Weshalb er sie gehen ließ
Malfoy wirbelte herum, wobei er seinen Zauberstab hatte sinken lassen; Harry, Ron und Hermine starrten fassunglos zum anderen Ende der Eingangshalle – dort stand Yuri.
Doch war es wirklich Yuri? Entgeistert starrte Harry abwechselnd das am Boden liegende und im Türrahmen stehende Mädchen an. Letztere trug nur eine schwarze Kutte, ihr Haar war ein wenig zerzaust und an ihrem linken Unterarm klaffte eine tiefe, blutige Schnittwunde. Ihre Augen glitzerten gefährlich, und von ihnen ging ein wogende Welle des Zorns aus, die Harry deutlich zu spüren glaubte.
„Was hast du hier verloren?", kreischte Malfoy und wich einen Schritt vor ihr zurück.
„Hast du wirklich geglaubt, deine erbärmlichen Gefolgsleute könnten mich länger
gefangenhalten?", fragte sie kühl und schlug die Tür hinter sich zu. Ihr Zuschlagen raunte wie ein ewiges Echo durch die Halle.
Malfoy setzte eine mürrische Miene auf. „Hast du schon vergessen, wie sie dich gefoltert haben?", zischte er mit bösartig funkelnden Augen und musterte der vor Blut glänzende Schnittwunde mit einem Blick, dessen Genugtuung nicht zu verbergen war.
„Schmerz vergeht, Malfoy."
„Es mag sein, dass du nicht mehr als eine Träne gezeigt hast – zu stolz, um sie zu zeigen, nicht wahr?", sagte er herablassend, „dennoch weiß ich, dass du gelitten hast, und das ist das Einzige, was den Dunklen Lord interessiert. Der Rest sind nebensächliche Kleinigkeiten – bleib gefälligst, wo du bist!"
Sie war zu Harry, Ron und Hermine herübergegangen und stellte sich wie ein Schutzschild vor sie; die drei starrten immer noch ungläubig auf die doppelt vorhandene Yuri und wagten nicht, sich zu bewegen. Ohne seinen Zauberstab kam sich Harry mit einem Mal unsäglich klein, machtlos und verloren vor. Warum hatte er ihn ausgerechnet in seinem Koffer
verstaut? Warum?
„Sie haben nicht darüber zu bestimmen, was ich tue oder lasse", entgegnete sie kalt.
„Hüte deine Zunge, verzogenes Gör !", bellte Malfoy und zog den Zauberstab.
„Ich an Ihrer Stelle würde mit dem Angriff noch warten", riet ihm Yuri mit Achtung heischender Stimme, zückte jedoch ebenfalls ihren langen, dünnen Zauberstab. „Ich glaube, ihre Freundin nimmt wieder ihre wahre Gestalt an... sie wäre doch sicher nicht erfreut zu hören, dass Sie ihr diesen Kampf vorenthalten haben."
„Dieser Kampf gehört mir!", rief er und ein wahnsinniges Grinsen machte sich auf seinem bleichen Gesicht breit. „Der Dunkle Lord wird allein mir dankbar sein, wenn ich ihm seine Tochter bringe und Potter töte... ich, sein treuester Diener! Pertrificus Totalus!"
Obwohl die zweite Yuri noch immer regungslos am Boden lag, jagte er ihr einen Fluch mitten auf die Brust, sodass sie nochmals einige Zentimeter über den Marmorboden zurückgestoßen wurde.
„W.. wer ist das?", flüsterte Hermine ängstlich hinter Harry.
Malfoy, der ihre Frage offenbar gehört hatte, schaute zu Hermine auf.
„Du willst wissen, wer das ist?", höhnte er und stellte sich dicht an das bewegungslose Mädchen heran. „Nun gut, ich warte, bis es soweit ist... ihr sollt wenigstens verstehen können... damit ihr begreift, wie leichtgläubig ihr doch seid. Seht genau hin..."
