Leben hinter den Fenstern
„Harry! HARRY!"
Ron kam auf ihn zu gestürmt, das Gesicht gerötet, in den Augen ein Strahlen. An seiner Brust prangte eine grell leuchtende, tief brüllende Gryffindorrosette, und in der linken Hand hielt er ein halb geleertes Butterbier. Sein Haar war so zerzaust, als ob er durch einen kräftigen Orkan geflogen wäre.
„Wo zum Teufel warst du, Mann?", fragte er mit sichtlich erhitztem Gemüt. „Du hast es verpasst, aber mach dir keine Sorgen, wir haben gewonnen! Gewonnen gegen diese schleimigen Slytherins! Du hättest Malfoy sehen müssen, wie er auf den Boden gespuckt hat und dann ausgerutscht ist-" Er hielt schlagartig inne, als er Harrys Miene sah.
Harry wusste nicht, was er sagen sollte, sondern tappte langsam zu einem der Sessel am Kamin, vorbei an den in ihren Feierlichkeiten erstarrten Gryffindors, die ihm nachstarrten – doch es kümmerte ihn nicht im Geringsten. Auch Hermine kam vorsichtig an ihn heran und kniete sich nieder, mit einem bösen Blick den anderen bedeutend, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Sofort wurde es wieder ein wenig lauter um sie herum.
„Was ist mir dir geschehen, Harry?", fragte sie behutsam, wobei sie versuchte, ihre Stimme leise zu halten.
Harry starrte weiter auf seine Knie, unfähig, Yuris Verschwinden in Worte zu fassen. Sie war weg. Verschwunden.
„Wo ist Yuri? Wo wart ihr beide während dem Spiel?", bohrte Ron nun und Harry konnte nicht mehr umhin, sie beide anzuschauen.
Es tat unerwartet weh, noch einmal alles schildern zu müssen, doch Ron und Hermine hatten, wie Harry fand, ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Für die Schüler möge eine andere Variante erfunden werden, für sie aber nicht- auch wenn er nicht jedes von Yuris Worten wiederholte. Zum Beispiel, wie dumm er gewesen war, sie anzufahren, ihr nichts zu erwidern, als sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn-
„Ist sie vielleicht dumm oder so was Ähnliches?"
„Ron!"
„Na ja, komm schon, wer ist schon so verrückt, Voldemort eigenhändig umbringen zu wollen", protestierte Ron wild gestikulierend. „Jeder weiß, dass das unmöglich ist, oder?"
„Du hast nicht zu gehört", widersprach Hermine kopfschüttelnd. „Yuri hat gesagt, dass die Prophezeiung Harry zu Voldemorts Mörder bestimmt hat."
Darauf wusste Ron nichts zu erwidern und widmete sich stattdessen wieder Harry.
„Was wirst du jetzt tun?", fragte er, „Sie einfach da draußen allein lassen?"
„Sie wollte es nun einmal so", antwortete Hermine unwirsch. Dann wandte sie sich mit etwas sanfterer Miene wieder Harry zu. „Hör zu, vielleicht ist es besser, wenn du dich jetzt erstmal ein bisschen ausruhst. Yuri hat doch gesagt, ihr seht euch wieder, oder nicht? Und wenn sie es sagt, wird es auch so sein. Vertraue ihr, sie wird wissen, was sie tut. Ich weiß, es ist leicht gesagt, aber du wirst für die erste Zeit damit leben und darüber hinwegkommen müssen."
„Danke, Hermine", sagte Harry matt und versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen, doch es gelang ihm nicht so recht. „Ja, ich glaube, du hast Recht."
„Ich erzähle dir morgen, wie das Spiel war", ereiferte sich Ron.
„Und ich wecke dich, wenn es Frühstück gibt", sagte Hermine lächelnd und nickte Harry noch einmal zu, als er sich auf der Treppe zum Jungenschlafsaal zu ihnen umdrehte.
Eine Weile standen sie so da, inmitten einer tanzenden, feiernden Menge, die Harry nur aus den Augenwinkeln verschwinden sah.
„Ähm… noch ein Butterbier?", fragte Ron verlegen, um die Stille zu durchbrechen.
„Wenn noch eins übrig ist, nehme ich es", antwortete Hermine grinsend und schlenderte zu einem Sofa hinüber, während Ron davonwuselte. Kurze Zeit später tauchte er mit unverhohlener Siegermiene wieder auf und drückte ihr eine der braunen Flaschen in die Hand.
