Die Botschaft
Das Fest war in vollem Gange: Auf den Platten des Buffets klafften große Löcher, die Miss McClaggan mehr oder weniger unauffällig zu stopfen versuchte (was allerdings unmöglich war, da sich der französische Premierminister unmittelbar vor den langen Tischen eingenistet hatte), die Gäste redeten, lachten und tanzten zu der Musik des Orchesters, das nun schon seit zwei Stunden spielte, und man konnte überall Teller, Gläser und Besteck klappern oder klirren hören. Nur vier schienen sich nicht dem fröhlichen Treiben anschließen zu wollen. Harry, Ron, Hermine und Yuri standen ein wenig abseits und prüften immer wieder nervös die Uhrzeit, um Mitternacht unter keinen Umständen zu versäumen.
„Ich hab keine Ahnung, wie wir es schaffen sollen, uns unbemerkt wegzuschleichen", brach es schließlich ratlos aus Hermine heraus, „Miss McClaggan schleicht die ganze Zeit herum und beobachtet uns –oh" –sie gab Miss McClaggan einen schwachen Wink, um ihr zu bedeuten, dass alles in Ordnung sei und schenkte ihr ein gequältes Lächeln –„-seht ihr? Das meine ich..."
„Immer schön ruhig bleiben, Hermine, uns fällt schon noch was ein", beruhigte Harry sie, auch wenn er selbst nicht ganz an seine Worte glaubte - was Hermine bemerkt zu haben schien, denn sie sah weiter verzweifelt drein.
„Ich glaube, es ist am besten, wenn wir nicht alle gehen, das fällt zu sehr auf", bestimmte Yuri und legte nachdenklich die Stirn in Falten, „ich denke... ja, Ron und Hermine sollten gehen, das ist nicht so auffällig..."
„Hört zu", sagte sie mit erheblich lauterer Stimme und blickte Ron und Hermine an, die sie verwirrt anguckten, „seid nicht beleidigt, aber wenn Harry fehlt, merkt Dad das sofort, er schaut ständig zu ihm herüber... du bist einfach zu berühmt, Harry" –sie deutete grinsend auf Fudge, der es bemerkte und sich rasch umdrehte, um mit seinem Gespräch fortzufahren –„er ist kann's wahrscheinlich immer noch nicht fassen, dass ausgerechnet Harry Potter... na ja, wie auch immer... wo war ich gerade? Ach ja... und wenn ich weggehe, stellt Miss McClaggan gleich Hunderte von Fragen, und glaubt mir, sie hat mich schon viel zu oft gefunden... also, ist das in Ordnung für euch?"
„Ja, ist okay", sagten Ron und Hermine im Chor, auch wenn beide nicht sonderlich begeistert schienen.
„Sehr gut", entgegnete Yuri. „Mal sehen... wenn ich Miss McClaggan ablenke, kann ich euch vielleicht zehn bis fünfzehn Minuten verschaffen, und wenn dann jemand nach euch fragt, seid ihr auf's Klo gegangen... na ja, eine Viertelstunde ich vielleicht ein bisschen lang, aber es wird euch sicher keiner danach fragen, warum das so lange gedauert hat, da bin ich mir sicher... das macht ingesamt also im besten Falle eine halbe Stunde. Ist das genug?"
„Es bleibt uns doch ohnehin nichts anderes übrig, oder?", sagte Ron finster.
Somit war der Plan beschlossen, und alles, was sie nun tun konnten, war warten.
Um Viertel vor zwölf schritt Yuri eilends auf Miss McClaggan zu, und erzählte ihr vollkommen aufgelöst, dass die komplette Gartenbeleuchtung ausgefallen sei und es in der Küche ein schwerwiegendes Problem mit den Töpfen gäbe.
„Gut, ich glaube, jetzt könnt ihr los", flüsterte Harry Ron und Hermine zu, die schon startbereit am Ende der Treppe warteten, als Yuri mit Miss McClaggan in einer Hintertür verschwand. „Viel Glück!", rief er ihnen hinterher, bis sie hinter der ersten Ecke verschwunden waren.
Mit federnden Schritten schlichen Ron und Hermine über die Gänge und Treppen, bis sie schließlich an den Flur gelangten, an dessen Ende Yuris Zimmer lag.
