Die zweite Runde

In der folgenden Woche schien sich das Wetter der Stimmung zwischen Ron und Hermine angepasst zu haben. Der Himmel war von grauen Wolken überdeckt, die nicht dazu bereit schienen, den Sonnenstrahlen wenigstens einen Spalt am Himmel zu lassen, ununterbrochen hämmerte der Regen gegen die Fensterscheiben, und des öfteren hörte Harry ein Donnern über das Schloss hinwegrauschen.

Snape hatte ihn seit dem ersten Mal nicht mehr gemahnt, denn Harry hatte damit begonnen, jeden Abend für Zaubertränke zu lernen, auch wenn er noch so müde war und sein Bett nach ihm zu rufen schien. Harry wusste selbst nicht, woher er diesen Ehrgeiz nahm, sich jeden Abend erneut durch den Zaubertränkestoff zu quälen, doch er vermutete, es war wohl eher Trotz als Fleiß, der ihn dazu veranlasste.

Am Mittwochabend kamen alle DA-Mitglieder gespannt in den Raum der Wünsche, der wie beim letzten Mal einer riesigen Marmorhalle ähnelte, und belegten die besten Plätze in der ersten Reihe, um möglichst nah am Geschehen zu sein. Als Harry, Ron und Hermine in die Halle traten, kam ihnen Hannah Abott eiligen Schrittes entgegen.

„Hört mal, Justin kann heute nicht kommen", teilte sie ihnen flüsternd mit, „seine Mutter heiratet heute zum zweiten Mal und er musste vor einer Stunde abreisen. Ich soll euch von ihm ausrichten, dass es ihm furchtbar Leid tut, aber er kann seine Mum nicht einfach so sitzen lassen, versteht ihr?"

„Schon klar", sagte Harry. „Hermine, kannst du die Paare auslosen ?" fügte er hinzu und nickte zu der Kiste hinüber, die unberührt auf einem steinernen Tisch stand.

„Natürlich", antwortete Hermine und ging schnurstracks an Ron vorbei, um den Kasten zu holen.

„Sind sonst alle da?", fragte Harry und zählte die Anwesenden leise durch. „Jaah..."

„Natürlich sind sonst alle da", bemerkte Zacharias Smith mit einem genervten Seufzen, „oder meinst du, unsere Eltern heiraten alle Tage wieder einen anderen ?"

„Wie witzig, Smith", spottete Ginny und warf ihm einen garstigen Blick zu.

„Okay, die Paare stehen fest", eröffnete ihnen Hermine und schon sausten zehn weiße Zettel durch die Luft, die ebenso schnell aufgefanegn wurden.

Harry faltete seinen Zettel auf und las: Ginny. Als er zu Ron schaute, bemerkte er, wie seinen Augen gefährlich glitzerten. „Wen hast du..."

„Michael Corner", sagte Ron mit einer Stimme, als hätte er den Hauptgewinn gezogen. „Dem werd ich's zeigen-"

„Auf einen fairen Kampf", sagte eine verträumte Stimme hinter Harry. Er drehte sich um und sah, wie Luna Hermine überflüssigerweise ihren Zettel zeigte. „Ich habe dich gezogen."

„Ohähm – schön", entgegnete Hermine mit einem schwachen Lächeln. Sie wandte sich ab und hexte die Tafel hervor, auf der sie die Gegner aufführte.

Harry blickte auf und las:

DUELLIERWETTKAMF / RUNDE ZWEI – DUMBLEDORES ARMEE

Colin – Neville

Ron – Michael

Hermine – Luna

Yuri – Susan

Ginny – Harry

„Du bist Neville Longbottom, nicht wahr ?", quiekte Colin aufgeregt und schüttelte Neville heftig die Hand. „Wir sind die ersten, hast du gesehen? Hast du gesehen?"

„J – ja", antwortete Neville, der ein wenig peinlich berührt wirkte.

„Colin und Neville bitte auf das Feld", sagte eine Achtung heischende Stimme, die Colin verstummen ließ. Hermine hatte ein Megafon in der Hand, sowie eine überdimensionale Trillerpfeife im Mundwinkel stecken (Harry wunderte sich, wo sie diese Utensilien gefunden hatte) und genoss es sichtlich, die anderen herumzukommandieren.

