Der Zaubereiminister
Harry schlug die Augen auf und setzte fast lautlos gähnend seine Brille auf. Sogleich wurden alle dunklen Umrisse der Möbel klarer, durch das Fenster schien nun allmählich schwaches Licht zu gleiten und Rons gleichmäßiges, unüberhörbares Atmen sagte ihm, dass er noch tief und fest schlief. Als er sich aufsetzte, versank er tief in die Matratze und hievte sich nur mühsam hoch, denn er war noch recht zittrig am ganzen Körper, selbst seine Hand vibrierte leicht.
So leise wie er konnte, streifte er sich seine Hausschuhe über und schlich nach draußen, um sich im Bad zu waschen. Im Gang wäre er beinahe mit Yuri zusammengestoßen, die bereits komplett angezogen war und eine Plastiktüte in den Armen hatte, in der sich eine Art gelblicher Schleim befand.
„Was ist das denn ?", fragte Harry argwöhnisch, ohne an ein „Guten Morgen" oder etwas Ähnliches zu denken. „ Doch nicht etwa Bobutoubler-Eiter ?"
„Doch, genau. Ich glaube, ich habe irgendwo weiter auf dem Gang ein bisschen vom Eiter verschüttet...", sagte sie mit leiser Stimme und stellte den Sack ab. „Weißt du, ich habe gerade alle Fallen abgebaut, weil ich nicht möchte, dass Dad etwas von den Todessern erfährt."
Harry klappte der Mund auf. „Wie bitte ? Warum haben wir Bellatrix denn sonst noch hier ?", fragte er ungläubig und schüttelte dabei unwillkürlich den Kopf.
„Hast du nicht an den Orden gedacht ? Er wird mehr mit ihr anfangen können als das Ministerium", erklärte sie. „Für Dad wäre das nur ein falscher Erfolg... ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm das nicht gut tut, glaub mir..."
„Nette Idee, aber wie willst du Bellatrix nach England schaffen ? Du kannst zwar apperieren, aber du kannst keine zweite Person mitnehmen, oder ?", fragte Harry zweifelnd.
„Nun ja, ich dachte daran, dass Dumbledore sie vielleicht am Ende der Ferien hier abholen könnte... er hat sicher keine Probleme damit, mehr als eine Person zu transportieren", erwiderte Yuri prompt. Es klang ganz so, als ob sie sich diesen Plan schon gestern Abend zurechtgelegt hatte.
Harry schwieg. Er stand ihr nur gegenüber und sah sie unentwegt an... Obwohl sie beide im Schatten standen, sah er ihre dunkelblauen Augen, die zwar leicht verwirrt, aber direkt in die seinen blickten, als ob sie niemals mehr woanders hin schauen würden.
Zwischen ihnen zeichnete sich auf dem Fußboden der Umriss des Fensterrahmens ab, denn die ersten Lichtstrahlen krochen in den Gang hinein, der von dicken Säulen gesäumt war...
Warum war Yuri nur nach Hogwarts gekommen ? Hier hatte sie alles, was sich ein Mensch wünschen konnte, alles, wovon man träumen konnte...
„An was denkst du, Harry ?", fragte sie leise.
Harry richtete den Blick in die Ferne und versuchte, für seine Gedanken die richtigen Worte zu finden. Schließlich fand er einen Ansatz. „Erinnerst du dich an deinen ersten Tag in
Hogwarts ?"
„Ich werde ihn nie vergessen, denn das war der schönste Tag meines Lebens", antwortete sie und ein glückliches Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, während sie in der Erinnerung daran zu schwelgen schien.
„Yuri... das – das verstehe ich nicht... du hast hier doch einfach alles, was man sich kaufen kann -"
„Da hast du es", warf sie ein und ihr Gesicht nahm wieder einen ernsten Ausdruck an. „alles, was man sich kaufen kann ! Glaubst du, allein damit ist ein Mensch glücklich ?"
Harry starrte sie an. Er wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Bei den Dursleys hätte er vor ein paar Jahren alles dafür gegeben, um einen Fernseher wie Dudley einen hatte zu besitzen, doch inzwischen war sein Interesse dafür vollkommen verflogen. Doch weshalb es so war, konnte er sich nicht erklären.
Yuri schluckte und machte vorsichtig einen Schritt vor das Fenster, sodass Harry ihr hübsches Gesicht deutlicher als zuvor sehen konnte.
