... wenn es in Eurem Besitz wäre, dann ist Eure Macht-"
„Grenzenlos?", zischte Voldemort und fuhr mit einem der langen, weißen Finger über seinen Zauberstab. „Nun, dazu muss sie ersteinmal aus dem Weg geräumt werden; und das ist das Problem."
„Ich weiß, dass Eure Lordschaft ihren Schwachpunkt erkennen wird", sagte Bellatrix und setzte ein wahnsinniges Grinsen auf.
„Ich kenne ihn bereits", antwortete Voldemort kalt.
„Welcher ist es?", fragte Bellatrix spitz und weitete ihre Augen.
„Sofort habe ich es gespürt. Als ich wusste, wer sie ist... und dass sie lebt. Diese Sorte von Menschen sind eben alle gleich, Bella."
„Woher aber die Verbindung?", hakte sie nach.
„Stell lieber nicht zu viele Fragen", entgegnete Voldemort kühl. „Aber diese letzte werde ich dir noch gewähren, auch wenn du es eigentlich nicht verdient hast. Nun, das liegt ganz einfach daran, dass sie-"
„Harry!"
Harry schaute von den Ordnern, auf denen er eingeschlafen sein musste, auf und blickte in Rons verstörtes Gesicht.
„W-was ist?", stammelte er und schüttelte sich den Kopf.
„Hattest du wieder Albträume, Mann?", fragte Ron und legte ihm vorsichtig den Arm auf die Schulter. Er hatte bereits seinen Pyjama an und hielt einen Laterne in der freien Hand, die nun ein wenig zitterte. „Hast du wieder D-Du-weißt-schon-wer gesehen?"
„Ja, ich habe gehört, was er gesagt hat", antwortete Harry langsam und versuchte, sich das Bild in Erinnerung zu rufen, „er hat mit Bellatrix gesprochen. Voldemort will irgendwas haben, das ihm unendliche Macht verleiht... und es muss jemand aus dem Weg geräumt werden..."
„Du?", flüsterte Ron angstvoll.
„Nein", sagte Harry, „er hat gesagt sie..."
„Wer soll das sein?"
„Keine Ahnung", entgegnete Harry und stand auf.
„Ich glaube, du brauchst ein wenig ruhigen Schlaf", sagte Ron klappte den Ordner zu.
„Vielleicht-vielleicht sollte ich doch Okklumentik lernen... ich meine...", sagte Harry verstört, während er neben Ron die Treppe zum Schlafsal hochstieg. „Aber wenn Dumbledore nicht da ist-"
„Was?", entfuhr es Ron und sein Gesicht nahm einen empörten Ausdruck an.
„Ja", bestätigte Harry heftig nickend, „eigentlich hatte er versprochen, mir Unterricht zu geben, aber er scheint nicht da zu sein."
Mit einem schmerzhaften Stich erinnerte sich Harry an das Gespräch zwischen Professor McGonagall und Dumbledore, das er heimlich belauscht hatte, doch er brachte nicht die Kraft auf, Ron nun davon zu erzählen, sondern ließ sich stattdessen auf sein Bett fallen und zog den Umhang zu.
Doch einschlafen konnte er selbst nach zwei weiteren Stunden nicht, denn auf seinem Kissen hatte ein Stück Pergament gelegen, auf dem mit ihm einer wohlbekannten, eng verschlungenen Handschrift geschrieben stand:
Ich werde mein Versprechen nicht brechen, doch bis ich es einlösen kann, wird jemand anderes für mich einspringen müssen, der mir, wovon ich überzeugt bin, in Okklumentik in Nichts nachsteht. Selbe Zeit, Klassenzimmer für Verwandlung. Sei vorsichtig.
P.S:. Mrs Figg erwartet deine Eule. Aber nimm Fawkes, Hedwig könnte abgefangen werden. Er wartet in der Eulerei auf dich.
„Ron?", flüsterte Harry schließlich und lugte durch den Spalt seines Umhangs. Er wusste, dass Ron schon schlief, doch er fand keine Ruhe um schlafen zu können.
„Wasch isch denn?", murmelte Ron und Harry konnte sehen, wie er sich in seinem Bett mit geschlossenen Augen umdrehte und in der Luft herumfuchtelte, als ob ihn eine Fliege am Schlafen hindern würde.
„Dumbledore hat mir geschrieben", sagte er und kletterte aus seinem Bett zu Ron hinüber.
Mit kleinen Augen tastete Ron nach seinem Zauberstab, nuschelte ein „Lumos" und ließ seine Augen über das Pergament gleiten. Wort für Wort wurden seine Augen größer, bis sie schließlich ihre normale Größe erreicht hatten und fragend auf das Pergament starrten.
„Meinst du, es ist wieder Snape?", fragte Harry bitter.
„Könnte sein", antwortete Ron achselzuckend. „Immerhin vertraut Dumbledore ihm. Und was soll das heißen, Mrs Figg erwartet deine Eule?"
„Ich hab dir doch von ihr erzählt", flüsterte Harry zurück, „das mit der Squib-Kraft, weißt du noch?"
„Jaaah", sagte Ron langsam.
„Ich habe ganz vergessen ihr zu schreiben", meinte er schuldbewusst, „aber ich hab wirklich keine Ahnung, wer es sein sollte."