„Ich musste mit Neville darum kämpfen, hab ihm aber einen Fluch auf den Hals gejagt", berichtete er. „Jetzt müsste er gerade auf dem Klo sein und sich den dickflüssigen Karamell aus der Nase hexen."
„Du hast doch nicht wirklich-" Sie starrte ihn entsetzt an.
„Das war ein Scherz, Hermine", entgegnete Ron mit hoch gezogenen Augenbrauen. „So was würde ich doch gar nicht hinbekommen."
„Oh, jaaaah…", murmelte Hermine verlegen und widmete sich wieder ausgiebig ihrem Butterbier.
„Hast du geglaubt, ich würde Neville etwas antun?", forschte er nach, wenngleich er es nicht allzu ernst meinte.
„N- Nein, natürlich nicht", stammelte sie errötend und stellte die Flasche zur Seite. „Ich dachte nur-"
„Ja?"
„Nichts", beendete Hermine rasch ihren Satz. „Ich habe an gar nichts gedacht."
„Wie auch immer, wir haben gewonnen und morgen ist Hogsmeadewochenende!", frohlockte Ron, nahm sich die funkelnde Rosette ab, die inzwischen aufgehört hatte zu brüllen, und wiegte sie liebevoll in der Hand. „Hast du gesehen, wie ich diesen dritten Ball gehalten hab? Ich dachte erst, dieser dämliche Jäger würde nach rechts schießen, aber irgendwie dachte ich mir, dass er nur was vorspielt, seine kleinen, wässrigen Augen sind nämlich ständig hin und her gehuscht-"
„Ja, ja, du warst brillant, zu gut für Gryffindor", schnitt ihm Hermine grinsend das Wort ab.
„Ohne dich hätte ich vielleicht einen rein gelassen." Ron schien an dem Punkt angelangt zu sein, den er eigentlich erreichen wollte. Er warf Hermine einen Seitenblick zu, die augenblicklich verstummt war. Sie antwortete nicht und schien ein tiefsinniges telepatisches Gespräch mit ihren Füßen zu führen.
„Also… ich meine… was war das?", fragte er und versuchte, bemüht lässig zu klingen.
„Ähm… nun ja… so was wie ein… äh… ein Kuss?", entgegnete Hermine und lief puterrot an, wobei sie streng darauf achtete, ihm nicht in die Augen zu schauen.
„Ein Ich- wünsch- dir- viel- Glück- für- das- Spiel- Kuss?", bohrte er nach.
„J- ja, genau… so was in der Art", stimmte Hermine mit beklommener Miene zu.
„Oh, ja, schon klar", sagte Ron ein wenig zu rasch. „Ich hatte auch nicht gedacht, dass es ein Ich- kann- dich- ganz- gut- leiden- Kuss war. Nicht wirklich jedenfalls."
Hermine lief, soweit dies möglich war, noch ein wenig röter an und erhob sich eilig, wobei sie Krummbein auf den Schwanz trat, der zu ihren Füßen geschlummert hatte. Wütend fauchte er auf und stolzierte erhobenen Schwanzes davon.
„Nun denn, ich denke mal, ich sollte mich schlafen legen, morgen wird wieder ein langer Tag", erklärte sie dem Teppich. „Und übrigens, es war keiner von beiden, es war so was wie ein… ein… ein Ich- liebe- dich- Kuss, denke ich, ja." Schnell wie ein mit Lichtgeschwindigkeit abgeschossener Pfeil sauste sie von dannen, das Gesicht zur Mädchentreppe gewandt.
Ron starrte ihr mit offenem Mund nach, machte jedoch keine Anstalten, ihr hinterher zu laufen. Stattdessen öffnete er eine Tüte Bertie Botts Bohnen sämtlicher Geschmacksrichtungen und verspeiste sie mit einem breiten Grinsen, das selbstzufriedener und zugleich verlegener nicht hätte sein können.
Harry hörte, wie Ron spät in der Nacht die Tür zum Schlafsaal öffnete und sich umzog. Er bemühte sich erst gar nicht, ein Schnarchen vorzutäuschen, sondern drehte sich ihm zu und beobachtete verschwommen, wie er die Vorhänge seines Himmelbetts zur Seite schob.
„Was hast du die ganze Zeit getrieben?", fragte er leise.