„Hör mir zu, Harry...", wisperte sie und sah ihn eindringlicher als jemals zuvor an. „Das hier ist all die Jahre lang wie ein Gefängnis für mich gewesen... ein goldener Käfig. Ich bin froh, endlich woanders zu Hause sein zu können. Ich habe es gehasst, diese endlosen Gänge auf und ab zu laufen, dieses ewige Weiß überall anstarren zu müssen..."
„Aber warum ? Hier sind Menschen, die dich lieben, hier ist –"
„Nein, hier war nie jemand, der mich wirklich geliebt hat, Harry", korrigierte sie ihn; Harry bemerkte einen fast bitteren Unterton in ihrer Stimme.
Harry runzelte die Stirn. „Was ist mit Fud – ich meine, deinem Vater ?"
Yuri senkte den Kopf, sodass ihr Gesicht von ihren Haaren bedeckt war und sagte eine Weile nichts, bevor sie den Mund öffnete. „Warte hier."
Bevor Harry ein Wort sagen oder auch nur Luft holen konnte, war Yuri bereits in ihrem Zimmer, so vermutete er, verschwunden und kam kurze Zeit später mit einer Schale in den Händen zurück, deren Inhalt Harry sehr bekannt vorkam.
„Mein Denkarium", eröffnete sie ihm und stellte es auf einem nahe stehenden Tisch ab. „Hier drin ist meine Erinnerung aufbewahrt, die ich dir zeigen will... dann verstehst du, was ich meine." Sie schüttelte ihren Zauberstab aus dem Ärmel ihres Pullovers und rührte damit in der silbrigen Flüssigkeit umher, in der sich rasch ein kleiner Strudel bildete, als hätte man einen Stöpsel aus der Schale gezogen.
Plötzlich spürte Harry einen Hieb im Rücken, als ob ihn jemand mitten in die Schale gestoßen hätte, und wie er es schon kannte, fiel er mitten durch die silbrige Flüssigkeit und landete bäuchlings auf festem Untergrund. Hastig rappelte er sich auf und blickte sich um. Er schien sich in einem Gang des Hauses zu befinden, den er allerdings vorher noch nicht betreten hatte. Der Aussicht nach zu urteilen musste er sich im obersten Stockwerk befinden. Der Gang war wie die übrigen von dicken, mächtigen Säulen gesäumt, die sich in dem endlos wirkenden Korridor verloren. Viele Türen waren zu beiden Seiten angereiht, sie wirkten schwer und dick. Erst jetzt bemerkte er, dass sich jemand hinter ihm annäherte. Instinktiv wirbelte er herum und wollte nach seinem Zauberstab greifen, den er allerdings nicht bei sich hatte - er musste ihn wohl im Schlafzimmer liegen gelassen haben; doch es war nur Yuri, wenn auch um einige Jahre jünger. Vermutlich musste sie um die elf Jahre gewesen sein, auch wenn sie um mindestens zwei Köpfe kleiner war als Harry und ein hellblaues Kleid trug, das aussah, als würde es eigentlich einer Porzellanpuppe gehören.
Sie machte ein gleichmütiges Gesicht, als ob sie nur zufällig in den Korridor geraten wäre und lief weiter den Gang entlang, schnurstraks an Harry vorbei. Er wollte ihr gerade nachlaufen, als sie abrupt anhielt und den Kopf einer Tür zuwandte, die nur angelehnt war. Harry eilte zu ihr um auch ja nicht zu verpassen und nun hörte er auch die Stimmen, die zu ihnen hinaus drangen.
Yuri schien neugierig geworden zu sein und lugte vorsichtig durch den Türspalt. Harry tat es ihr gleich und sah Cornelius Fudge an einem großen, blank polierten Schreibtisch sitzen, ihm gegenüber stand Miss McClaggan mit einem wichtig aussehenden Pergament in der Hand. Sie hielt es offenbar nicht für nötig, sich auf dem Sessel niederzulassen, der wohl für Fudges Besucher gedacht war. Für einen Moment erwägte Harry, die Tür zu öffnen und einfach in das Büro zu marschieren, denn er wusste, dass ihn niemand sehen konnte, aber dann entschied er sich doch dafür, bei Yuri zu bleiben.