Noch während er sprach, begann sich die bewusstlose Yuri plötzlich zu verändern. Ihr Gesicht schien in Sekundenschnelle zu altern, ihre Schönheit schwand allmählich. Ihre makellose Haut bekam Falten, wurde noch bleicher, als sie ohnehin schon war, und spannte sich über ein ausgemergeltes Gesicht. Die zarten Hände verwandelten sich in die einer älteren Frau, und der schlanke Körper zog sich in die Länge, sodass der Wintermantel um einige Nummern zu groß wirkte. Die seidig glänzenden Haare wurden zottelig und verfilzt, sodass sie aussahen, als ob man sie jahrelang nicht gekämmt hätte. Auch wenn sie die Augen nicht geöffnet hatte, erkannte Harry sofort, wer es war.
Bellatrix Lestrange, Sirius' Cousine, seine Mörderin...
Bei diesem Gedanken spürte Harry eine noch nie gekannte Wut in sich aufkeimen, sie war stechend heiß und breitete sich wie ein starkes Gift in seinem ganzen Körper aus. Sirius' Mörderin... hätte er jetzt seinen Zauberstab bei sich, hätte er Sirius rächen können...
„Jetzt bist du nicht mehr böse auf mich, weil ich ihr einen Fluch auf den Hals gejagt habe, oder, Potter?", wisperte Malfoy in stechendem Ton. „Nur zu, räche Black... ach nein, ich vergaß, dass du deinen Zauberstab bedauerlicherweise nicht bei dir hast", fügte er mit gespieltem Mitgefühl hinzu.
Harry schluckte. Malfoy hatte recht, es brachte ihm nichts, vor Wut zu schäumen und blindlings anzugreifen, denn ohne seinen Zauberstab war er so gut wie machtlos.
„Seit wann ist Yuri ersetzt worden?", presste Harry zwischen den Zähnen hervor und mühte sich, ruhig zu klingen.
„Oh, noch nicht allzu lange, erst seit heute morgen", antwortete Malfoy gelassen, „es war nicht besonders schwer, die Limosine zu überfallen, und Yuri in unsere Gewalt zu bringen, denn sie hatte ihren Zauberstab wie ihr nicht bei sich ... und diesen lächerlichen Baldock schließlich mit dem Imperviusfluch zu belegen war das reinste Kinderspiel."
„Daher also der Kratzer im Auto", murmelte Hermine Ron und Harry zu.
„Exakt, Granger", sagte Malfoy, „ein Fluch hat – versehentlich – die Tür getroffen. Aber ich denke, Cornelius wird durchaus noch das nötige Kleingeld besitzen, um den Schaden zu beheben", fügte er höhnisch hinzu.
„Aber was war mit –", setzte Ron an, doch Malfoy unterbrach ihn.
„Oh, du denkst, euer atemberaubender Schutz hätte mich versucht, aufzuhalten, Weasley? Dieser Mundugus war so betrunken, er hätte mir womöglich noch geholfen, Yuri in den Kofferraum zu manövrieren", sagte er und sein spitzes, kaltes Lachen schallte durch die Halle.
Nun trat Malfoy von Bellatrix weg, hob abermals den Zauberstab und richtete ihn auf Yuri, die den ihren ebenfalls aus dem Ärmel zog und sich wieder direkt vor Harry, Ron und Hermine stellte.
„Nun, kämpfe... und sei dankbar dafür, dass ich dir die Chance gebe, dich zu verteidigen."
„Stellt euch hintereinander auf", flüsterte Yuri ihnen mit scharfer Stimme zu, „und bewegt euch nicht, verstanden?"
„Sei nicht dumm, Mädchen, und häng dir einen Klotz ans Bein", zischte Malfoy verärgert, „das wird dich in den Tod reißen!"
Harry war zwar ihrer Anweisung gefolgt, doch er spürte, dass sich sein Herz schwerer als ein Stein anfühlte.
„Aber ich -"
„Bitte, Harry, tu es einfach", wisperte sie eindringlich, wandte sich jedoch nicht zu ihm um. „Bitte."
Mit einem flauen Gefühl im Magen fügte Harry sich ihr, doch er war ohnehin größer als sie, sodass er das Geschehen mühelos verfolgen konnte; ganz im Gegensatz jedoch zu Hermine, die sich dicht hinter Ron gekauert hatte und vermutlich nicht mehr als seinen Umhang sah.
„Locomotor Mortis!", rief Malfoy und schwang seinen Zauberstab durch die Luft.