Hermine öffnete die hohe Flügeltür und Ron ging hinter ihr hinein. Mit einem letzten Blick über seine Schulter schloss er sie so leise wie möglich.
„Ist das dunkel hier", stöhnte Ron, „ich mal mal Licht an-"
„Nein", zischte Hermine, „wenn du Licht machst, sieht man uns von draußen. Was ist, wenn irgendeiner von Voldemorts Leuten das Haus beschattet?"
„Schon gut", erwiderte Ron und schüttelte sich, als ob ihm jemand kaltes Wasser auf den Rücken geschüttet hätte. „Warum musst du nur immer seinen Namen nennen? Erst Harry, dann du... ich versteh das Ganze nicht, ehrlich mal."
„Die Angst vor dem Namen macht doch nur noch mehr Angst vor dem, was uns erwartet", entgegnete Hermine geduldig, „es ist wichtig, dass wir aussprechen, was uns bedrückt, was wir fürchten, was wir fühlen... denn das macht uns stark.
Obwohl es tatsächlich sehr dunkel war, sah Hermine deutlich, dass Ron sie unverholen anstarrte, auch wenn sie seine Miene wohl nicht entziffern konnte.
„Wir müssen uns beeilen", sagte Hermine rasch und schnipste dreimal mit Daumen und Zeigefinger, genau so, wie es Yuri ein paar Tage zuvor getan hatte. Sofort begann der Boden zu zittern, und Ron, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, stolperte über eines von Hermines dicksten Büchern, das auf dem Boden herumlag, und warf sie rücklings um.
„Autsch!"
„Äh- Hermine?"
„Ron, du liegst auf mir, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest!", presste Hermine zwischen den Zähnen hervor.
„Oh, sorry...", sagte Ron undeutlich, doch er machte keine Anstalten, sich zu bewegen; würde sich der fünfte Teil des Sterns nicht knarrend und ächzend zu Boden senken, hätte man vermutlich sein und Hermines Herz schlagen hören können.
Ron starrte ihr einige Augenblicke lang in die Augen, als würde er darin nach etwas suchen. Hermine dagegen hielt mit rasendem Puls den Atem an, was Ron jedoch nicht hören konnte. Plötzlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben, denn er senkte zögernd, doch ganz langsam den Kopf -
„Achtung!"
Ron wusste nicht, wie ihm geschah, doch im nächsten Moment stieß ihn Hermine panisch weg und rollte sich selbst ein gutes Stück zur Seite. Mit hämmerndem Herzen wandte er sich nach rechts und sah nun, was der Grund für Hermines Stoß gewesen war: Die Raute des Sterns war um Haaresbreite neben ihnen auf den Boden geknallt und hatte sich ein Stück an einer Ecke abgebrochen.
Rasch rappelten sich Ron und Hermine auf und blickten in das schlafende Gesicht von Bellatrix Lestrange. Es schien noch weißer und ausgemergelter als sonst, doch der Rest an ihr war unverändert. Ihre Hände und Füße waren noch verbunden, sodass sie ein weniger gefährlich wirkte.
Hermine war die erste, die den Mund aufmachte.
„Das –das war ganz schön knapp", stieß sie so schwer atmend hervor, als wäre sie ohne Pause fünfhundert Meter gelaufen.
„Jaah", stimmte Ron mit gedehnter Stimme zu und versuchte offenbar, möglichst gelassen zu klingen - doch er wagte es nicht, Hermine ins Gesicht zu schauen. Stattdessen warf er einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. „Entweder ist das Ding kaputt oder es ist wirklich Mitternacht. Wo treffen wir Dumbledore überhaupt?"
„Hier, Ron."
Ron und Hermine wirbelten herum. Albus Dumbledore stand milde lächelnd hinter ihnen, in einem roten, aufwändig bestickten Gewand und einem besonders langen Spitzhut. Seine kristallblauen Augen schimmerten durch die Dunkelheit und musterten Bellatrix Lestrange, deren Haut deutlich auszumachen war.
„Professor", keuchte Hermine, „wie sind Sie hier her gekommen?"
„Mit einem Besen", antwortete Dumbledore mit ernster Stimme. „Aus diesem Grund war die Reise ein wenig lang, doch es ist soweit alles recht gut gegangen... ihr könnt ihn zwar nicht sehen, doch vor dem Fenster schwebt gerade Professor Moody auf seinem Besen und wartet ungeduldig darauf, dass ich Bellatrix endlich hinausbefördere."