„Hab ein bisschen nachgedacht", summte Ron vergnügt, gleichzeitig jedoch auch verwirrt und hüpfte mit einem Satz auf sein Bett.
„Willst du, dass ich dir morgen früh Veritaserum in deinen Kürbissaft schütte oder erzählst du mir freiwillig, was passiert ist?", fragte Harry und wandte seinen Blick der Decke zu, um Ron nicht das Gefühl zu geben, beobachtet zu werden. Sonst wäre er wohl nicht so diskret gewesen, doch er musste wissen, ob sich etwas in ihrer Freundschaft verändern würde.
Ron schwieg eine Weile und schien angestrengt nachzudenken, bevor er Harry eine Antwort zuwisperte. „Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, was ich tun soll", flüsterte er drauflos – es war eine Art Redeschwall, der sich wohl schon seit einiger Zeit in seinem Innern zusammengestaut haben musste. „Ich meine, also… denk dir mal, Yuri hätte dir gesagt, dass sie dich liebt. Was würdest du dann tun?" Er machte eine Pause. „Beim Barte des Merlin, was für ein Mädchenkram, über den ich mir Gedanken mache. Ich bin echt bescheuert… ich schlaf jetzt lieber, bevor ich noch anfange, mir die Nägel zu lackieren. Gute Nacht."
„Nacht", brummte Harry zurück und spürte gleichzeitig, wie sich sein Magen unangenehm zusammenzog, bis er sich letztendlich vollkommen zu versteinern schien.
Als Harry am nächsten Morgen erwachte, war Rons bereits dabei, sich seine Haare zu kämmen, ein zugegebenermaßen einmaliges Ereignis.
„Hey, findest du, ich sehe mit gekämmtem Haar aus wie Lockhart?", erkundigte sich Ron besorgt und legte die Bürste zur Seite.
„Ja, schon", entgegnete Harry ehrlich. Ron fluchte unwirsch und zerstrubbelte sie wieder fein säuberlich.
Harry schaute ihm dabei verwundert zu. Er fühlte sich müde, die ganze Nacht hatte Ron ihn in seinen Träumen heimgesucht, der ihm ein Bild von Yuri vor die Nase gehalten hatte. Das Bild bewegte sich und zeigte immer wieder und wieder ihren Gesichtsausdruck, als sie sich von ihm verabschiedet hatte, und immer wieder fühlte Harry die Benommenheit, die er in jenen Augenblicken empfunden hatte; gleichzeitig jedoch auch den Zorn über sein Schweigen, als Yuri ihm gestanden hatte, was sie für ihn fühlte. Es fiel ihm schwer, es sich einzugestehen, doch er hatte sich wie ein Trottel angestellt. Selbst Neville hätte diesen Moment wohl galanter gemeistert als er. Wütend klatschte er sich seine Brille auf die Nase und begann missmutig, sich seine Jeans überzuziehen.
Er war froh, dass ihm rasch etwas einfiel, worüber er sich wundern konnte. Hatte Hermine nicht versprochen, ihn zu wecken? Es war nicht ihre Art, ein Versprechen nicht einzuhalten. Ob ihr etwas zugestoßen war?
Unsinn, protestierte die kleine summende Stimme in seinem Kopf, sie hat es einfach vergessen. Selbst Hermine vergisst manchmal etwas, oder?
Doch sogleich wurde er von einem Achtung heischenden Klopfen direkt hinter ihm abgelenkt. Er wirbelte herum und erblickte etwas großes Weißes, das ungeduldig mit seinem orangefarbenen Schnabel an die klirrende Scheibe hämmerte. Ron entfuhr ein kurzer Schrei.
Yuri, fuhr es Harry durch den Kopf und stürzte zum Fenstergriff. Ob sie es war? War das tatsächlich Yuri, die dort mit den rasch schlagenden Flügeln vor seinem Fenster wartete?
Sobald das Fenster offen war und Harry die kühle Morgenluft auf seiner Haut spürte, zischte der Vogel an ihm vorbei und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, ganz so als ob das beschlagene Fenster als Eingang seinem nicht würdig war.
„Yuri?", hauchte Harry und starrte den Schwan an. Dieser jedoch schüttelte kaum merklich den Kopf, und ihm war, in dem Blick des Vogels eine Art von Mitleid erkennen zu können.
