Der Hund und die Katze

Der nächste Morgen brach sonnig, jedoch kühl an. Die Sonne ließ den Tau auf den Gräsern glitzern, als lägen herabgefallene Eisblumen auf ihnen. Doch die Farben der Blätter ließen den Herbst erahnen, der sich über das Schloss ausgebreitet hatte.

Harry und Ron hatten bereits ausgiebig gefrühstückt und pflückten ihre Ausrüstung für den Tag in Hogsmeade zusammen. Ron war in hitziger Aufregung damit beschäftigt, seine zehn Sickel zu finden.

„Ich weiß ganz genau, dass ich sie noch nicht ausgegeben habe!", schwörte er und kippte seinen Koffer um, sodass sich sein Inhalt verblüffend gleichmäßig um ihn herum verteilte.

Nachdem Ron sie dann zehn Minuten später tatsächlich in einem Stapel von Pergamenten gefunden hatte (seltsamerweise nahm er sie aber nicht mit), zogen sie los. Als sie ein Stück gegangen waren, kamen Hermine und Yuri in Sichtweite, beide mit warmen Winterumhängen und Handschuhen ausstaffiert. Yuri hatte eine übergroße Karte in den Händen - von Hogsmeade, so vermutete Harry ,über die Hermine ihren Finger schwirren ließ, während sie unentwegt redete.

„Ich will den Tag heute so richtig genießen", sagte Ron ausgelassen und streckte sich genüsslich, der die beiden offensichtlich nicht bemerkt hatte. „Gehen wir erstmal in die Drei Besen und holen uns ein Butterbier ? Ich frier mir gleich was ab, und das Zeug heizt einen so richtig auf-"

„Einverstanden", stimmte Harry heftig nickend zu, denn er musste sich eingestehen, dass ihm auch ein wenig kalt war – hätte er bloß einen dickeren Umhang angezogen.

In den Drei Besen war es nicht so eng, dafür aber genauso warm und gemütlich wie sonst. Der Großteil der Gäste waren Hogwartsschüler, die wohl wie sie auch auf die Idee gekommen waren, sich für den Weg ein Butterbier mitzunehmen oder sich ein wenig aufzuwärmen. Als Harry und Ron an der Reihe waren, weiteten sich Madam Rosmertas Augen, als sie ihn erblickte.

„Harry - Potter", hauchte sie und holte zwei Butterbiere hervor, ohne jedoch wirklich zu bemerken, was sie überhaupt tat. „Oh mein Gott, was der Tagesprophet über Sie veröffentlicht hat, ist so grauenvoll", fuhr sie fort und schien den Tränen nahe. „Was für ein Mut... was für ein Schicksal", schluchzte sie, drückte ihm die zwei Flaschen in die Hand und verschwand tränenverschmiert in einem Türrahmen, der sich in einer unscheinbaren Ecke hinter den Thresen befand. Harry warf Ron einen ratlosen Blick zu, der immer noch entgeistert auf die Stelle starrte, wo Madam Rosmerta bis vor Kurzem noch gestanden hatte.

Harry legte das Geld für die zwei Butterbiere auf den Tisch, bevor er und Ron mit raschen Schritten unter den neugierigen Blicken der anderen aus dem Raum verschwanden.

„Was ging denn mit der ab ?", fragte Ron Harry, als sie, langsam ihr Butterbier schlürfend, durch die lädengesäumten Gassen schlenderten.

„Das war jemand, der dem Tagespropheten glaubt", antwortete er und ließ seine leere Flasche verschwinden.

„Wow, seit wann beherrschst du den Verschwindezauber ?", fragte Ron beeindruckt.

Harry, dem erst jetzt bewusst wurde, was er eigentlich vollbracht hatte, betrachtete zufrieden grinsend seine leere Hand.

„Tja, ich glaube, die Nachhilfestunden bei der McGonagall bringen vielleicht doch etwas", sagte Harry.

„Das meinst du nicht im Ernst",entgegnete Ron grinsend. "Gehen wir mal kurz in Schreiberlings Federladen ? Ich brauch dringend neue Tinte. Nicht, dass es mir was ausmachen würde, die Hausaufgaben mit unsichtbarer Tinte zu schreiben..."