„Harry, bist du blind?", fuhr Ron ihn plötzlich eine Spur zu laut an. „Yuri!"
„Yuri?"
„Sie beherrscht den Avada Kedavra-Fluch! Sie kann andere in Sekundenschnelle heilen, ist in jedem Fach die beste, und sie kann diesen Firmate-Zauber auch noch! Hermine hat doch gesagt, dass den kaum einer schafft!", sagte Ron aufgebracht. „Sind das keine Beweise?"
In Harrys Gehirn schien sich etwas zu verknoten –sollte es tatsächlich Yuri sein?
„D-doch, schon", murmelte Harry und wollte gerade nach seiner Feder suchen, um Mrs Figg zu schreiben, als Ron „Nox" flüsterte.
„Das hat bis morgen Zeit", meinte er ausgelassen und zog seine Decke bis zur Nasenspitze hoch. „Gute Nacht."
Der nächste Morgen brach frisch und hell an, was einer der Gründe dafür war, dass es Harry besonders schwer fiel, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, auch wenn es heute recht aufregend war, denn jeder Lehrer hatte sich für seine letzte Stunde etwas ganz besonderes ausgedacht.
Hagrid schoss weit über das Ziel hinaus, als er ihnen strahlend ein Chimärababy vorführte, dass sie streicheln sollten (was aufgrund seiner stark ausgeprägten Fangzähne, die es ihnen ins Bein versenken wollte, allerdings ein wenig schwierig war). Jedoch war diese Stunde eine gute Gelegenheit dazu, Hermine von der Nachricht zu berichten, die Dumbledore letzte Nacht auf Harrys Kopfkissen hinterlassen hatte („Was? Yuri?", zischte Hermine mit aufgerissenen Augen, als ob sie sich verhört hätte. „Diese Kraft ist doch völliger Unsinn, und das wisst ihr auch." )
Professor Flitwick brachte ihnen einen Käfig voll von fliegenden Süßigkeiten mit, die sie mit dem Aufrufezauber zu sich holen konnten; Ron hatte am Ende der Stunde die meisten Süßigkeiten beisammen, jedoch nur, weil er Hermine die Hälfte ihres Haufens geklaut hatte, als sie damit beschäftigt gewesen war, Neville zu zeigen, wie man die Bewegung mit dem Zauberstab richtig machte.
„Seltsam, ich hatte mir eingebildet, viel mehr eingefangen zu haben", meinte Hermine verwirrt und besah sich prüfend ihrer Ausbeute.
„Tja, sieht aus, als ob ich schneller gewesen wäre", spottete Ron und biss das Ende einer Lakritzstange ab. „War jedenfalls eine super Stunde, findet ihr nicht auch ?"
„Kahn man schagen", schmatzte Harry nickend, während Hermine beleidigt schwieg.
„Ach, nun komm schon, Hermine", sagte Ron gut gelaunt, „was ist so schlimm daran, dass du ein einziges Mal nicht die Beste warst ?"
„Was haben wir jetzt ?", fragte Harry, als er den Erdbeergeschmack-Marshmallow hinuntergeschluckt hatte.
„Verwandlung", entgegnete Hermine und nickte zu der Tür des Klassenzimmers hinüber.
Professor McGonagall zeigte ihnen, wie man Sitzkissen in Flubberwurmschleim verwandelte, bis Seamus Finnigan mit seinem Zauber den Fußboden traf und sie es vorzog, den Rest der Stunde damit zu verbringen, feste Gegenstände für eine halbe Stunde und siebenunddreißig Sekunden zu vergolden. Am Ende des Unterrichts glänzten selbst Harrys Schuhe golden, und Ron zeigte ihnen begeistert seine goldenen Schachfiguren.
„Cool, was ?", sagte er und ließ das Pferd auf seiner Handfläche umhertraben.
„Nun ja, es ist nicht besonders schwer, so kleine Gegenstände zu vergolden", entgegnete Hermine schnippsich, die Rons Begeisterung offensichtlich nicht ganz teilen konnte.
„Was du nicht sagst", erwiderte Ron und blickte finster auf den Tisch und das Dutzend Stühle, die Hermine innerhalb von fünf Minuten dazu gebracht hatte, golden zu glänzen.
„Los, es gibt Mittagessen", warf Harry rasch ein und trat zur Tür.
„Potter, kommen Sie doch bitte für einen kurzen Moment zu mir herüber", ertönte plötzlich Professor McGonagalls harte Stimme, als Harry gerade im Begriff war, im Türrahmen zu verschwinden.
„Ja, Professor ?"
„Sie haben unseren Termin nicht vergessen ?", fragte sie mit ihrer strengen Stimme und zog die Augenbrauen leicht hoch, als ob sie erwartete, Harry würde den Kopf schütteln.
„Nein", antwortete Harry wahrheitsgemäß.
„Gut", sagte sie und stand auf. „Ich hoffe, Sie haben die Wiederholungen bereits angestellt ?"
„Ähm, ja", entgegnete Harry und dachte schuldbewusst daran, dass er es wohl nicht getan hätte, wenn Hermine ihn nicht dazu gezwungen hätte. „Gestern Abend habe ich gelernt."
„Ein Glück für Sie, dass Miss Granger sich um Ihr Wohl sorgt", sagte Professor McGonagall milde lächelnd und hielt ihm die Tür auf.