Neville kletterte ein wenig ungeschickt über das Geländer vor den Sitzplätzern und ließ sich auf das Kampffeld plumpsen, wobei er Marietta eine dichte Staubwolke ins Gesicht blies

( „Haaaatschiiiiiiiie!" ).

„Bereit?", rief Hermine und nahm die Pfeife aus dem Mund. „Eins, zwei, drei !" Mit einem ohrenbetäubenden Trillern eröffnete Hermine den ersten Kampf.

Expilliarmus!", presste Colin zwischen den Zähnen hervor und fuchtelte wild mit seinem Zauberstab herum. Sofort flog Neville sein Zauberstab aus der Hand, doch er hechtete mit vor Anstrengung verzogenem Gesicht hinterher und erwischte ihn kurz bevor sein Fuß die glitzernde Linie berührte. Hastig stolperte er zurück und schwang seinen Zauberstab.

Stupor!"

Colin machte einen Satz nach rechts und landete mitten in den Klauen eines Hippogreifs, wobei sich einer dessen gefährlich spitzer Fangzähne in seinem Umhang bohrte, sodass Colin hilfslos in der Luft strampelte.

„STUPOR!"

Harry konnte nur noch sehen, wie Colin in letzter Sekunde seinen Zauberstab gehoben hatte, und Neville im selben Augenblick ebenfalls einen Zauberspruch abgefeuert hatte. Nun lagen beide laut stöhend am Boden und krochen zu den Sitzplätzen hinüber, wo jeder zwei Sessel in Anspruch nahm, um sich darauf zu legen.

„Tjaähm – der Sieger ist-", kündigte Hermine hilflos an.

„Keiner", beendete Yuri ihren Satz und lachte.

„Ähm, n - nun ja", stammelte Hermine und sah zu Neville und Colin hinüber, die nun zwei plötzlich erschienene Kürbissäfte schlürften, „in Ordnung... und jetzt weiter." Sie warf einen Blick auf die Tafel und ihr Blick verfinsterte sich. „Michael und sein Partner"sagte Hermine steif ohne auf das Feld zu blicken.

Ron stand bereits auf seiner Seite und hatte seinen Zauberstab gezückt. Harry fand, er glich einem hungrigen Raubtier, das nur darauf wartete, seine Beute endlich in die Fänge zu bekommen. Michael Corner blickte Ron verständnislos an und hob ebenfalls seinen Zauberstab. „Eins, zwei, drei", sagte Hermine gelangweilt und ließ ein schwächlichs Pfeifen ertönen.

Eine Weile liefen Ron und Michael abwechselnd nach links und rechts, anscheinend, um die richtige Position zu suchen, ließen sich dabei jedoch nicht aus den Augen. Kaum hatte Harry jedoch geblinzelt, schoss ein roter Strahl auf Michael zu, der ihn hart am Arm traf. Er knickte kurz ein, rappelte sich dann jedoch wieder auf und schrie: „Impedimenta!"

Ron wich dem Zauber in letzter Sekunde aus, stolperte dabei jedoch über seine eigenen Füße und landete kurz vor der schimmernden Linie. Als er den Kopf hob und sie erblickte, hastete er eilends nach hinten. Michael schien dies für seine Gelegenheit zu halten und hob triumphierend seinen Zauberstab.

Pertrificus Totalus!"

Ron hatte zwar blindlings nach vorne gezielt, doch dabei genau Michael Brust getroffen, der nun wie tiefgefroren nach hinten klappte und mit einem hässlichen, dumpfen Geräusch auf das Feld knallte, die Hand mit dem Zauberstab noch immer in der Höhe.

„HA!"

Ron stand rasch auf und klopfte sich mit einer zutiefst befriedigten Miene den Staub von seinem Umhang; doch er hatte kaum Zeit, seinen Sieg auszukosten, denn Hermine rief bereits den Gegenzauber und Terry Boot zog Michael herauf.

„Die nächsten sind dran, ich und Luna", rief Hermine und warf Ginny ihre Trillerpfeife zu. „Könntest du den Anpfiff übernehmen?", fügte sie an Ginny gewandt hinzu.

„Gerne", antwortete sie breit grinsend.

Hermine tänzelte bereits ungeduldig auf ihrem Platz herum, als Luna auf das Spielfeld hinübergschwebt kam. Ihre Glubschaugen drangen bedrohlich aus den Augenhöhlen hervor, als sie ihren Zauberstab aus dem Ärmel ihres Umhangs gleiten ließ.