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, nieste Yuri laut und sofort hob Fudge den Kopf zur Tür hin. Yuri jedoch reagierte schneller: Rasch war sie vom Spalt verschwunden und presste nun ihr Ohr gegen die Tür. Harry dagegen blieb stehen und beobachtete weiterhin Fudge, der sich nun wieder Miss McClaggan zuwandte.
„Ist etwas geschehen, Minster?", erkundigte sie sich und schaute ihn fragend an.
„Oh nein, meine Liebe, ich dachte nur, da – nun, keine Sache von großer Wichtigkeit, fahren Sie bitte fort", sagte Cornelius Fudge knapp.
„Nun, wie ich schon sagte, Hogwarts hat der kleinen Yuri die Aufnahme an der Schule schriftlich angesagt", sagte Miss McClaggan und ihre Falten formten ein stolzes Lächeln. „Ist das nicht wunderbar, Minister? Unsere Yuri wird endlich eine normale Schule besuchen können, nach all den Jahren -"
„Ich halte das für keine gute Idee", warf Fudge kühl ein.
Miss McClaggan riss ungläubig die Augen auf. „Warum wollen Sie Yuri nicht gehen lassen? Ihr Lehrer hat seine Aufgabe erledigt, er muss ohnehin bald wieder ins das Minsterium, das hat er mir schon seit einiger Zeit angedeutet. Yuri ist eine hervorragende Hexe, sie hat ihr ganzes Leben kaum etwas anderes getan als zu üben und zu lernen, sie wird keine Probleme haben, das-"
„Wie gesagt, ich möchte nicht, dass Yuri nach Hogwarts geht, solange Croaker sie noch unterrichten kann", erwiderte Fudge starrsinnig.
„Ich verstehe Sie einfach nicht, Minister, Hogwarts ist die beste Schule für Hexerei und Zauberei, die es gibt, und Sie wollen das alles Yuri vorenthalten? Die Schulzeit ist die schönste Zeit des Lebens, sage ich immer, und Yuri hat diese Zeit verdient!"
„Wenn sie nach Hogwarts geht, heißt das, ich gebe sie in Dumbledores Obhut, Miss McClaggan", herrschte er sie an; all seine Ruhe schien verschwunden zu sein, es fehlte nicht viel, und er würde sich von seinem Sessel erheben. „Dieser Mann hat mich schon zu oft geschlagen, viel zu oft! So weit kommt's noch, dass er sogar die Erziehung meiner Tochter übernimmt!"
Miss McClaggans Kopf schien vor Fassungslosigkeit und Wut immer röter und größer zu werden, bis er langsam aber sicher einem Ballon glich. Wortlos und mit zusammengepressten Zähnen machte sie auf dem Absatz kehrt und war schon im Begriff, aus dem Büro zu stürmen, als –
„Geben Sie mir den Brief, bevor Sie das Zimmer verlassen", befahl Fudge mit eisiger Stimme und erhob sich nun doch von seinem Sessel. „Sofort."
„Was wollen Sie damit machen?", presste sie zwischen den Zähnen hervor, ohne sich umzudrehen.
Fudges Lippen kräuselten sich. „Das geht Sie nichts an", antwortete er kalt und seine Augen wurden schmaler.
Widerwillig und mit blankem Zorn im Gesicht stapfte Miss McClaggan ein paar Schritte zurück und streckte ihm die Hand aus, in der sie noch immer das Pergament umklammerte, wenngleich es inzwischen einige Knicke aufwies, da sie es vor Wut beinahe zerknüllte.
„Sagen Sie mir nur eins", sagte sie mit leiser, doch vor Zorn bebender Stimme, „wenn Sie Yuri hier weiterhin gefangenhalten wollen, warum haben Sie das Mädchen dann damals adoptiert?"
Fudge hob die Augenbrauen und überlegte kurz, bevor er antwortete. „Nun, Miss Claggan, wie Sie sich sicher entsinnen werden, brauchte ich damals die Zustimmung des Zaubergamtos, um den Platz des Zaubereiminsters einnehmen zu dürfen. Und wie, denken Sie, macht man einen besseren Eindruck, als ein kleines, kränkliches Kind aufzunehmen? Yuri war... nur ein Mittel zum Zweck-"
Er hatte sehr langsam gesprochen, und mit jedem Wort war Harry die Gefühlslosigkeit und Heimtücke in seinen Augen deutlicher geworden. Vorsichtig blickte Harry zu Yuri hinüber.