Der Fluch prallte allerdings an Yuri ab, so wie damals in dem Zaubererduell zwischen Cho und ihr.
„Schön", knurrte er aus einem zuckenden Mundwinkel, „noch magst du den Firmatezauber vielleicht anwenden können, aber sobald dein Herz schneller schlägt, zerfließt dein nettes kleines Schutzschild wie Schnee im Feuer."
„Impedimenta!", schrie Yuri und schleuderte Malfoy gegen einen schneeweißen Beistelltisch am Rande der Halle. Die Vase mit den weißen Rosen, die zuvor noch darauf gestanden hatte, zerbarst mit einem hässlichen Splittern, als sein Kopf hart dagegen prallte. Mit tränenden Augen zog sich Malfoy einen besonders langen, blutigen Splitter aus dem Hinterkopf und warf ihn zornig zur Seite.
„Na warte, das wirst du mir bezahlen!", keuchte er wütend.
Noch bevor er aber die Hand heben konnte, donnerte Yuri „Impervius!"
Von einer Sekunde zur anderen entspannte sich sein Geischtausdruck, es schien, als würde er mit offenen Augen schlafen. Yuri sagte zwar nichts, doch wie von Geisterhand richtete seine Hand den Zauberstab auf sich und langsam öffnete sich Malfoys Mund -
„Crucio!"
Hermine stieß einen spitzen Schrei aus; offenbar hatte Malfoy den Fluch abgeschüttelt, denn sein Gesichtsausdruck war nun, da er Yuri getroffen hatte, höchst triumphierend.
„Yuri", stöhnte Harry matt.
Sie zitterte fürchterlich am ganzen Körper und atmete sehr schwer, doch sie schrie, noch weinte nicht.
„Was willst du, Malfoy?", sagte sie mit vor Zorn und Schmerz zitternder Stimme.
„Kannst du dir das nicht denken, Mädchen?", schnarrte er und zog die kaum sichtbaren Augenbrauen hoch.
„Sonst hätte ich nicht gefragt, oder?"
Malfoy grinste. „Das Windherz", flüsterte er deutlich und seine Augen weiteten sich. „Wenn du mir sagst, wo es sich momentan befindet, lasse ich dich am Leben."
„Wozu will Voldemort es haben?", fragte sie laut, doch Harry merkte ihr deutlich an, wie schwer es ihr fiel, zu reden.
Harry fühlte sich furchtbar. Nur wegen seiner Unachtsamkeit musste Yuri leiden, und er konnte ihr nicht einmal helfen. Ihm war fast, als wäre er selbst von dem Cruciofluch belegt.
„Tut es nicht weh?", erkundigte sich Malfoy mit sanfter Stimme. „Es liegt an dir, ob ich den Zauber aufhebe..."
„WARUM WILL VOLDEMORT DAS WINDHERZ HABEN?", brüllte Yuri; ihre Knie hatten nachgegeben, und nun kniete sie, immer heftiger zitternd, auf dem eiskalten Marmorboden.
„Warum?", wiederholte Malfoy langsam und blickte zu ihr hinab. „Nun, du müsstest wissen, dass das Windherz der Schlüssel zu großer Macht ist, Mädchen. Wenn der Dunkle Lord dieses Herz besitzt, hat er sein großes Ziel endlich erreicht."
„Welches Ziel?", fragte Harry.
Malfoys Augen hefteten sich nun an Harry und musterten ihn, als hätte er eben erst bemerkt, dass auch Harry anwesend war. „Das edle Ziel des Dunklen Lords ist es, den Tod zu besiegen", antwortete er in einem beinahe feierlichen Ton und ein wahnsinniges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Das ist verrückt, einfach verrückt", ertönte Rons Stimme; allerdings sprach er so leise, dass nur Harry und Hermine ihn hören konnten.
„Was ist Macht... Sie ist weder gut noch schlecht... sie gibt nur das Gefühl von grenzenloser Vorstellungskraft",wisperte Yuri zu Harrys Füßen; ihre Stimme klang ein wenig seltsam, als wäre es jemand anderes, der sprach, doch Harry bemerkte, dass sie nicht mehr zitterte.
Plötzlich richtete sich Yuri auf, als ob sie niemals verletzt worden war und hielt den Zauberstab auf Malfoys Brust.