„Eeiiiiiins, zweeeeiiii, DREI!" Mit aller Kraft, die sich in ihrer Lunge befand, pustete Ginny in die Trillerpfeife und erzeugte einen Ton, der Harry die Ohren schmerzen ließ, als wäre ein Messer hineingeschwirrt.

Stupor", rief Hermine und schon schoss ein roter Lichtstrahl durch die Luft, der Luna am Bein traf. Doch anstatt einzuknicken, hüpfte Luna auf dem noch nicht verletzten Bein umher und versuchte, mit ihrem Zauberstab auf Hermine zu zielen.

„Schön, du hast mich getroffen", sagte sie fast lässig und schlug nun eine andere Richtung ein, „aber ein Bein habe ich noch –Impedimenta!"

Protego!" Der Strahl schwirrte zurück und verfehlte nur knapp Lunas zerzaustes Haar.

„Oooooh", rief Luna mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung in der Stimme. „Nun, ich muss zugeben, für eine solch engstirnige Hexe bist du ziemlich schnell; jedenfalls, was das Zaubern anbelangt."

„Greif besser an, anstatt nur zu reden!", ermahnte Hermine sie mit bemüht ruhiger Stimme.

„Ich habe bereits angegriffen", erwiderte Luna sanft. „Aber ich folge deiner Einladung gern..."

Avis!" Ein tosendes Gelächter aus den Sitzreihen ertönte, als aus Lunas Zauberstab unzählige, winzige Vögel hervorbrachen, die sich wild flatternd in der Halle verteilten.

„Was soll das denn ? Du sollst kämpfen !", sagte Hermine verärgert und hob den Zauberstab zur Decke. „Immobilus!" Sofort erstarrten die kleinen Vögel, als wären sie aus Eis, und blieben ruhig an einem Punkt in der Luft hängen.

„Ich bin dabei zu kämpfen", korrigierte Luna Hermine mit hoch gezogenen Brauen.

„Bei diesem Wettkampf geht es darum, die Sprüche anzuwenden, die wir letztes Jahr geübt haben!", sagte Hermine zornig.

„Ich darf wohl noch alle Sprüche anwenden, die ich auch außerhalb der DA gelernt hab", entgegnete sie um einiges weniger verträumt.

„Nun gut, wie du willst", zischte Hermine mit zornfunkelnden Augen und ließ den Zauberstab immer noch nicht sinken. „Wingardium Leviosa!"

Plötzlich schossen die noch immer unbeweglichen Vögel scharenweise auf Luna zu und warfen sie endgültig um. Während Luna sich schützend die Arme vor das Gesicht hielt, prasselten die Vögel unaufhörlich gegen sie, sodass es für sie unmöglich war, ihren Zauberstab zu benutzen, ganz abgesehen davon, dass ihn ihr ein besonders geschickt gelenkter Vogel aus der Hand geschlagen hatte.

Locomotor Mortis!", rief Hermine und augenblicklich klappten Lunas Beine zusammen, sodass jeder ihrer Versuche zwecklos war, sich aufzurichten.

„Das mit den Vögeln war auch mein Gedanke gewesen, aber du warst einfach schneller", ertönte Lunas Stimme. Dafür, so musste Harry zugeben, dass sie es vor Anstrengung zwischen den Zähnen hervorpressen musste, klang es noch verhältnismäßig verträumt und nebelig. „Ich glaube, jetzt habe ich jeden Halt verloren", fügte Luna hinzu und senkte langsam den Kopf, „ich gebe auf."

„Wie bitte?", sagte Hermine tonlos, als ob sie glaubte, sich verhört zu haben; doch ihre Hand, in der sie den Zauberstab hielt, sank allmählich.

„Du bist einfach zu schnell für mich", entgegnete Luna schlicht und ließ sich von Hermine, die noch immer ein wenig verdutzt dreinschaute, auf die Beine ziehen.

Der folgende Kampf war wohl der kürzeste, den Harry je erlebt hatte. Sobald Hermines „drei" in der Halle erschallte, machte Yuri eine Bewegung mit ihrem Zauberstab, als wäre er eine lange Peitsche, und keinen Moment später lag Susan Bones bewusstlos auf der Erde. Mit raschen Schritten ging Yuri zu ihr, heilte sie auf die gewohnte Weise und sagte: „Tut mir Leid, ich wollte dich eigentlich nicht am Kopf treffen... hat es sehr wehgetan?"