Leise glucksend traten die beiden durch die Tür und fanden sich zwischem einem Regal voll von Zauberradiergummis wieder (Harry hätte schwören können, dass ihn eine Packung fleischfarbener Radiergummis angeknurrt hatte).

„Ich glaube, die Tintenfässer sind in der nächsten Reihe", sagte Ron und ging weiter die Reihe entlang.

„Geh nur, ich seh mich hier noch ein wenig um", antwortete Harry und untersuchte eine Schachtel mit durchsichtigen Exemplaren, in denen sich eine seltsam blaue Flüssigkeit befand.

„Was machst du denn hier ?", ertönte plötzlich Rons Stimme; Harry wandte sich um und spähte durch einen Spalt, der sich glücklicherweise zwische zwei Kartons befand und einen guten Blick auf die andere Seite gewährte. Hermine stand Ron gegenüber und sah ihn ebenso mürrisch an wie er sie.

Harry biss sich auf die Lippe; er war sich sicher, dass sich diese Begegnung nicht gut auf ihre Freundschaft auswirken würde, falls diese überhaupt noch bestand.

„Ich brauche farbige Tinte", antwortete Hermine steif.

„So 'n Zufall", brummte Ron.

Sie starrten sich eine Weile weiter missmutig an, bis Hermine keine Lust mehr dazu zu haben schien. Langsam nahm ihr Gesicht einen traurigen Ausdruck an, und ihre Augen glänzten merkwürdig. Dieser Anblick schien Rons Frostigkeit ein wenig zum Schmelzen zu bringen, denn mit einem Mal wirkte sein Blick mehr ratlos als finster, und für einen kurzen Moment dachte Harry, er würde die Hand nach ihr ausstrecken.

„W – was ist ?", fragte er schwach und blickte sich um, als hoffte er, irgendwo ein Schild zu finden, auf dem stand, was er jetzt zu tun hatte.

Plötzlich stieß Hermine eine lauten Schluchzer aus und warf sich Ron um den Hals, der dabei fast in einen Stapel von Adlerfedern getappt wäre.

„Ron, bitte", flüsterte sie mit leicht zitternder Stimme und klammerte sich noch fester um ihn, „ich will nicht mehr mit dir streiten... warum verstehst du nicht...", setzte sie verzweifelt hinzu.

„Hermine, bist du hier ?"

Harry spähte nach rechts, woher die Stimme gekommen war. Yuri kam, auf den Händen einen gefährlich wankenden Stapel von Ordnern in den verschiedensten Farben balancierend, recht planlos auf Hermine zu, da ihr der Turm die Sicht verdeckte.

„Welche Farbe wolltest du noch gleich ?", fragte sie und hatte Schwierigkeiten damit, auf der Stelle stehen zu bleiben.

Hermine, die aufgeschreckt und herumgewirbelt war, eilte zu ihr und ließ den Stapel sanft zu Boden gleiten.

„Aaah, danke", sagte Yuri erleichtert, „ich kam einfach nicht an meinen Zauberstab ran. Wie konnte ich nur so dumm sein – oh, hallo, Ron", fügte sie milde überrascht hinzu und musterte ihn leicht belustigt, wie er mit halb erschreckter, halb vollkommen verwirrter Miene dastand und den Fußboden entgeistert anstarrte. „Was ist-"

„Rot", warf Hermine fast schreiend ein, „ich brauchte einen neuen roten Ordner. Komm, lass uns gehen", fügte sie mit gekünstelt munterer Stimme hinzu und schob Yuri um die Ecke der Reihe, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Beim Frühstück am nächsten Morgen verhielten sich Ron und Hermine so, als hätten sie sich erst gestern kennengelernt; ihre übertriebene Höflichkeit, die sie in Anwesenheit des anderen an den Tag legten, machte auch Yuri stutzig. Doch Harry war froh, dass sie wenigstens wieder miteinander redeten, denn es war viel angenehmer zu frühstücken, wenn man keine vermeintlich schalldichte Backsteinmauer zwischen zwei Freunden spielen musste.