Ron starrte immer noch ungläubig auf das Fenster, hinter dem nichts zu sein schien, während Dumbledore den Zauberstab hob und „Mobilcorpus" murmelte. Zum ersten Mal seit einer Woche bewegte sich die totenblasse Frau wieder, wenn auch nur durch einen Zauberspruch, und glitt lautlos durch das Fenster, das Hermine soeben weit geöffnet hatte. Wie es schien, war nun auch sie von Moody unsichtbar gemacht worden, denn ihr dürrer Körper wurde eins mit dem pechschwarzen Nachthimmel. Auch Dumbledore stieg auf das Fensterbrett und setzte sich behutsam auf einen unsichtbaren Besen, der vermutlich neben dem von Moody schwirren musste.
„Hast du ihren Kopf, Alastor?"
„Alles wie festgenagelt", entgegnete Moodys raue Stimme.
„Gut, so müsste es gehen... ach ja, ehe ich es vergesse, bitte gebt das Yuri, sobald ihr sie seht", sagte Dumbledore und reichte Hermine das Windherz, dessen wirbelnder, silbriger Staub in der Dunkelheit deutlich zu sehen war. „Es war ihre persönliche Bitte, es bis zum Schulanfang behalten zu dürfen", fügte er hinzu und Hermine sah, wie für einen kurzen Moment ein Funkeln in seinen Augen aufleuchtete, bevor er sich mit dem Zauberstab auf den Kopf klopfte und von einer Sekunde zur anderen ebenfalls unsichtbar wurde.
„Nun denn, ich wünsche euch noch schöne und erholsame Ferien, ihr beiden", erklang Dumbledores freundliche Stimme ein Stück von ihnen entfernt.
„Danke, Professor", sagten Ron und Hermine höflich, obwohl sie sich nicht sicher waren, ob er sie noch hören konnte, denn sie hörten das Summen der Besen nicht mehr.
Einen Moment lang standen sie unschlüssig vor dem geöffneten Fenster, bis Hermine es vorsichtig schloss und mit einem erleichterten Ausatmen die Augen über den Himmel mit seinen unzähligen glitzernden Sternen wandern ließ.
„Wir gehen jetzt lieber schnell zurück zum Fest, bevor jemand merkt, dass wir weg sind, oder?", meinte Hermine verlegen, wandte sich um und schnipste dreimal mit den Fingern, damit sich der Teil des Sterns wieder in Richtung Decke bewegte.
„Ist alles gut gegangen?", fragte Harry, als Ron und Hermine bemüht unauffällig die lange Treppe zum Saal herunterkamen.
„Ja, alles bestens", sagte Hermine und rückte ihre Ketten zurecht. „Dumbledore und Moody sind mit Besen gekommen und haben sie mitgenommen."
„Wie bitte? Mit Besen?", wiederholte Harry ungläubig und starrte Hermine nach, die auf das Buffet zusteuerte und sich eine großes Stück Schokoladensahnetorte auftat.
„Ja, es war wirklich so", bestätigte Ron, „ich kapier' echt nicht, warum sie nicht einfach einen Portschlüssel oder so genommen haben... uhm, mein Magen knurrt, ich glaub, ich könnte eine Portion Nachtisch vertragen..." Mit sehnsüchtigem Blick folgte er Hermines Beispiel und lud sich zwei Stück Kuchen auf seinen Teller.
„Ich verstehe auch nicht, warum alle Lichter plötzlich wieder an waren, vorhin war es stockfinster draußen, wirklich..."
Harrys Blick fiel auf Yuri, die Miss McClaggan recht glaubwürdig schwor, dass die Gartenbeleuchtung tatsächlich ausgefallen sei; die alte Dame ließ sich jedoch nicht beirren und musterte Yuri weiterhin misstrauisch, als ob sie wusste, dass das Mädchen ihr etwas vorschwindelte.
„Liebes, ich kenne dich zu deinem Leidwesen schon viel zu lange, um nicht zu erkennen, wenn du lügst, und das tust du gerade", sagte sie streng. „Allerdings kann ich mir nicht erklären, was du damit bezwecken willst."