„Voldemort kriegt das Windherz niemals, es gehört mir", sagte sie kalt.
„Ach tatsächlich?", höhnte er, auch wenn ihm der in seine Brust gebohrte Zauberstab nicht sonderlich angenehm zu sein schien. „Der Dunkle Lord war es immerhin höchstpersönlich, der dich ins Herz gesperrt hat."
Yuri hielt den Atem hat. „Wa -? Er hat -?"
„Ganz genau, er war es", bestätigte Malfoy, „zuerst hat er deine Mutter umgebracht, dann wollte er auch dich töten, o ja... Doch ihm fiel ein, dass du ihm später durchaus noch von Nutzen sein könntest, deswegen ließ er dich am Leben, als eine geheime Kraftreserve... dass ihm später ein kleines Baby derart zusetzen würde, damit hatte mein Meister selbstverständlich nicht gerechnet. Dennoch... der äußerst nützliche Fluch des Windherzes ist nicht verloren gegangen."
„Voldemort bekommt das Herz niemals, niemals", schrie Yuri wie von Sinnen und hielt Malfoy mit einer blitzschnellen Handbewegung den Mund zu. „Sagen Sie ihm das, verstanden? Los, SOFORT - oder ich bringe Sie um."
Malfoy lief, soweit dies möglich war, noch ein wenig bleicher an und starrte Yuri mit einem Blick an, als wollle er sagen „Das würdest du nicht tun."
„Ich mache keine Scherze", sagte sie eisig. „Hier, hören Sie genau hin – Avada Kedav-"
Ploff – Malfoy war apperiert, und wo eben noch seine schwarze Kutte gewesen war, befand sich nun nichts als Luft.
Bellatrix Lestrange allerdings lag nach wie vor regungslos auf dem Marmorboden. Yuri ließ den Zauberstab sinken und starrte auf ihr ausgemergeltes Gesicht, das noch immer keine Reaktion zeigte.
„Wer ist das?", fragte sie; ihre Stimme war nun wieder so wie immer, doch sehr matt.
Harry, Ron und Hermine traten nun auch heran und musterten Bellatrix, deren Miene wie versteinert war.
„Das ist Bellatrix Lestrange, eine treue Anhängerin Voldemorts... und Sirius' Mörderin", erklärte Harry tonlos. „Sie ist aus Askaban geflohen."
„Sie muss hier raus", sagte Yuri bestimmt, „vielleicht sollte ich sie noch einmal – ja, das ist bestimmt besser... Pertrifcus Totalus! Ich hoffe, Ed kann sie nachher wegbringen."
„Wohin denn?", fragte Harry verdutzt. „Willst du sie irgendwo aussetzen lassen?"
„Außerdem sucht das Ministerium doch wie verrückt nach den Todessern, die aus Askaban ausgebrochen sind, und auf diese Typen haben sie eine Unmenge an Kopfgeld ausgetzt", ergänzte Ron, der seinen Fassung inzwischen wiedergewonnen hatte. „Wieso willst du Lestrange dann laufen lassen?"
„Ich glaube nicht, dass Yuri es auf das Geld abgesehen hat, Ron", zischelte ihm Hermine zu. Dann wandte sie sich Yuri zu und sagte mit ernster Stimme: „Aber Ron hat recht, es wäre dumm, Bellatrix laufen lassen, denn sie ist Voldemorts rechte Hand. Wenn wir sie doch nur in einen Raum bringen könnten, wo man nicht apperieren kann... dann hätten wir eine wertvolle Geisel."
„Und noch einen Grund mehr am Hals, weshalb die Todesser hierher kommen wollen", fügte Harry in sarkastischem Tonfall hinzu.
„Ich hab' keine Ahnung, wie man einen Raum schafft, in dem man nicht apperieren kann", sagte Yuri nachdenklich. „Aber gut, wenn ihr meint, wir sollten sie vorerst behalten... dann soll es so sein."
Nun zückte sie abermals den Zauberstab und ließ Seile wie dünne Schlangen daraus hevorschießen, die sich fest um Bellatrix' Handgelenke, Hüfte und Füße schnürten.
„Tut mir Leid, dass so etwas passiert ist", sagte Yuri entschuldigend.