Der Abend schien sich langsamer zu nähern als eine Woche zuvor, obwohl Harry um einiges mehr an Hausaufgaben zu erledigen hatte als jemals zuvor in den letzten Tagen. Nun jedoch, da Ron und Hermine wieder miteinander redeten, so hatte er den Eindruck, gingen ihm die Aufsätze viel leichter von der Hand (was allerdings vielleicht daran lag, dass Ron Hermine jetzt wieder dazu überredete, dass sie bei ihr abschreiben durften).

Als Harry am Abend an der Tür des Verwandlungsklassenzimmers klopfte, durchdrang Yuris „Herein" die Stille, die bereits auf den leeren Korridoren herrschte.

Heute hatte sie ihre langen Haare mit einem Haarband zusammengebunden, dass aus weißen Federn bestand; Harry fand, dass sie damit sehr hübsch aussah.

„Hi Harry", begrüßte sie ihn. „Wir haben heute noch gar nicht richtig miteinander geredet, nicht wahr ? Es gibt immer so viel zu tun", fügte sie lächelnd hinzu.

„Ja, stimmt", sagte Harry und bemerkte, dass sein Mund merkwürdig trocken war; warum fiel ihm nie etwas besseres ein ?

„Wo warst du eigentlich gestern ?", wollte sie wissen. „Ich hab zwar nicht wirklich viel gesehen, aber... ich meine, wo Ron ist, da bist du ja nicht weit, oder ?"

„Ich war bei – ähm - den Radiergummis", antwortete Harry; jetzt, wo er es aussprach, kam es ihm furchtbar kindisch vor.

„Ron und Hermine waren echt komisch drauf heute morgen", meinte sie nachdenklich. „Ist das öfters so bei ihnen ?"

„Ja, ziemlich oft", sagte Harry und war froh, endlich etwas Vernünftiges sagen zu können, „meistens kabbeln sie sich zwar nur, aber manchmal haben sie einen richtig großen Streit."

„Stört dich das denn ?", forschte Yuri nach.

„Ja", antwortete Harry heftig, „ich verstehe nicht, warum sie sich nicht einfach vertragen können !"

„Ron und Hermine mögen zwar ein bisschen wie Hund und Katze sein... aber sie vertragen sich, Harry, sie vertragen sich sogar sehr gut", entgegnete sie lachend und zwinkerte ihm verschmitzt zu."Warte nur ab, du wirst sehen."

Harry hatte zwar nicht die geringste Ahnung, auf was sie hinauswollte, doch er hatte nicht die Gelegenheit, sie danach zu fragen, denn Yuri zückte bereits ihren Zauberstab. „Nun denn, verschließe deinen Geist... aber das weißt du ja ohnehin..."

Harry kniff die Augen zu und versuchte krampfhaft, ihre Anweisung zu befolgen, doch immer wieder schwirrte ihm ein „Warte nur ab, du wirst sehen" durch den Kopf, das ihn unwillkürlich ablenkte. Er mochte es nicht, wenn er etwas nicht verstand... was meinte Yuri damit ? Nein, ich darf an nichts denken, ermahnte sich Harry streng und ballte seine Hände zu Fäusten.

Das Letzte, was Harry hörte, war Yuri, die ein „LEGILIMENS !" donnerte. Ihre Stimme klang mächtig und durchfuhr ihn wie ein Schwall kühlen Windes, der bis in sein Gehirn zu dringen schien, unaufhaltsam und schnell. Es war, als hätte er all seine Kraft verloren... ja, er war machtlos... die Kraft ihres Zaubers hatte eine Macht, wie er sie noch nie gespürt hatte.. es war sinnlos. Harry spürte, wie sein Körper an eine Wand knallte und er kraftlos zu Boden sank.

Bilder aus seinem ganzen Leben rauschten wie ein Film an ihm vorbei, sie waren deutlich und klar. Er sah sich selbst vor dem Spiegel Nerhegeb...war das Gilderoy Lockhart gewesen ? Ein Mann verwandelte sich erschreckend schnell in einen Werwolf, ein Dementor ohne Kapuze beugte sich über ihn... eine riesiger Drache bäumte sich vor ihm auf und wandelte sich blitzschnell in den Trimagsichen Pokal um... Voldermort stieg langsam aus einem übergroßen Kessel, das Gesicht totenbleich und herzlos... Professor McGonagall und Dumbledore standen leise flüsternd in einem leeren Raum... plötzlich war er in dem großen runden Saal im Zaubereiministerium, wo Sirius laut lachend einen Schritt nach hinten machte...