„Ich will gar nichts bezwecken!", rief Yuri aufgebracht und so laut, dass sich einige Leute erstaunt nach ihr umdrehten. „Vielleicht war es ja nur ein Wackelkontakt oder irgendetwas, jedenfalls war das Licht aus!"
Peinlich berührt, da sie die Blicke der Gäste spürte, beugte sich Miss McClaggan zu Yuri und redete eindringlich auf sie ein, jedoch so leise, dass Harry kein Wort verstehen konnte. Schmollend bahnte sie sich durch die Menschenmenge einen Weg zu ihm, doch als sie ihn anschaute, huschte ein zufriedenes Grinsen über ihr gerötetes Gesicht.
„Puh, sie hat nicht weiter gebohrt", wisperte sie ihm zu, „ich dachte schon, gleich muss ich ihr alles beichten... hat es funktioniert?"
Harry nickte und erzählte ihr von dem, was ihm Ron und Hermine berichtet hatten.
„Sehr gut... ähm –haben sie auch erwähnt, dass Dumbledore ihnen etwas für mich mitgegeben hat?", fragte sie und wirkte mit einem Mal angespannt. „Weißt du, ich habe ihn gebeten, mir das Windherz zu geben- bis die Schule wieder anfängt."
„Oh, ähm... ich glaube nicht", antwortete Harry unsicher. „Aber du kannst sie ja fragen", fügte er rasch hinzu und deutete in Rons und Hermines Richtung. Yuri, die keine Lust zu haben schien, sich abermals durch die Menge zu zwängen, winkte die beiden kurzerhand herbei.
„Ich hatte das ganz vergessen, tut mir Leid", sagte Hermine mit schuldbewusster Miene und fischte das Windherz aus ihrem Schuh.
„Danke", entgegnete Yuri und steckte es hastig ein. „Hmm... war das nicht unbequem?"
„Äh –ich hab's gar nicht mehr gemerkt", meinte Hermine mit einem ziemlich falschen Grinsen.
„Was ist jetzt eigentlich mit diesem Tagebuch von –wie hieß der Typ? –Frank Bryce?", erkundigte sich Ron und schlang den letzten Bissen Mandelkuchen hinunter. „Ich dachte, mit seinem Tagebuch und dem Windherz kommen wir an mehr Informationen über das Windherz ran?"
„Du hast recht, Ron", erwiderte Yuri und lächelte. „Aber ich denke, darum kümmern wir uns morgen... ich bin müde."
Am nächsten Morgen fing der Schnee langsam an zu tauen, die Sonne war zwar verschwunden, doch es wurde zusehends milder. Einige verschieden große grüne Punkte waren auf dem weitflächigen Garten verteilt, als ob sie jemand während der Nacht bei einem verzauberten Streifzug verloren hätte. Einige Vögel suchten darin nach Würmern oder anderen Insekten, doch sie wurden nicht fündig und ließen den Boden wieder hinter sich. Die Lichterketten vom Fest waren schon wieder entfernt worden und immer öfter erlaubte der Schnee einen Blick auf das dürre Geäst der kahlen Sträucher.
Cornelius Fudge ließ sich am Morgen nicht ein einziges Mal blicken, er frühstückte vor ihnen und verschwand dann spurlos in seinem Büro, wo er „ein paar Akten von großer Wichtigkeit" bearbeiten müsse, wie ihnen Miss McClaggan anvertraute. Harry machte das nichts aus, im Gegenteil, er war sogar ausgesprochen froh darüber, Fudges argwöhnischen, neugierigen Blick nicht ertragen zu müssen. Hermine hatte vorgeschlagen, erst ihre Koffer zu packen und dann den Duplexzauber zu brechen, und trotz aufgebrachter Proteste seitens Harry und Ron war sie damit durchgekommen. Nun rauften sie eilig und recht unordentlich ihre Sachen zusammen, um sie dann in ihre Koffer zu stopfen.
„Ist schon ein bisschen traurig, dieses Zimmer zu verlassen", meinte Ron mit schwerer Stimme und schaute sich wehmütig um, bevor er seinen Koffer zuklappen ließ.
Als Harry und Ron in Yuris Zimmer kamen, war Hermine noch damit beschäftigt, ihre Unmengen an Bücher so zu stapeln, dass sie sie in ihren Koffer räumen konnte. Hin und wieder schnaubte sie dabei ungehalten, da es unmöglich war, sie ohne Zauberei anzuordnen.