„Du kannst doch nichts dafür!", warf Hermine rasch ein und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Aber.. was ist mit den Wachen, die dich festgehalten haben?"
„Ach, die", erwiderte sie düster, „die haben sofort kalte Füße bekommen und sind apperiert, sobald ich frei war."
„Glaubst du, wir sind hier sicher?", fragte Hermine besorgt und legte die Stirn in Falten. „Ich meine, die Todesser könnten wiederkommen, oder nicht?"
„Wenn Bellatrix hier gefangen ist, wird es sicher nicht lange dauern, bis sie hier auftauchen", bemerkte Harry.
„Nun ja, ich denke, der Orden wird uns das nächste Mal eine bessere Beschattung schicken", meinte Yuri.
„Mum wird Mundugus das Leben zur Hölle machen, das schwöre ich euch", versicherte ihnen Ron und hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.
„Ich glaube, ich stelle heute Abend noch ein paar Fallen auf... nur zur Sicherheit, man kann nie wissen", sagte Yuri und hob die Arme. „Aber jetzt schaffe ich erstmal Ordnung hier... Repar! Ratzeputz!"
Im nächsten Augenblick waren alle Spuren des Kampfs aus der Halle verschwunden, selbst die Vase hatte sich wieder zusammengesetzt und sah wie neu aus.
„Sag' mal, darfst du in den Ferien eigentlich zaubern?", fragte Ron plötzlich.
„Oh, na ja... der Tochter des Zaubereiminsters schreibt kein Angestellter eine Mahnung", antwortete Yuri mit einem schiefen Lächeln.
Harrys Blick fiel auf die alte Dame, die noch immer den Staubwedel umklammerte, mit der sie kurz zuvor noch Bellatrix zu Boden gestoßen hatte. Ihre ordentlich frisierten Haare hingen nun wirr in ihrem faltigen, aber liebevollen Gesicht, ihre blau getönte Brille aber saß unbeschädigt auf ihrer Himmelfahrtsnase. Yuri seufzte leise und kniete sich zu ihr.
„Miss McClaggan", flüsterte sie und legte die Hand auf ihre Stirn. „Ich hoffe, Sie haben nicht zu sehr gelitten..."
Miss McClaggan schlug die Augen auf. Sie hob eine ihrer dürren Hände und umarmte Yuri.
„Oh, Yuri, es war dieser Mensch, er hat von mir Besitz ergriffen", sagte sie mit heiserer Stimme und schnäuzte sich die Nase in einem weißen Spitzentaschentuch.
„Ich weiß, ich weiß... es ist schon gut. Machen Sie sich keine Sorgen."
Miss McClaggan war eine äußerst freundliche alte Frau. Nachdem sie Harry, Ron und Hermine willkommen geheißen hatte, wuselte sie in die Küche, um für sie „den Nachmittagstee zusammenzustellen".
„Das Nachmittagstee zusammenstellen?", wiederholte Hermine verdutzt, als sie verschwunden war.
„Sie meint, sie sagt den Hauselfen bescheid, was sie zubereiten sollen", erklärte Yuri.
„Ihr habt Hauselfen?", fragte Hermine spitz, verzog jedoch keine Miene; Ron ließ ein seltsames Husten vernehmen.
„Keine Sorge, es geht ihnen hier gut", versicherte Yuri ihr lächelnd. „Mobilcorpus."
Bellatrix' Körper erhob sich und schwebte gut einen Meter über dem Boden, als läge sie auf einer unsichtbaren Bahre. „Wollt ihr euch ein bisschen umsehen?"
Harry war sehr froh, dass sie Yuri bei sich hatten - auch wenn Bellatrix, die sie wie eine gruselige Fahne hinter sich her zog, ein wenig seltsam hinter ihnen wirkte – denn das Haus war so riesig, dass er sich ziemlich sicher war, sie hätten sich verlaufen.