„Nein, nein", wehrte Susan würdevoll ab, „ich bin ja sofort zusammengeklappt, hab kaum was gespürt, ehrlich-"

„Nun der letzte Kampf in dieser Runde", rief Hermine lauthals durch ihr Megafon, „Harry gegen Ginny!"

Harry fing Ginnys Blick auf, als sie sich gegenüberstanden und sah, dass ihre Augen über seinen Zauberstab wanderten und sie ihren fest umklammerte, als ob sie fürchtete, er könne sich selbstständig machen und davonfliegen.

„Eins, zwei, DREI!" Hermines Stimme rauschte wie ein Windstoß über seinen Kopf hinweg.

Stupor!", rief Harry und sah mit leichtem Schrecken, wie Ginny gut einen Meter nach hinten gestoßen wurde und unsanft auf dem Rücken landete... plötzlich schlich sich eine leise Stimme in seinen Hinterkopf, die tadelnd zischte: „Bei diesem Wettkampf geht es darum, die Sprüche anzuwenden, die wir letztes Jahr geübt haben!"

Ja, dachte Harry und ließ den Zauberstab langsam sinken, das hier ist kein Kampf, es ist bloß eine Übung, damit jeder die Chance hat, das anzuwenden, was er letztes Jahr gelernt hat... ich muss Ginny dieses Möglichkeit geben, das wäre sonst ungerecht...

Er sah bewegungslos dabei zu, wie sich Ginny aufrappelte und ebenfalls ihren Zauberstab zückte.

Expilliarmus!", schrie Ginny.

Protego!", japste Harry und konnte gerade noch verhindern, dass ihm sein Zauberstab aus der Hand gerissen wurde; Ginny wich dem entgegenkommenden Strahl geschickt aus und streckte wieder den Arm aus, um anzugreifen. „Incendio!"

Harry stürzte sich nach links, doch umsonst; alle starrten unverwandt auf die rätselhaft schimmernde Linie zwischen Harry und Ginny, die, wie es schien, Feuer gefangen zu haben. Langsam erhob sich eine laut zischende Feuerwand zwischen ihnen, und Harry spürte, wie sich die Hitze über sein Gesicht ausbreitete. Nun konnte er Ginny nur noch als eine unscharfe, schwarze Gestalt wahrnehmen, die sich wie schwarzer, dichter Nebel hinter einer glühenden Wand bewegte.

Dennoch gelang es ihm, einiger ihrer Flüche auszuweichen, auch wenn ihn einmal ein roter Strahl hart am Arm traf. Blindlings feuerte er ununterbrochen Zaubersprüche ab, ohne recht zu wissen, wo er hinzielte, bis Hermine ein „Finite Incantatem !", rief und sich das Feuer in übel riechenden Rauch auflöste. Harry bemerkte, dass Ginny regungslos auf der anderen Seite des Feldes lag und Hermine und Yuri zu ihr stürzten.

Harry rannte ebenfalls hinüber und sah erleichtert, dass Ginny die Augen öffnete.

„Was ist passiert ?", fragte Harry.

„Du hast sie mit einem Locomotor Mortis Fluch erwischt", erklärte Yuri und zog Ginny auf die Beine.

„Das war Glück", erwiderte Harry achselzuckend, „Ginny hätte mich genauso gut treffen können. Ich hab nichts mehr gesehen wegen diesem Feuer."

„Warum hast du das getan ?", wollte Ginny mit sehr ernster Stimme wissen.

„Was soll ich getan haben ?", fragte Harry verständnislos zurück.

„Du hättest mich sofort besiegen können, als du mich gleich am Anfang getroffen hattest", erinnerte sie ihn, „aber du hast einfach nur dagestanden und gewartet, bis ich wieder oben war."

„Nun, i – ich dachte, so haben wir die gleichen Chancen-"

„Du hättest das nicht tun sollen", unterbrach ihn Ginny mit kühler Stimme. „Du brauchst mir nichts zu erleichtern, ich bin kein Baby-"

„Darum ging ich es doch gar nicht", warf Harry zornig ein, „ich habe nur-"

„Ich wär auch so klargekommen", fuhr Ginny unbeeindruckt fort, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte ohne ein weiteres Wort davon.