Sie lehnte noch immer an der Tür, doch sie klammerte sich daran fest, als ob unter ihr kein Boden mehr wäre. Ihre Augen füllten sich ganz allmählich mit großen, im Licht schimmwernden Tränen, genauso allmählich, wie Fudges Worte zu ihnen gedrungen waren. Einen Augenblick glaubte Harry, sie würde einen lauten Schluchzer ausstoßen, doch sie schlug nur die Hände auf dem Gesicht zusammen und fing plötzlich an zu rennen, weiter den Gang entlang, rannte, als ob sie alles hinter sich lassen wollte, alles, was es je gegeben hatte, alles, was sie eben gehört hatte...
Harry hob den Kopf und starrte Yuri an, nun wieder die sechzehnjährige. Ihre Augen sahen zwar traurig aus, doch er konnte keine Tränen entdecken.
„Ich – es", stammelte Harry; er hatte das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, doch es fiel ihm nicht das Geringste ein. Yuri wandte sich ab und blickte aus dem Fenster. Sie schwieg, und es schien Harry wie eine Ewigkeit, bis sie leise Luft holte.
„Ich hätte niemals gedacht, dass ich diese Erinnerung jemals wieder hervorholen würde... ich habe sie oft regelrecht verbannt, versucht, sie zu vergessen, doch ich hab's nie geschafft", sagte sie mit schwerer Stimme, „und ich hätte vor einiger Zeit nicht im Traum daran gedacht, dass ich sie noch einmal freiwillig durchleben wollen würde." Nun drehte sich endlich zu ihm um, und Harry war froh, ein mattes Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen. „Jetzt hast du verstanden, warum ich froh bin, in Hogwarts zu sein..."
„Das ist nicht anders als bei mir - ich war auch heilfroh, von den Dursleys wegzukommen, und das war wirklich ein Gefängnis", meinte Harry. „Nur eins verstehe ich nicht..."
„Was denn?"
„Warum willst du immer alles allein schaffen? Es gibt so viele Menschen, die dir helfen können", begann Harry zaghaft, wohl darauf bedacht, nichts falsches zu sagen, denn Yuris Augen schienen nicht das gewöhnliche Glitzern zu herbergen, vielmehr war es ein feuchtes Glänzen.
„Ich weiß es nicht, wahrscheinlich hast du recht", entgegnete sie mit zittriger Stimme, „aber ich bin es nunmal gewohnt, meine Angelegenheiten selbst zu erledigen, ich will keine Hilfe dabei... vielleicht bin ich auch einfach nur zu stolz und denke, alles selbst am besten machen zu können..."
„Übergehst du mich gerne?", brummte Harry.
„N-nein! Ich will dich nicht übergehen, aber-" Yuri stockte und senkte den Kopf, als wären dort die richtigen Worte geschrieben.
„Versprich mir was", sagte er plötzlich und augenblicklich hob sie den Kopf wieder.
„Sag schon."
„Versprich mir, dass du nie wieder etwas unternimmst, was mit Voldemort oder dem Windherz zu tun hat, ohne mir davon zu erzählen", sagte Harry und versuchte, eine ernste Miene zu bewahren, auch wenn er kaum ein Grinsen unterdrücken konnte, als Yuri ihn vollkommen überrascht anstarrte.
„Okay, ich verspreche es dir, Harry", antwortete sie dann in feierlichem Ton und grinste. Eine Weile sahen sie sich nur an, und einen Moment schien es, als wolle Yuri einen Schritt auf ihn zu machen, doch sie tat es nicht. Es gab eine peinliche Pause, die Yuri überbrückte, als sie meinte, sie müsse jetzt dringend ihr Denkarium zurückstellen.
Der Nachmittag kam schneller, als Harry es erwartet hätte. Nach einem eisig kalten Quidditchspiel im Garten, der noch immer von einer weiß glitzernden Schneeschicht überzogen war, huschten sie in ihre Zimmer und kramten ihre Kleidung heraus, die sie mit Ed gekauft hatten. Harry jedoch hielt seinen Smoking nur betrübt in den Händen und betrachtete ihn kopfschüttelnd, ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, sich diesen Stück Stoff anzulegen.
„Den ziehe ich nicht an", sagte er bestimmt und warf Rons Anzug einen neidischen Blick zu.