Es gab Unmengen an Sälen, Türen, Pforten, Hallen, Balkons, Türmen, Treppen und Zimmern. Die Badezimmer waren mindestens so schön wie das der Vertrauensschüler, und überall standen Vasen mit herrlichen Lilien – offenbar schien Fudge diese Blumen besonders zu mögen. Alles war in Weiß gehalten, und nur ab und zu stachen ein paar bunte Sachen hervor. Es gab sogar ein großzügiges Schwimmbad in einem Wintergarten, der auf einer Art riesiger Veranda gebaut war und einen runden Tanzsaal, der wohl für Feste gebraucht wurde. Hermines Stimmung hob sich beträchtlich, als Yuri ihnen die eigenen Schlafräume der Hauselfen zeigte und eine riesige Bibliothek, die Harry schon aus der Okklumentikstunde kannte, als er gegen Yuris Zauber angekämpft hatte. Sie barg tatsächlich unzählige Bücher und sah genauso aus, wie Harry sie in Erinnerung hatte. Hermine wollte gleich zu einem besonders hohen Regal losstürmen, doch Ron hielt sie am Arm fest.
„Willst du nicht den Rest vom Haus sehen? Außerdem gibt es gleich Tee..."
„Oh doch, schon", sagte sie verlegen und folgte ihnen aus der Bibliothek, auch wenn sie dabei einen leicht wehmütigen Ausdruck auf dem Gesicht hatte.
Am Ende eines langen Flures hielt Yuri vor einer ausladenden, hohen Tür mit schmalen Flügeln an, die fast bis zur Decke reichte.
„Hier geht's zu meinem Zimmer", erklärte sie und strich mit dem Zeigefinger sanft über den Lack; Harry erinnerte sich an seinen ersten Tag in der Zaubererwelt, an dem er mit Hagrid zusammen den Stein der Weisen aus einem Verlies geholt hatten – auch damals hatte Griphook die schlosslose Tür mit dem Finger gestreichelt. Die Flügeltüren klappten augenblicklich zur Seite und gaben den Blick auf ein kreisrundes Zimmer frei. In der Mitte erkannte Harry Yuris Himmelbett wieder, noch immer hatte es schneeweiße Vorhänge und bot mindestens für drei Personen Platz. An den Seiten standen Schränke, Tische, Stühle und ein großes Meeresaquarium, in dem sich die fremdartigsten Gestalten tummelten ( Ron machte große Augen, als sich ein Kugelfisch aufblies ). Als Harry den Kopf hob, erblickte er eine kunstvoll bemalte Gewölbedecke, auf der sich ein seltsamer Stern abzeichnete, der aus fünf zusammengesetzten Teilen zu bestehen schien. In jeder Raute war ein anderes Wesen zu sehen: Ein Schwan, ein Schimmel, eine Gans, eine Taube und ein Hermelin im Winterfell.
„Hübsches Zimmer", sagte Ron und besah sich einem antik wirkenden Schachbrett näher, das auf einem Sockel stand.
Hermine jedoch betrachtete stirnrunzelnd die in der Luft hängende Bellatrix. „Hast du vielleicht einen starken Schlaftrank hier?", fragte sie plötzlich und blickte sich um, als hoffte sie, jemand würde aus dem Nichts auftauchen und ihr ein Fläschen in die Hand drücken.
„Ich glaube ja", entgegnete Yuri und öffnete einen Schrank. Harry hörte, wie sie verschiedene Flaschen zur Seite schob und Hermine schließlich ein schmales, dünnes Fläschen mit einem kunstvoll verzierten Stöpsel reichte. „Ein Tropfen genügt für eine Woche, denke ich."
„Sehr gut, das wird reichen", sagte Hermine zufrieden, öffnete das Gefäß und träufelte Bellatrix einen Tropfen in den Mund. „Jetzt müssen wir sie nur noch irgendwo verstecken... habt ihr vielleicht einen Keller?"
„Ich glaube, ich weiß etwas besseres", erwiderte Yuri nachndenklich und schnipste dreimal mit dem Finger. Kaum hatten sich Daumen und Zeigefinger zum dritten Mal voneinander abgestoßen, schien der Boden unter ihren Füßen plötzlich zu vibrieren. Auch die Schachfiguren auf dem Sockel fielen um und rollten über den Boden. Yuri jedoch nickte mit dem Kopf nach oben, und so sah Harry, was dieses Zittern verursacht hatte: Der Teil des Sterns an der Decke, auf dem ein Schwan gemalt war, hatte sich von seinem Platz gelöst und schwebte langsam zu ihnen herunter, wie ein gespentischer Aufzug. Nun konnte Harry sehen, dass es eine Art rautenförmige Kiste war, in die gut zwei Erwachsene gepasst hätten.