Auch am nächsten Tag sah Harry, wann immer er ihr begegnete, dass sie ihm mit einem finsteren Blick musterte, als ob er Ginny ihre letzten Süßigkeiten gestohlen hätte.

Doch als sich das Quidditchtraining näherte, ließ Ginny sich dazu herbei, Harry in recht mürrischem Ton zu fragen, ob sie ihre Besen brauchen würden.

„Ja, ich denke schon, heute testen wir die neue Strategie aus", antwortete Harry leicht überrascht.

„Gut", beendete Ginny steif das Gespräch und stapfte davon.

Als Harry Ron einen Blick zuwarf, zuckte der ratlos die Achseln und tauchte seine Feder in ein fast geleertes Tintenfass.

Am späten Nachmittag trennte sich Harry von Ron vor der Tür zum Büro des Mannschaftskapitäns.

„Ich geh dann schon mal vor zu den anderen", sagte Ron und machte mit dem Daumen eine Beweung nach rechts, „bis gleich."

„Ja, bis gleich", verabschiedete sich Harry von ihm und drehte an dem goldenen Türknopf. Überrascht stellte er fest, dass sie verschlossen war.Hätte er sich bei Professor McGonagall einen Schlüssel holen müssen?

„Hi, hiüberrascht?"

Harry schreckte zusammen und zog seine Hand schlagartig zurück, als von dem Türknopf plötzlich eine quiekende Stimme ausging und er seltsam vibrierte.

„Wer – was willst du ?", fragte Harry perplex, nachdem er den ersten Schrecken hinuntergeschluckt hatte.

„Dich reinlassen", antwortete die Stimme glucksend und ließ ein weiteres Lachen ertönen, dass sich allerdings mehr nach einem schlimmen Schluckauf anhörte. „Das heißt natürlich, nur wenn du willst, keiner zwingt dich dazu. Wusstest du, dass auch du deinen eigenen Willen hast ? Beeindruckend, nicht wahr?"

„J – ja", stammelte Harry, ohne recht zu wissen, was er zustimmte.

„Obwohl, lass mich überlegen, ich darf nicht jeden eintreten lassen, nur den Kapitän der Gryffindormannschaft, verstehst du? Weißt du eigentlich, was Quidditch ist? Das ist-"

„Ja, weiß ich", unterbrach ihn Harry. „Also, lassen Sie mich jetzt rein?"

„Dich reinlassen?", wiederholte die Stimme immer noch leise kichernd. „Eine wirklich ganz glänzende Idee von dir... wie war noch gleich dein Name?"

„Harry Potter."

„Aaaah, ja, bist der Neue, was?", trällerte der Türknopf und drehte sich dreimal nach links, danach zweimal nach links und die Tür sprang auf. „Hättest du gedacht, dass der Raum hier Wände hat?"

Harry war froh, als er endlich die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, und erleichtert stellte er fest, dass der Türknopf auf dieser Seite der Tür nicht sprechen konnte. Er spähte aus dem runden Fenster, das in der Tür angebracht war, nach draußen, um sich zu vergewissern, dass niemand in Sichtweite war, der dem Türknopf seine Stimme hätte leihen können. Als er sich umdrehte und aufsah, klappte ihm der Mund auf.

Das Kapitänsbüro war zwar schmal gebaut, doch es schien keine Decke zu geben, denn bis ins Unendliche waren Bilder von ehemaligen Quidditchkäpitänen aus Gryffindor übereinandergereiht. Harry stand auf, um sich ihrer näher zu besehen. Die Gläser vor den teilweise vergilbten Fotos waren, nach der Dicke der Staubschicht zu schließen, seit Jahren nicht geputzt worden. Unter jedem Rahmen war ein kleines Messingschild angebracht, auf dem der Name jedes Kapitäns eingeritzt war. Einige Bilder waren seltsam schief aufgehängt, sodass sie einander des öfteren verdeckten und sich die Kaptäne deshalb wütend anfauchten und versuchten, sich gegenseitig mithilfe ihrer Besenstiele aus den Bilderrahmen zu schubsen (ein besonders sommersprossiger Kapitän mit breiten Schultern und schiefen Zähnen hing beunruhigend wankend am Ende eines Astes einer hohen Eiche; das Seltsame daran war jedoch, dass er immer noch ein strahelendes Lächeln aufsetzen konnte – Harry erinnerte er unwillkürlich an Professor Lockhart). Plötzlich schoss Harry eine Idee durch den Kopf – könnte das möglich sein ? Einen Versuch war es wert... Harry fuhr mit dem Zeigefinger über die verstaubten Messingschilder und las jede Inschrift sorgfältig durch, wobei er jedem Kapitän einen raschen Blick zuwarf. Er stockte nur ein einziges Mal, als ihm ein dunkelblondes, hübsches Mädchen frech entgegengrinste; sie hatte seltsam dunkelblaue Augen, die ihn für einen kurzen Moment von seinem Ziel ablenkten; Harry hatte für einen Augenblick das Gefühl, in das Gesicht von jemandem zu blicken, den er gut kannte, doch schon im nächsten Moment durchfuhr ihn ein Ruck und er bewegte seinen Finger weiter.