„NEIIIIIN !"

Harry wusste nicht, weshalb es geschah, doch mit einem Mal schien er sich selbst wieder Herr zu sein, und statt seiner durchströmten ihn nun die Gedanken eines anderen... Yuris Erinnerungen.

Ein kleines Kind mit dunklem Haar, es musste etwa drei Jahre alt sein, lag in einem riesigen, schneeweißen Himmelbett, an unzählige sich schlängelnde, schlangenähnliche Schläuche gebunden, leise und gleichmäßig atmend... ein hübsches Mädchen von etwa sechs Jahren duellierte sich mit einem Zauberer, der nicht zu erkennen war und feuerte dabei unablässig Flüche ab, die ihn hart im Gesicht trafen... eine Bücherei mit einer Anzahl von Büchern, von der Harry dachte, dass es sie nicht geben könne, erstreckte sich in eine ausladende, kunstvoll verzierte Gewölbedecke... ein glücklich wirkender Cornelius Fudge beugte sich über die elfjährige Yuri und drückte sie fest an sich...

Finite Incantatem !"

Als Harry die Augen aufschlug, entdeckte er Yuri, die schwer atmend auf dem Boden vor ihm lag. Nach einer peinlichen Pause sah sie zu ihm auf und öffnete den Mund.

„Du... du hast dich am Anfang nicht von allen Emotionen gelöst gehabt", sagte sie langsam, „aber dann hast du dich gewehrt..."

„Ja, aber zuerst dachte ich, ich würde nicht gegen dich ankommen", sagte Harry. „Ich weiß nicht, warum ich es geschafft habe. Ich habe noch nie gegen jemanden gekämpft, der so stark ist wie du, ehrlich."

„Du hast etwas in dir, Harry", flüsterte Yuri deutlich und lächelte kaum merklich, „gegen das ich vollkommen machtlos bin. Du hast ja einen Teil meines Lebens gesehen-"

„Ja", bestätigte Harry nickend; es wäre sinnlos gewesen zu lügen.

„Mein Vater wollte aus mir etwas machen, das die Menschen perfekt nennen", sagte sie mit einen gequälten Lächeln und richtete sich leicht zitternd auf, „aber Dad weiß nicht, dass es Sachen gibt, die man nicht lernen kann... und dass es Dinge gibt, die Geld nicht ersetzen können."

Harry zog sich ebenfalls auf die Beine und bemerkte, dass sich sein Körper noch immer schwach und kraftlos anfühlte.

„Eins kann ich jetzt aber bestätigen", sagte Harry und hob seinen Zauberstab auf.

„Was ?", fragte Yuri verdutzt.

„Es ist gut, dass du deine ganze Macht normalerweise nicht einsetzen darfst", sagte Harry grinsend. Yuri grinste verlegen zurück und sah ihm nicht in die Augen.

„Uiuiuiuiuiui, wer ist denn da ?"

Mit rasender Geschwindigkeit brauste Peeves durch den Klassenraum und schrie sich sein wahnsinniges Lachen aus dem Leib, wobei er sich nicht die Mühe machte, herumstehenden Stühlen auszuweichen.

„Es ist verboten, sich abends in den Klassenräumen rumzutreiben !", kreischte er mit einer Stimme, die an Schadenfreude nicht zu übertreffen war. „Filch wird sich sicherlich über einen kleinen Hinweis meinerseits freuen -"

„Bist du sicher ?", fragte Yuri laut und zückte ihren Zauberstab.

Peeves erstarrte vor Schreck und wäre beinahe nach unten gestürzt, hätte er sich nicht rechtzeitig aufgefangen. Sein Lächeln erfror und verwandelte sich mit rasender Geschwindigkeit in eine ehrfürchtige Miene.