„Da soll sie rein?", fragte Hermine verwirrt, als Yuri Bellatrix mit ihrem Zauberstab in die Kiste manövrierte.
„Ist doch ein gutes Versteck, oder?", meinte Yuri zufrieden und schnipste erneut dreimal, sodass sich der Stern wieder vervollständigte. „Nach sechs Tagen hole ich sie wieder raus."
Der Nachmittagstee, wie ihn Miss McClaggan nannte, erwies sich als eine dreistöckige Torte, eine Etagère voll von Pralinen und vier Kannen Tee von verschiedenen Sorten. Nachdem sich Harry, Ron und Hermine reichlich bedient hatten, führte Yuri sie durch den Garten. Er war wie das Haus sehr groß und hatte hübsche Teiche und Brunnen, prächtige Blumenbeete und die unterschiedlichsten Pflanzen.
„Euer Garten erinnert mich ein bisschen an Versailles", sagte Hermine beeindruckt, als sie an einer Reihe pyramidenförmig geschnitttenen Buchsbäumen vorbeikamen.
„Ist das was zu Essen aus Frankreich?", erkundigte sich Ron.
Nach einem üppigen Abendessen ( Harry, Ron und Hermine quälten sich aus Höflichkeit durch ein fünfgängiges Menü, auch wenn das Dessert höchstens noch in ihren Wangen Platz fand ) war es bereits elf Uhr, und Miss McClaggan bestand darauf, dass sie pünktlich zu Bett gingen. Harry und Ron teilten sich ein großes Gästezimmer mit zwei Betten, das nicht weit von Yuris Zimmer entfernt lag – worüber sie froh waren, denn ohne Hinweisschilder hätten sie wohl kaum die Toilette oder gar das Esszimmer gefunden. Hermine jedoch hatte kein eigenes Zimmer, denn sie schlief bei Yuri.
Als Harry und Ron bei den beiden vorbeischauten, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen, sahen sie, dass neben Yuris Himmelbett ein ähnlich großes, zweites Exemplar aufgestellt worden war; Harry vermutete, dass es die Hauselfen dorthin getragen hatten. Hermine saß bereits in einem hellrosafarbenen Nachthemd darauf und studierte die Seiten eines dicken Buches, das sie wohl aus ihrem geöffneten, vor Büchern überschäumenden Koffer geholt hatte, den sie nebem dem Bett plaziert hatte.
„Wo ist Yuri?", wollte Harry wissen.
„Sie meinte, sie geht ein paar Fallen aufstellen, falls ein Todesser auftauchen sollte", sagte Hermine leichthin, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
„Was für Fallen denn?", fragte Harry verdutzt und dachte an Yuris ungewöhnliche Sicherheitsvorkehrungen, die sie in der Heulenden Hütte arrangiert hatte.
„Keine Ahnung."
Zurück in ihrem Zimmer zogen sich Harry und Ron ihre Pyjamas an und wuschen sich in dem angrenzenden Badezimmer ( sie widerstanden der Versuchung, einen der goldenen Hähne an der poolgroßen Badewanne aufzudrehen ). Ron sprang als Erster auf sein Bett.
„Voll krass", hauchte er und drückte begeistert mit der Hand auf die Matratze, „das ist ein Wasserbett!"
„Ein was?"
„Ein Wasserbett! Leg dich mal drauf!"
Harry probierte es aus. Es fühlte sich an, als würde er auf einer dicken Schicht Götterspeise liegen; anfangs hob und senkte er den Rücken immer wieder, in der Hoffnung, der Untergrund würde ein wenig fester werden, doch bald hatte er sich daran gewöhnt und kuschelte sich in das weiche Kopfkissen und die große Daunendecke, die sogar über den Bettrand hinaushing.
Harry hätte nicht gedacht, dass Yuri in solch einem Haus lebte. Gewiss, ein Zaubereiminister verdiente bestimmt nicht allzu schlecht, und doch... vielleicht hatte Fudge die Häuser von seinen Vorfahren geerb ? Oder gehörten sie ihm überhaupt nicht?