„Oh, du bist' s, Cygnus", sagte Harry und versuchte, seine Enttäuschung so gut wie möglich zu verbergen. Der Schwan schnappte nach seinem Ärmel und stieß empörte Laute aus. „Schon gut, ich freue mich ja, dich zu sehen", fügte er matt hinzu. Das schien ihn zufrieden zu stellen, denn er streckte Harry bereitwillig seinen linken Fuß entgegen, an dem ein unscheinbarer Zettel hing, ebenso weiß wie seine strahlenden Federn. Neugierig band ihn Harry ab und beugte sich zusammen mit Ron und angehaltenem Atem darüber, eine Erklärung, eine Anweisung erwartend, die ihn bis zu ihrem Wiedersehen trösten würde. Yuris Brief war sehr kurz:
Lieber Harry,
ich weiß nicht, ob dich dieser Brief erreichen wird, deshalb werde ich nicht sagen, wo ich mich zurzeit befinde. Abgesehen davon wäre das ohnehin überflüssig, da ich mich nirgendwo lang aufhalte.
Wie ich dir schon sagte, werde ich dem Willen deiner Bestimmung nichts entgegensetzen, egal was passiert, er gehört für ewig dir. Einen Teil des Kampfes jedoch muss ich kämpfen und ich bitte dich, das zu verstehen. Ich weiß, dass es nicht gerecht von mir war, dich auf diese Weise davon wissen zu lassen, doch der Tod verändert die Wege schneller, als man sie planen kann.
Niemand weiß, was als nächstes geschieht, Harry, und das heißt, man muss mit allem rechnen, auch wenn das unmöglich ist. Aber man muss es versuchen.
Ich vertraue dir.
Unterschrieben hatte sie nicht. Harry las ihren Brief wieder und wieder, versuchte angestrengt zwischen den Zeilen zu lesen, doch ihre Worte waren so klar und unmissverständlich gewählt, sodass er es sehr schnell aufgab.
„Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, was ich tun soll", murmelte Harry ratlos.
„Wie wäre es, wenn du was Nettes zurückschreibst?", schlug Ron vor. „Du könntest erzählen, dass wir gewonnen haben."
„Toller Vorschlag, Ron", sagte Harry in sarkastischem Tonfall. „Und vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, wie das Wetter sich gemacht hat und was es heute zum Frühstück gibt." Seufzend wandte er sich von Ron ab und öffnete das zugefallene Fenster. Cygnus hatte es sich auf seinem Kopfkissen gemütlich gemacht und suchte auf dem Bettlaken nach nicht vorhandenen Brotkrümeln. „Hast du 'nen Vorschlag?", fragte er leise, ging zu ihm hinüber und strich ihm über das weiche Gefieder. Der Schwan gurgelte mitfühlend und zwickte ihm tröstend in den Daumen.
„Flieg schon mal in den Eulenturm, ich bringe dir nachher eine Antwort… hoffe ich", sagte Harry schließlich und sah Cygnus zu, wie er elegant durch das Fenster verschwand, wobei seine langen, fedrigen Flügel den Rahmen streiften.
„Was willst du ihr denn dann schreiben?", warf Ron ein. „Denk dran, dass jemand den Brief abfangen könnte, Mann."
„Du klingst wie Hermine", erwiderte Harry Stirn runzelnd.
„Ich meine ja nur, dass wir sie nicht in Schwierigkeiten bringen sollten, wenn es nicht unbedingt sein muss", erwiderte er entschuldigend. Nach einer kurzen Pause fragte er zaghaft: „Meinst du, sie hat ihrem Vater schon geschrieben?"
„Ich weiß nicht, aber falls sie es schon getan hat, müsste heute ihr Bild im Großformat auf dem Tagespropheten zu sehen sein", entgegnete Harry seufzend, „Um ehrlich zu sein halte ich sie für intelligenter."
„Komm schon, irgendwann wird selbst Fudge was auffallen", grunzte Ron verdrießlich.
„Ich fürchte, du hast recht, aber ich werde Yuri nicht aufhalten, wenn sie versucht, das hinauszuzögern", sagte Harry und tauschte sein Nachthemd gegen einen von Mrs Weasley selbst gestrickten Pulli ein. „Je eher Fudge davon erfährt, desto eher wird Voldemort wissen, dass Yuri hinter ihm her ist."