„Na, so schlecht ist er doch gar nicht, hübsch grün", sagte Ron aufmunternd und versuchte, eine ernste Miene zu bewahren, auch wenn er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Harry seufzte. „Vielleicht sollte ich Yuri fragen, ob sie mir die Farbe irgendwie ändern kann", murmelte er, doch bevor er aufstehen konnte, riss ihm Ron den Smoking aus den Händen und eilte damit zur Tür.
„Hermine weiß bestimmt auch, wie man dieses scheußliche Grün verschwinden lassen kann!", sagte er und Harry meinte, einen vorwurfsvollen Unterton in seinem Tonfall herauszuhören. „Ich geh' mal rüber und frag sie -"
„Aber das kann ich doch auch machen, du musst nicht -"
„Du bleibst hier, sonst erwischt dich Ed und redet kein Wort mehr mit dir", warnte ihn Ron und schon hatte er die Tür hinter sich zugeschlagen.
Harry verstand zwar nicht, weshalb Ron weniger Gefahr laufen sollte, von Ed gesehen zu werden als er, doch er ließ sich stöhnend ins Bett fallen und rappelte sich erst dann wieder auf, als die Tür aufgestoßen wurde. Er wagte kaum, einen Blick auf seinen Smoking zu werfen, doch er hatte keine Wahl, da Ron ihn ihm mit einem „Naja, besser als vorher, oder?" vor die Nase hielt. Doch Harry war ganz und gar nichr Rons Meinung.
Das stechende Grün hatte sich in ein sumpffarbiges Braun verwandelt, das Harry stark an Hagrids Maulwurffellmantel erinnerte. Er vermutete, er würde an diesem Abend wohl mehr einem erdigen Geröllblock als einem Menschen ähneln.
„Hermine hat ihn mit einem komisch riechenden Trank aus Yuris Vorräten bearbeitet, sie darf ja nicht zaubern... ähm... sie meinte, das Grün sei ziemlich zäh", erklärte Ron mit ernster Stimme.
„Kann sie das Ding nicht schwarz färben, oder – oder" Hilfe suchend sah sich Harry im Raum um. „Oder weiß?"
Schulterzuckend packte Ron abermals den Smoking und huschte aus der Tür. Diesmal kam er zwar weder mit einem schwarzen, noch mit einem weißen Anzug zurück, doch es war eine Farbe, die Harry allemal besser als das alte Grün fand: Ein dunkles, unauffälliges Grau.
„Yuri hatte zu wenig schwarzen und weißen Färbetrank für einen ganzen Smoking da, deshalb hat sie die beiden einfach gemischt", erzählte Ron und breitete sich genüsslich auf seinem Bett auf, während Harry sich rasch umzog.
Harry und Ron warteten bereits vor Yuris Zimmer, denn sie waren schon seit zehn Minuten fertig; ganz davon abgesehen fanden sie ihre Smokings entsetzlich unbequem und wollten den Abend so schnell wie möglich hinter sich bringen. Der Zaubereiminister würde in einer Viertelstunde kommen, sollte es keine Verzögerungen geben.
Ron pochte mit seinen Fingerknöcheln ungeduldig gegen die hohe Flügeltür. „Und da sagt einer, wir würden trödeln!", entrüstete er sich und fauchte dabei die Tür an, als ob sie persönlich für diesen Umstand verantwortlich sei. „Wie lange braucht ihr denn no -"
Doch weiter kam er nicht, denn der Flügel schwang mit voller Wucht auf, direkt in sein Gesicht, und Hermine trat großen Schrittes hinaus. Sie trug ein schwarzes Kleid, das mit seinen unzähligen Raffungen, Schleifen und Stickereien alles andere als schlicht wirkte. Ihre Haare waren kunstvoll nach oben gesteckt und mit zu ihrer Robe passend schwarzen, kleinen Blumen bestückt. Um den Hals trug sie drei Perlenketten, jede verschieden lang.
„Schon gut, ich bin ja da!", wütete sie mit verengten Augen, die jedoch keinen Ron mit ihrem Blick durchstechen konnten, denn Ron lehnte leicht benebelt dreinschauend hinter dem geöffneten Flügel.
„Ron?", fragte Hermine mit weitaus leiserer Stimme als zuvor. „Was ist -"
„Du hast ihn voll erwischt", erklärte Harry halb tadelnd, halb lachend und deutete auf die Tür.