„Bei Ihnen allein liegt das Wort, Miss", sagte er mit öliger Stimme und verbeugte sich so tief, dass er eigentlich den Fußboden mit seiner Nasenspitze hätte treffen müssen. „Kann ich irgendetwas für Sie tun ? Sagen Sie es nur dem alten Peeves -"

„Hmmm... wenn ich es mir recht überlege, könntest du das tatsächlich", sagte Yuri mit gekünstelt nachdenklicher Stimme.

„Nur ein Wort, Miss, und –"

„Gut", brach sie ihm das Wort ab und richtete ihren Zauberstab auf sein Herz, „wenn du Harry nochmal ein einziges Mal schadest, werde ich es erfahren und dich dafür bezahlen lassen." Sie sagte dies in einem Ton, als würde sie ihn zu einem Drink einladen.

Peeves Gesicht nahm einen ängstlichen Ausdruck an, doch zugleich fing er sich wieder und setzte sein schleimigstes Lächeln auf.

„Wie Sie wünschen, Miss", sagte er, verbeugte sich abermals und zischte eilends davon.

„Warum hat er solchen Respekt vor dir ?", fragte Harry beeindruckt und starrte sie an; die einzigen, vor denen sich Peeves nicht den geringsten Unfug erlaubte, waren Dumbledore und der Blutige Baron, was Harry allzu gut verstand.

„Ich weiß nicht genau", antwortete Yuri achselzuckend und ließ ihren Zauberstab zurück in ihre Tasche gleiten, „ich bin ihm mal im Ostturm über den Weg gelaufen und dachte, Peeves wäre irgendwas Gefährliches, deshalb habe ich ihm einen Fluch auf den Hals gejagt, und... nun, der kam ziemlich verschreckt wieder zu sich... ich vermute mal, das war es."

Nach wenigen Wochen fand sich Hogwarts in eine dicke Schneeschicht gehüllt wieder, die sich auch ausnahmslos über die Ländereien gelegt hatte. Unablässig fiel Schnee und bedeckte schließlich ein paar Fenster, die ihm schutzlos ausgesetzt waren. Einige Eulen landeten halb erfroren in der Großen Halle, und auch Krummbein belegte nun fast jeden Abend den warmen Platz auf dem Kaminvorleger im Gemeinschaftsraum, ganz zu Rons Ärger, doch aus unerklärlichen Gründen ließ er sich nichts davon anmerken. In der Zwischenzeit war es fast unerträglich kalt in den Kerkern geworden, und Harry ging jeden Tag widerwilliger hinunter, doch hatte er eine Wahl ? Mit der Zeit hatte Harry sogar das Gefühl, er wurde in Okklumentik langsam besser, und obwohl die Nachhilfestunden jedesmal harte Arbeit waren, war er Professor McGonagall und Hermine im Geheimen ein wenig dankbar dafür, doch er hätte lieber im Schnee übernachtet als das zuzugeben. Seit es angefangen hatte zu schneien, hatte Harry das Quidditchtraining absagen müssen, obwohl nach den Weihnachstferien die erste Begegnung angesetzt war, Gryffindor gegen Ravenclaw.

In der vorletzten Schulwoche breitete sich im Schloss eine allgemeine Unruhe aus, denn der Weihnachtsball rückte bedrohlich näher. Harry hatte das Thema bisher noch nicht angeschnitten, und er war äußerst froh darüber, dass Ron es auch nicht tat.

„Habt ihr schon alles für den Ball geplant ?", fragte Ginny gelassen und setzte sich neben Ron.

„Ähm -", sagte Harry und stopfte sich Nudeln in den Mund; er wusste, wen er gern fragen würde, aber den Mut dafür aufzubringen war alles andere als einfach.

„Hast du schon jemanden für den Ball?", fragte Ron sie und reichte ihr die Schüssel mit Tomatensoße.

„Ja, ich gehe mit Dean", antwortete Ginny, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit und lud sich einen Berg Nudeln auf ihren Teller.

„Ach ja, stimmt, der Ball...", sagte Yuri, als wäre ihr ein Licht aufgegangen. „Nein, ich habe noch nichts vorbereitet, um ehrlich zu sein", fügte sie hinzu und zog eine Teekanne zu sich herüber; Harry spürte, wie sein Herz einen kleinen Sprung machte.