Nur wenige Bilder später stoppte er und hielt inne; er hatte es tatsächlich gefunden. James Potter.

Harry lächelte matt bei dem Anblick seines Vaters, der ungefähr in seinem Alter gewesen sein musste, als er zum Kapitän geworden war. Nicht ohne einen gewissen Stolz grinste er Harry entgegen und spielte dabei mit dem Schnatz, den er immer wieder losließ und dann fing – so wie Harry es letztes Jahr in Snapes Denkarium gesehen hatte. Seine Haare schienen noch zerzauster als sonst zu sein (Harry vermutete, er hatte sie kurz vor dem Fototermin verstrubbelt), und sein Grinsen war von spürbarer Überlegenheit erfüllt.

Harry wusste nicht, wie lange er das Bild seines Vaters anstarrte, doch nach einiger Zeit hörte er einen hellen Schrei vom Quidditchfeld her, dessen Urheber einer der Creeveybrüder sein musste, der ihn zurück in die Wirklichkeit holte. Sein letzter Blick streifte einen hübschen, alten Schreibtisch, auf dem Spielpläne und Formulare gestapelt waren, sowie einen großen Wandschrank, in dem wohl die Umhänge der Gryffindormannschaft bis zur Quidditchsaison aufbewahrt wurden.

Auf dem Quidditchfeld nieselte es leicht; der Himmel war zwar bewölkt, doch es herrschte kein Wind. Nach ein paar Aufwärmübungen begannen sie das erste Trainingsspiel. Harry war froh, dass seine Spielstrategie nicht schlechter als die von Angelina oder Wood waren, doch er wurde sich bewusst, dass die Mannschaft noch einige Trainingsstunden vor sich hatte, bis so werden würde, wie er es sich vorstellte. Er ärgerte sich ein wenig, dass Ron heute vollkommen unkonzentriert spielte – Harry wollte, dass die Mannschaft ihn für einen guten Hüter hielt. Colin und Dennis machten ihre Sache recht gut, auch wenn sie das Training des öfteren nicht ganz ernst nahmen – einmal traf Colin einen Klatscher absichtlich nicht, sodass er Ginny fast vom Besen geschlagen hätte, doch sie duckte sich rechtzeitig. Yuri war eine gewandte Fliegerin, und es freute ihn besonders, als sie ihm zujubelte, nachdem er den Schnatz gefangen hatte.

Als er und Ron am späten Abend ziemlich durchnässt in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors trotteten, saß Hermine noch in einem der Sesssel am Kamin, in dem nur noch ein schwaches Feuer glühte und las ein – selbst für ihre Verhältnisse – unverschämt dickes Buch. Harry wunderte er, dass Hermine solch ein Ding überhaupt aufrecht halten konnte. Sie war gerade dabei, verschiedene Zeilen mit ihrer Feder bunt zu markieren, doch als sie ihre Schritte hörte, wandte sie sich ihnen zu. Als Ron ihr Gesicht erblickte, machte er augenblicklich auf dem Absatz kehrt und murmelte Harry zu: „Ich geh' mal kurz spazieren... du brauchst nicht auf mich zu warten."

Kaum hatte Harry sich versehen, war Ron schon hinter dem Gemälde der Fette Dame verschwunden. Harry warf Hermine einen ratlosen Blick zu und ließ sich auf einen Sessel ihr gegenüber fallen, wobei ihm plötzlich auffiel, wie nass er eigentlich war.