„Warte, ich helfe dir", sagte Harry rasch und kniete sich neben sie, doch auch er gab es kurze Zeit später wieder auf.
„Hör mal, Hermine, lass es einfach sein und schmeiß die Bücher in meinen Koffer rein, ich hab' noch ein wenig Platz", bot Ron ihr schließlich großzügig an.
„O -okay, danke", entgegnete Hermine und klang tatsächlich äußerst dankbar; vermutlich hätte sie es kaum übers Herz gebracht, auch nur eines ihrer Bücher in Los Angeles zurückzulassen, dachte Harry bei sich.
Einige Augenblicke später stieß Yuri die Tür auf, ihre leicht zitternden Hände umklammerten das Windherz und das notdürftig mit Klebestreifen zusammengehaltene Tagebuch von Frank Bryce. Mit angespannter, ja feierlicher Miene ließ sie sich auf ihrem Bett nieder und legte die vergilbten Blätter auf ihren Schoß.
„Alle bereit?", fragte sie mit einem nervösen Grinsen, während sich Ron und Hermine neugierigen Blickes neben sie setzten –Harry musste mit dem Fußboden vorlieb nehmen.
Er spürte, wie sein Herz unruhig auf und ab hüpfte, als Yuri das Windherz in der Mitte des obersten Papiers platzierte, langsam den Zauberstab hob und beinahe flüsternd sagte: „Absolve Duplex!"
Nichts regte sich. Mit noch immer angehaltenem Atem starrten die vier wie gebannt auf das Windherz, in dem der seltsame Staub wie gewöhnlich in kleinen Strömen umherwirbelte. Stirnrunzelnd blätterte Hermine in den abgenutzten Blättern herum, als ob sie hoffte, in irgendeiner freien Ecke würde wie durch Geisterhand ein Satz, wenigstens ein Wort erscheinen, das ihnen weiterhelfen würde– doch vergeblich.
„Ähm- Yuri, du- bist du dir sicher, dass -", begann Ron zögerlich, doch sichtlich daran zweifelnd, ob es sich hier nicht nur um einen schlechten Scherz handelte.
„Ja, ich bin mir sicher", sagte Yuri bestimmt und barg das Windherz mit einem flehenden Blick in der Hand. „Wir müssen daran glauben."
„AAAAAH!"
Kaum hatte Yuri den Mund geschlossen, brachen gleißend helle Lichtstrahlen aus dem Innern des Windherzes hervor und schossen wie Pfeile in jede Ecke des Zimmers. Harry kniff die Augen zusammen und hielt sich schützend die Hände vor die Augen, doch es dauerte nicht lange, und das blendend weiße Licht formte einen strahlenden, menschenähnlichen Körper, der jedoch noch immer mit einer Art Faden mit dem Windherz verbunden war. Plötzlich rauschte der glitzernde Staub in den Körper ein und schien ihn gleichzeitig mit Leben zu füllen, denn die Arme und der Kopf streckten und räkelten sich, als hätten sie zu lange geschlafen. Langsam wurden Augen, Haare und ein langes Kleid erkennbar, und in Harrys Kopf rastete etwas ein. Er erkannte die Frau, die ihnen nun mit einem verschleierten Blick entgegenblickte: Es war dieselbe, deren Abbild sich auch in der goldenen Spieldose befand, die Yuri und er im Haus der Riddles gefunden hatten. Sie hatte langes, gewelltes Haar, ein spitz zulaufendes Gesicht und langfingrige Hände, die sich um eine Feder klammerten – das Buch war nirgends zu entdecken.
Einen Moment lang stierten sie Harry, Ron, Hermine und Yuri nur erstaunt an, bis sich Harry dazu entschied zu überprüfen, ob das seltsame Wesen auch sprechen konnte. Vielleicht musste man ihr geheime Handzeichen geben, die nur Voldemort kannte?
„Ähm –kannst du sprechen?", fragte Harry.
Ihre Augen ruhten eine Zeit lang auf ihm, bis sich ihr schmaler Mund öffnete. „Drei Dinge muss ich euch sagen, mehr wären ohnehin zu viel", sagte sie mit ihrer nebeligen Stimme, an die sich Harry noch gut erinnern konnte. Es war, als würde sie wie ein Echo aus der Vergangenheit durch den Raum schweben.