„Und du, Hermine ?", fragte Ginny neugierig.

„Nicht wirklich", meinte Hermine undeutlich und warf Ron einen merkwürdigen Blick zu, der begeistert seine Nudeln auf einer Gabel aufspießte.

Harry stocherte gedankenveloren in seinem Salat herum, während Ginny anfing, von ihrem neuen Festumhang zu erzählen, den sie bekommen hatte.

Dieses Mal sollte ich schneller als bei Cho sein, wenn ich nicht allein hingehen will, sagte er streng zu sich selbst, du musst sie doch bloß fragen, es kann nicht so schwer sein, immerhin hast du es schon einmal geschafft.

Er wusste zwar nicht, wie er es anstellen sollte, doch Harry nahm sich vor, Yuri so schnell wie möglich zu fragen, ob sie mit ihm zum Ball kommen wollte.

„Gehen wir in die Bibliothek, Harry ?", fragte Hermine und riss ihn damit aus seiner Trance.

„In Ordnung", stimmte Harry rasch zu und warf sich seine Tasche über die Schulter.

In der Bibliothek war es ungewohnt leer, mit Ausnahme von Mrs Pince, die ihren üblichen Posten besetzte, und drei Zweitklässlern, die ihre Hausaufgaben in einer abgelegenen Ecke erledigten.

Harry, Ron und Hermine kamen gut mit ihren Aufsätzen für Kräuerkunde voran („Erläutern Sie den Gebrauch von Wolfswurz im Mittelalter"), sodass sie kurz darauf mit ihrer Skizze eines Querschnitts des Drachenherzes begannen.

Aus den Augenwinkeln sah Harry, wie Hermine Ron immer wieder rasche Blicke zuwarf, als ob er sie bei der Arbeit stören würde. Eigentlich hatte er sie fragen wollen, aus welchem Grund sie das überhaupt tat, denn Ron kratze nur mit der Feder über sein Pergament; aber dann überlegte er es sich doch anders und begann damit, die linke Herzkammer zu skizzieren.

Schließlich räusperte Hermine sich und sagte bemüht unschuldig beiläufig: „Mit wem geht ihr zum Ball ?"

„Muss ich mir noch überlegen", grunzte Ron halblaut als Antwort.

Mit finsterem Blick beugte sich Hermine wieder über ihre Zeichnung, ohne Harrys Antwort abzuwarten, und er war ihr äußerst dankbar dafür.

Am Abend täuschte Harry vor, an der Spielstrategie für das kommende Quidditchspiel zu arbeiten, doch in Wahrheit zermarterte er sich den Kopf darüber, wie er Yuri am besten fragte, ob sie mit him zum Ball kommen wollte, während Ron und Hermine Zauberschach spielten, wobei sie seltsam schweigsam waren. Hermine hatte eine konzentrierte Miene aufgesetzt und ließ ihren Finger in der Luft über die Köpfe der Figuren hinweggleiten.

„Ach, übrigens, Hermine -", setzte Ron plötzlich unsicher an und ließ seine Dame einen Turm umlegen.

„Danke, ich sehe selbst, dass mein König in Gefahr ist", fauchte Hermine und schubste ihren Springer unwirsch ein Feld weiter.

„Nein, da ist – da ist doch dieser Ball, und – na ja, ähm - willst du mit mir dahin gehen ?"

Ron hatte sehr schnell gesprochen und lief nun scharlachrot an.

Hermines schaute entgeistert drein, doch ihr Gesicht färbte sich ebenfalls purpurfarben, sodass man die Hitze, die in ihr aufstieg, fast spüren konnte. Aber sie schaffte es dennoch, ein hämisches „bist aber früh dran diesmal" hervorzubringen.

„Also was jetzt ? Ja oder nein ?", fragte Ron ohne Umschweife mit einem recht gequälten Gesichtsausdruck.

„Natürlich will ich", antwortete Hermine und konnte nicht umhin, ihn anzustrahlen.

Ron, der sein Glück nicht gerade überzeugend zu unterdrücken versuchte, fuhr seine kichernden Bauern an, sich schleunigst nach vorne zu bewegen.