Plötzlich erinnerte sich Harry an den Tag, an dem er Yuri zum ersten Mal getroffen hatte und ihr den Gemeinschaftsraum der Gryffindors gezeigt hatte. Er sah ihr fröhliches Gesicht klar und deutlich vor seinen Augen... „Oh, es ist toll hier! Besser als bei mir zu Hause..."
Harry fühlte sich im Turm der Gryffindors zwar mehr zu Hause als irgendwo anders auf der Welt, doch er konnte nicht verstehen, weshalb Yuri es dort besser gefiel als in ihrer riesigen Villa.
Hier hatte sie alles, was man sich nur wünschen konnte, alles, worauf die Dursleys mühsam sparten...
Poff.
Harry wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen und richtete sich instinktiv im Bett auf, wobei er noch ein wenig tiefer sank. Rasch fischte er seine Hausschuhe unter dem Bett hervor, setzte sich seine Brille auf und warf sich einen Morgenmantel über, der verlassen über einem Stuhl hing. Er hielt kurz inne und überlegte, ob er Ron wecken sollte, doch er ließ es bleiben – vermutlich war es ohnehin nur ein Hauself oder Miss McClaggan, die prüfen wollte, ob sie auch schon im Bett lagen und schliefen. In diesem Falle würde er sich wohl entschuldigen müssen, doch die Neugierde ließ ihn unwillkürlich die Tür einen Spalt breit öffnen. Draußen stand tatsächlich jemand und tat etwas Ungewöhnliches, doch es war weder ein Hauself, noch Miss McClaggan.
Es war Yuri, die auf dem Flur hockte und einen Teppich betastete, den sie wohl gerade erst dort hingelegt hatte, denn Harry konnte sich nicht entsinnen, einen solchen vorher gesehen zu haben. Sie fuhr mit der Spitze ihre Zauberstabs um den Rand des Teppichs herum und murmelte dabei einige unverständliche Worte. In der anderen Hand hielt sie eine ausgeschaltete Taschenlampe. Harry öffnete die Tür nun ein wenig weiter und trat leisen Schrittes zu ihr.
„Was machst du da? Ist das eine deiner Fallen für die Todesser?"
„Oh, Harry, du bist's", stieß Yuri überrascht hervor und richtete sich rasch auf. Sie klang ein wenig unruhig und versteckte hastig die Taschenlampe hinter ihrem Rücken. „Ich dachte, du schläfst schon."
„Warum versteckst du diese Taschenlampe? Was ist los?", fragte Harry und versuchte, in ihre Augen zu blicken, doch sie wandte den Blick entschieden ab.
„Das – ähm", stammelte sie verlegen und schielte auf Harrys linkes Knie.
„Was ist los?", wiederholte Harry.
„Nichts, ich – geh wieder ins Bett, Harry, es ist alles in Ordnung-"
„Nichts ist in Ordnung", widersprach er bestimmt. „Was soll das Ganze? Erzähl mir nicht, du hättest Lust gehabt, ganz zufällig heute Nacht einen Teppich in den Flur zu legen und anschließend noch einen hübschen Spaziergang im Garten zu machen." Etwas beinahe Flehendes lag in seiner Stimme, auch wenn er es gar nicht beabsichtigt hatte.
„Nein, es – bitte, Harry", sagte sie leise und schaute ihm nun doch in die Augen; selbst in der Dunkelheit, die im Flur herrschte, funkelten sie seltsam hell. „Ich will dich nicht weiter mit reinziehen, es ist allein meine Angelegenheit."
Harry schluckte. „In was reinziehen? Wovon redest du? Sag's mir!", drängte er in scharfem Ton. Er sah, wie ihre Augen plötzlich feucht glänzten, und bereute es zugleich, dass er das Fallen des Teppichs überhaupt gehört hatte.
„I – ich will nicht, dass dir was passiert, okay?", flüsterte sie und senkte den Kopf; Harry spürte, wie sich sein Magen unangenehm zusammenzog. „Aber ich will dich auch nicht anlügen, ich kann das einfach nicht, also...", sie zeigte ihm die unscheinbare, schwarze Taschenlampe, „... das ist ein Portschlüssel... und gleich ist Mitternacht. Halt dich fest."