„Was sind das für Dinge?", drängte er und stand nun auf, sodass er ihr Gesicht besser sehen konnte. Er spürte, wie Ungeduld und Neugier in ihm brannten, und vielleicht war dies der Grund dafür, weshalb es ihm furchtbar lange vorkam, bis die Frau endlich zu sprechen begann.
„Erstens- was das Herz genommen, kann es wieder geben, spreche deinen Wunsch nur aus... zweitens– seine Macht gehört zweien, dem Opfer und dem Schöpfer", sagte sie und schüttelte dabei ihr Haar hin und her, sodass sich ein lautloser Regen vom schimmernden Sand auf den Fußboden ergoss, „drittens, die Macht ist sein Tod."
Kaum hatte Harry sein Gehirn in Bewegung gesetzt, um ihre Worte zu verstehen, zerfiel die Frau ohne Weiteres in ihre Einzelteile. In wenigen Augenblicken war ihr leuchtender Körper geschrumpft und wurde durch den nun nur noch hauchdünnen Faden in das Windherz zurückgesogen, wie klares Wasser in einem Waschbecken, dessen Stöpsel man gezogen hatte. Selbst den Sand, der auf dem Boden verteilt gewesen war, verschonte der unsichtbare Strudel nicht. Erstaunt starrten Harry, Ron und Yuri auf das Windherz auf ihrer Handfläche, das wieder genauso aussah wie vorher, mitsamt dem kleinen Baby in seiner Mitte, das seelenruhig vor sich hin zu schlummern schien, nach seinen geschlossenen Augen jedenfalls zu urteilen. Nur Hermine war als einzige aufgestanden und hatte die Augenbrauen nachdenklich zusammengedrückt.
„Gehen wir das Ganze mal durch", sagte sie in sachlichem Ton, als solle sie die Zusammenstellung eines Zaubertrank erläutern, „'was das Herz genommen, kann es wieder geben, spreche deinen Wunsch nur aus', hat sie gesagt. Was hat das Windherz genommen?", fragte sie und wandte sich den dreien zu, deren Aufmerksamkeit nun Hermine galt, die sie allesamt auffordernd ansah.
„Ähm -"
„Es hat... Leben genommen", antwortete Yuri langsam.
„Das ist es!", rief Hermine begeistert.
„Woher weißt du das nun wieder?", erkundigte sich Ron, der ganz und gar danach aussah, als ob Hermine ein andere Sprache sprechen würde, die er nicht einmal ansatzweise verstand.
„Das ist doch vollkommen logisch, weißt du denn nicht mehr, was Malfoy gesagt hat, als er das Windherz holen wollte?"
„Ich verzichte darauf, dir zu antworten, sag's uns einfach, okay?", entgegnete Ron matt.
„'Das edle Ziel des Dunklen Lords ist es, den Tod zu besiegen', das hat er gesagt!"
„Äh– und das heißt was?"
„Das heißt, dass das Windherz Leben schaffen kann, vermutlich eine Art Wiedergeburt oder so etwas, schätze ich", erklärte sie und nun funkelten ihre Augen vor Begeisterung. „Denn das wäre der Sieg über den Tod."
„Aber-", setzte Harry an.
„'Zweitens, seine Macht gehört zweien, dem Opfer und dem Schöpfer'", fuhr Hermine unbeirrt fort, „das bedeutet, nur Yuri und Voldemort sind in der Lage, dieses Leben vom Windherz zu nehmen."
Hermine sah erwartungsvoll in die Runde, als würde sie eine Bestätigung ihrer Vermutungen hören wollen, doch niemand sagte etwas; Harry war viel zu gebannt von ihren Worten, als dass er die gespannte Stille durchbrochen hätte.
„Und als letztes sagte sie, dass 'die Macht sein Tod ist'", vollendete sie ihre Erklärung mit einer schwungvollen Lächeln auf dem Gesicht, „also wird das Windherz zerstört sein, wenn man es benutzt hat."
„Alle Achtung, Hermine", sagte Yuri anerkennend, was zeigte, dass sie ebenfalls wie Hermine dachte; auch Ron sah recht beeindruckt aus. Harry dagegen war sich nicht sicher, was er sagen sollte.