„Oh nein, das wollte ich nicht!", sagte sie schrill und schüttelte Ron besorgt, der noch immer aussah, als hätten ihn wieder ein paar gewalttätige Gehirne attackiert. „Jetzt komm endlich wieder zu dir, komm schon -", murmelte sie und rüttelte noch heftiger an ihm, was jedoch nicht im Geringsten etwas brachte.
„Hermine?", hauchte Ron leise und mit einer Stimme, als würde er im Schlaf sprechen.
„Ja, ich bin's, Ron", entgegnete sie und klang wieder ein wenig ruhiger.
„Hermine, d – du siehst gut aus mit diesem Teil, was du da anhast, wirklich gut", murmelte Ron und augenblicklich klappten seine Augenlider zu und er sank ohnmächtig zu Boden.
„Ron!"
Hermines spitzer Schrei musste wohl auch in Yuris Zimmer zu hören gewesen sein, denn sie stürzte herbei und schaute sich hektisch um. „Was ist? Ist was passiert?", fragte sie mit angespannter Stimme, doch als sie Ron erblickte, beantwortete sich ihre Frage von selbst.
„Ach so", sagte sie und atmete erleichtert aus, „ich dachte schon, es sei etwas Schlimmes... hier hilft leider nur eins -" Klatsch – Yuri hatte Ron eine saftige Ohrfeige gegeben. Keine Sekunde später öffnete Ron langsam die Augen und musterte Harry, Hermine und Yuri, als ob er sie jetzt zum ersten Mal in seinem Leben sah. Doch dann schüttelte er kräftig seinen Kopf und sprang wie von einer Tarantel gestochen auf.
„Pass das nächste Mal gefälligst besser auf, wenn du eine Tür mit so einer Wucht aufschlägst, klar?", herrschte er Hermine wutentbrannt an, „es könnte nämlich jemand dahinter stehen, ich zum Beispiel!"
Doch Hermine reagierte nicht auf Rons Beschwerden, sondern starrte ihn nur entgeistert an. Sie schreckte erst wieder auf, als Yuri die Tür mit einem lauten Knall zuschlug.
„Dann wollen wir mal los, Dad müsste jede Minute ankommen", sagte sie, und mit einem Seitenblick auf Harry und Ron fügte sie kaum merklich grinsend hinzu: „Ihr seht wirklich schick aus."
Harry hätte ihr Kompliment gerne erwidert, doch etwas schien mit seiner Stimme nicht zu stimmen, und so brachte er nur ein klägliches Husten hervor. Yuri sah sehr hübsch aus mit ihren langen, dunklen Haaren, die sich auf ihre Schultern ergossen. Sie trug ein Kleid, das Hermines sehr ähnlich, aber weiß war - Harry fand, sie hätten Figuren in einem Schachspiel ersetzen können, ohne dabei bedeutend aufzufallen.
Yuri führte sie in den großen Saal, den Harry an seinem ersten Tag im Haus als Tanzsaal anerkannt hatte; tatsächlich stimmte auf einer Empore gerade ein mittelgroßes Orchester seine Instrumente nach einem großen Flügel, der geduldig die einzelnen Töne immer und immer wieder anschlug, bis sie schließlich jeder mit den seinen verglichen hatte. An einer Seite des Saals war ein schier endloses Buffet aufgestellt worden, auf dem eine Menge verdeckte Platten und Schuüsseln verteilt waren. Dazwischen standen vereinzelt, wie Harry nicht anders erwartet hatte, große Vasen mit weißen Lilien. Die breite Treppe, die in den Saal führte, war bereits von einigen Gästen gesäumt, allesamt wichtig aussehende, ältere Männer in Fräcken, die peinlich genau zu ihren auf Hochglanz polierten Schuhe passten. Im Vergleich zu ihnen sahen Harry und Ron nicht sonderlich festlich aus, da sich beide geweigert hatten, weder eine Krawatte noch eine Fliege zu tragen - Hermine und Yuri dagegen konnten es in jeder Hinsicht mit ihnen aufnehmen.
Ein besonders in die Breite gewachsener Mann schritt nun auf Yuri zu gab ihr links und rechts einen angedeuteten Kuss auf die Wange.
„Bonjour Monsieur, je suis heureuse que vous ayez voulu venir chez nous", sagte Yuri höflich in beinahe fließendem Französisch und wies mit einer Handbewegung zum Buffet, auf dem inzwischen schon eine Menge köstlicher Vorspeisen aufgetischt war, „je pense que mon père arrivera bientôt... vous ne voulez pas manger quelque chose?"