„Also wirklich, Hermine, langsam geht mir euer Streit auf die Nerven", erklärte er ihr ohne Umschweife und blickte auf den Buchumschlag („Unsere Zaubereigeschichte - umfassend, kompaktübersichtlich"hieß es da in goldenen Lettern), mit dem sie ihr Gesicht verdeckte.

„Mir geht er auch auf die Nerven, Harry", gab Hermine undeutlich zu und lugte nun hinter ihrer Buchwand hervor, das Gesicht leicht rosa angehaucht.

Harry starrte sie ungläubig an. „Wie bitte ?"

„Ja, natürlich", sagte Hermine leise, „ehrlich gesagt, ich hab es langsam auch satt... ich vermisse R– ich meine, es ist doch viel besser, wenn wir uns alle miteinander verstehen", fügte sie hinzu, als hätte sie sich verplappert und bedeckte ihr Gesicht rasch mit dem Buchdeckel.

„Wenn das so ist, wieso vertragt ihr euch dann nicht einfach ?", fragte Harry und hatte das Gefühl, er verstand mit jeder Minute weniger.

„Ganz einfach", sagte Hermine nun wieder mit ihrer gewöhnlichen Stimme, „Mädchen kommen nie als erste an, um sich zu entschuldigen... oh nein, jetzt ist mir die farbige Tinte ausgegangen..."

„Bei mir hast du dich letztens doch auch zuerst entschuldigt", erinnerte sie Harry verdutzt.

„Das ist etwas ganz anderes", widersprach Hermine und schüttelte matt den Kopf, als würde sie es endgültig aufgeben, ihm etwas erklären zu wollen.

„Hä ?"

Harry wusste nicht, wann Ron in den Schlafsaal gekommen war, doch es musste sehr spät gewesen sein, denn er hatte es nicht mehr gehört.

Der nächste Morgen begann mit einer grauen Doppelstunde Zaubertränke, unten in den Kerkern, die heute besonders kalt zu sein schienen. Snape war gerade dabei, dem Kurs die Fläschen mit dem Papierfäulungszaubertrank zurückzugeben. Als er an Harry vorbeirauschte, zischte er ihm aus dem Mundwinkel zu: „Potter, ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber ich war bedauernswerterweise dazu gezwungen, Ihnen ein E zu geben."

Harry konnte ein Grinsen kaum unterdrücken, als ihm Snape mit kaltem Blick die Flasche auf den Tisch stellte und dabei aussah, als würde er nichts mehr verabscheuen.

In Zauberkunst sollten sie besonders schmutzige Wäsche mit einem Reinigungsspruch säubern. Hermine und Yuri zeigten sich dieser Aufgabe glänzend gewachsen, Harry und Ron hatten jedoch reichlich Probleme damit, die Grasflecken verschwinden zu lassen.

„Die sind doch völlig von der Rolle", beschwerte sich Ron beim Mittagessen und zerstampfte seinen Blumenkohl, „was bringt es uns, Grasflecken verschwinden lassen zu können, wenn wir Auroren werden wollen ? Sollen wir denn schwarzen Magiern drohen, wir könnten ihre Unterhose entgiften, wenn sie nicht abzischen ?"

Harry und Yuri prusteten in ihre Hühnersuppen, während Hermine sich mit allen Kräften dagegen zu wehren schien, in Lachen auszubrechen und sich schnell ein Stück Karotte in den Mund stopfte, auf dem sie ungewöhnlich lang herumkaute.

Die Nachhilfe bei Professor McGonagall war an diesem Tag besonders anstrengend, da sie Harry dazu verdonnerte, den Verschwindezauber eine halbe Stunde lang pausenlos vorzuführen; er war äußerst froh, als er am Abend endlich in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors zurückkehren durfte.

„Ähm... du weißt doch, dass wir an diesem Wochenende nach Hogsmeade gehen dürfen", sagte Harry behutsam zu Hermine.

„Ja, natürlich", antwortete Hermine merkwürig steif. „Was ist damit ?"

„Ich - naja... mit wem gehst du hin ?", fragte er vorsichtig weiter.

„Nun ja, ich denke, mit Yuri", entgegnete sie achselzuckend.

„Oh, gut", sagte Harry, und anscheinend war ihm seine Erleicherung anzusehen, dass Hermine nicht wütend auf ihn war- weil er Ron nämlich versprochen hatte, mit ihm hinzugehen - denn sie sagte ruhig: „Schon gut, Harry, ich dachte mir bereits, dass du mit Ron hingehst."