Der Mond warf ein schwaches Licht durch die Spalte, die zwischen den beiden Umhängen von Harrys Bett geblieben war und erhellte ein Stück seiner Hand. Langsam drehte er sie nach rechts und links, denn dies war die einzig sich bietende Beschäftigung, die er im Moment fand.

Am Abend war ihm ein Gedanke gekommen, der selbst in seinem Traum vorgekommen war und sein einziger Trost war, dass er ihn in keinem Traumtagebuch verewigen musste.

Er hatte von der weihnachtlich geschmückten Großen Halle geträumt, in der viele Paare in bunten Umhängen um ihn herum tanzten. In der Menschenmenge hatte er Ron und Hermine entdeckt, die sich ebenfalls mit sichtlicher Begeisterung dem Tanzen angeschlossen hatten. Plötzlich kam Ron zu ihm herüber und sagte mitfühlend: „Hey, Harry, hast du keine

Partnerin ? Aber keine Sorge, Kumpel, mir fällt schon was ein... ich weiß, ich frage Eloise Midgeon, ob sie mit dir hingeht !", fügte er eifrig hinzu. Harry wollte ihm noch nachrufen, dass er keine Partenrin wollte und den Abend schon irgendwie rumkriegen würde, doch Ron war schon in der unüberschaubaren Menge verschwunden. Ohne zu wissen, wie, stand Harry plötzlich selbst auf der Tanzfläche, in Rons alten Festumhang gehüllt. Gerade als er versuchte, den Blicken der anderen zu entkommen und sich unbemerkt davonzustehlen, tauchte Ron wieder vor ihm auf, Eloise Midgeon im Schlepptau. Sie trug eines von Tante Petunias Abendkleidern, das mit fürchterlichen, rosafarbenen Rüschchen besetzt war und ihr um einige Nummern zu klein zu sein schien, nach der drohenden Spannung des Stoffes um ihre Bauchgegend jedenfalls zu schließen. Sie drückte an einem besonders großen Pickel herum und grinste Harry gerade in dem Moment zähnebleckend an, als unglaublich dickflüssiger Eiter aus ihm quoll. Harry spürte dabei jedoch nicht jenes Kribbeln, wie es immer der Fall war, wenn Yuri ihm zulächelte, sondern er schluckte und hatte den Drang, sich schnellstens eine Ausrede einfallen zu lassen, um verschwinden zu können.

Plötzlich erschien Hermine an Rons Seite. Sie sah so hübsch aus wie beim letzten Weihnachtsball, hatte jedoch eine strenge Miene aufgesetzt.

„Also wirklich, Harry", tadelte sie ihn mit unerträglich vorwurfsvoller Stimme, „es geht um das Innere eines Menschen, nicht um sein Äußeres, das weißt du doch ! Außerdem ist es mit ihren Pickeln wirklich viel, viel besser geworden !", setzte sie gut gelaunt hinzu und deutete auf Eloises Gesicht, „du hättest sie mal in ihrem dritten Jahr hier sehen müssen, kein Fleck reiner Haut war mehr zu sehen -"

Harry machte entsetzt einen Schritt nach hinten, wobei er jemanden unsaft auf die Füße trat. Er wandte sich um und schreckte zusammen. Yuri stand vor ihm.

„Tut mir Leid, Harry", sagte sie entschuldigend, „ich gehe schon mit Cedric Diggory zum Ball... vielleicht das nächste Mal, okay ?"

Als Harry aufwachte, fühlte er sich, als hätte ihm jemand Blei in den Magen gefüllt.

Er fühlte sich von Ron im Stich gelassen. Warum hatte er schon eine Partnerin und Harry nicht ?

Schon im nächsten Moment tadelte sich Harry selbst für diesen Gedanken – Ron war einfach schneller gewesen, er selbst hätte es auch schaffen können, wenn er den Mumm dazu hätte. War Ron tatsächlich mutiger als er ?

Morgen fragst du sie, befahl Harry sich selbst, komm schon, du musst sie doch bloß fragen, mehr ist es nicht...

Er beschloss, nachdem er sich selber noch eine Weile gut zugeredet hatte, es nun dabei zu belassen, entleerte seinen Kopf und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.