„Oh, oui, oui, je crois que je pourrais gôuter un peu", entgegnete der Mann und eilte zu dem langen Tisch, und obwohl Harry nicht im Geringsten verstanden hatte, was die beiden geredet hatten, so war es doch zu erkennen, dass das Buffet gleich um einige seiner Köstlichkeiten ärmer sein würde.
„Wer war das?", wollte Hermine wissen und beobachtete neugierig den dicken Herrn , der sich gerade über eine Platte mit Lachs hermachte.
„Der französische Premierminister", antwortete Yuri, „er – ähm, nun ja – legt Wert auf ein üppiges Essen zu jeder Tageszeit."
„Ist nicht zu übersehen", bemerkte Ron leise.
Harry, Ron und Hermine mussten noch viele anderen wichtig aussehenden Leuten die Hände schütteln, sich verbeugen oder sie auf sonstige Art und Weise begrüßen, bis sie sich endlich am Buffet anstellen konnten und sich die Bäuche vollschlagen konnten. Harry zog gerade ein Stück Paprika aus einem bunten Kranz voller Gemüse, als ihn Yuris freudiges „Dad! Wo bist du so lange gewesen?" zusammenzucken ließ.
Cornelius Fudge sah ein wenig müde aus, doch er trug seinen schwarzen Nadelstreifenanzug mit so viel Würde, wie es sein Zustand erlaubte. Seine Haare wirkten ungekämmt und hingen schlaff an seinem Gesicht herunter. Erst nachdem er Yuri gedrückt hatte, fielen ihm Harry, Ron und Hermine auf, die ihn mit leichtem Argwohn musterten. Seine Augen weiteten sich – war es Angst, die Harry in ihnen aufblitzen sah? – und er öffnete den Mund, doch außer einem schwachen Hauchen brachte er nichts hervor.
„Das sind -"
„Ich weiß, wer sie sind, Yuri", sagte Fudge langsam und zwang sich zu einem falschen Lächeln. „Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass ausgerechnet -"
„Du hast gesagt, es wäre okay, wenn ich ein paar Freunde einlade", erinnerte ihn Yuri düster und zwang ihn, sie anzugucken.
„Ja, ja, sicher...", murmelte Fudge und musterte die drei eingehend. „Nun denn, ich hoffe doch, es gefällt euch bei uns?", fragte er mit einem nervösen Lächeln.
„Danke, ja", antwortete Hermine höflich, aber recht kühl, wie Harry fand.
„Nach all den Unannehmlichkeiten und – ähm – Missverständnissen im letzten Jahr nehme ich es euch nicht übel, wenn ihr nicht gut auf mich zu sprechen seid, aber ich hoffe, ihr seid euch dessen bewusst, dass wir einen gemeinsamen Feind haben, gegen den wir Seite an Seite kämpfen müssen", sagte Fudge ernst, doch er klang so geschwollen, dass Harry sich zusammenhalten musste, um nicht zu lachen.
Yuri schien eine Weile mit sich zu kämpfen, dann sagte sie: „Nun werd' nicht zu offiziell, Dad, geh' doch mal zum arabischen Außenminister, der wollte dich schon vorhin sprechen wegen den neuen Richtlinien für familiengerechte fliegende Teppiche im heimischen Luftverkehr" und schob ihn in Richtung Bühne.
Ron schien eine ganze Menge an Selbstbeherrschung aufbringen zu müssen, um nicht laut zu fluchen. Stattdessen begnügte er sich damit, seinen Teller des öfteren ein wenig zu hart abzustellen.
„Tut mir Leid", murmelte Yuri leise.
„Schon gut, es ist nicht deine Schuld", sagte Hermine.
„Ja, du kannst nichts dafür, dass Fudge ein hirnloser, kleingeis -"
„Ron!"
Doch Yuri grinste nur milde und winkte Harry, Ron und Hermine näher zu sich heran, um sicher zu gehen, dass sie niemand anderes hörte und senkte verschwörerisch die Stimme.
„Hört zu, wir müssen Bellatrix hier raus schaffen, bevor sie aufwacht", wisperte sie und sah sich nochmals hektisch um, bevor sie weitersprach. „Dumbledore kommt heute Nacht. Punkt zwölf."