Ron hatte beim Klang des Namens nur unmerklich zusammengezuckt und versuchte, eine gleichmütige Miene zu machen. Inzwischen müsste er sich wohl oder übel daran gewöhnt haben, dachte Harry. „Wie sieht's aus, gehen wir runter zum Frühstück? Ich verhungere gleich." Tatsächlich röhrte sein Magen lautstark, sodass er eigentlich angenommen hatte, mindestens ein argloses Wesen auf den Ländereien hatte schon davon Notiz genommen. „Und wieso hast du diesen Besen dabei?", fügte er verwirrt hinzu.
„Vorher muss ich nur noch kurz was erledigen. Dauert auch nicht lange", war seine einzige Erklärung.
In der verzweifelten Hoffnung, dies möge keine bahnbrechende Untertreibung sein, folgte Harry einem schnurstracks zur Tür marschierendem Ron, der offensichtlich sehr genau wusste, wohin ihn sein Weg führen sollte. Er wirkte noch größer als sonst als er sich auf seinen Sauberwisch schwang, die Treppe zum Mädchenschlafsaal hinauf sauste und mit ein paar kräftigen Schlägen gegen die Tür klopfte, einen verdutzten Harry zurücklassend.
„Was…"
„Dauert nicht lange, einen Moment nur", wiederholte Ron, allerdings mehr zu sich selbst als zu Harry.
Harry beobachtete mit zusammengekniffenen Augenbrauen und halb geöffnetem Mund das, was sich vor seinen Augen abspielte. Was sollte das Ganze? Wollte Ron sämtliche Mädchen aus Gryffindor gegen sich aufhetzen, die ihm noch bis zu seinem Abschluss vorwerfen würden, sie vorzeitig geweckt zu haben?
Nach einigen Augenblicken schließlich öffnete ihm eine, wie Harry erleichtert feststellte, fertig angezogene Hermine die Tür, auf dem Gesicht eine Mischung aus Ungläubigkeit und Schreck.
„Ron, was-"
„Dir auch einen guten Morgen", schnitt ihr Ron das Wort ab. „Ich wollte nur kurz vorbeischauen um dir zu sagen, dass ich… na ja… gehofft habe, dass es… so ein Kuss war. Ähm… du weißt schon."
Hermine hielt gut hörbar die Luft an, und Harry hoffte inständig, sie würde nicht blau anlaufen. Er hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wovon Ron da gerade sprach, doch er wusste, dass nun das geschehen war, was Yuri versucht hatte ihm verständlich zu machen.
Hermine schien jedenfalls nicht vorzuhaben, sich in den nächsten Stunden zu bewegen. Sie stand mit leicht benebeltem Gesichtsausdruck vor Ron, ein kaum erkennbares Lächeln auf den Lippen, und starrte ihn unverwandt an. Ron jedoch blickte sie nur kurz unsicher an, bevor er sich zu ihr hinunterbeugte und sie ohne ein weiteres Wort küsste.
Der Boden des Eulenturmes war kalt und übersäht von Heu, als Harry ein Fass Tinte, seine Feder und eine leere Rolle Pergament darauf abstellte. Er kramte in seinen Umhangtaschen herum, bis er das Stück Toast fand, das er vom Frühstück für Cygnus stibitzt hatte. Der Schwan machte zwar ein pikiertes Gesicht, als Harry es ihm entgegenstreckte, nahm es trotz allem aber bereitwillig zwischen den Schnabel.
„Jetzt hab dich nicht so, etwas Besseres gibt es nicht", erinnerte ihn Harry tadelnd. Cygnus krächzte, als wolle er ihn zum Schreiben auffordern.
„Schon gut, ich fange ja schon an", brummte Harry missmutig; dabei hatte er keine einzige Idee, die er zu Papier bringen konnte. Er versuchte, all seine Konzentration zusammenzukratzen, doch es war schlichtweg nichts vorhanden, das hätte zusammengekratzt werden können. Nach einer halben Ewigkeit, so schien es Harry, berührte er mit der Federspitze endlich den obersten Rand des Pergaments:
Es ist nicht allein mein Kampf, es ist ein einer, der sehr vielen Menschen gehört. Auch dir. Trotzdem will ich, dass du zusammen mit mir kämpfst. Versuch nicht länger, alles allein zu machen, irgendwann wird es keinen Sinn mehr haben, und wenn dich jemand in einer Sackgasse angreift, hast du nicht die besten Chancen.
Du weißt sicher, dass ich dir eigentlich viel mehr sagen will, aber nicht auf diesem Wege. Ich warte damit, bis wir uns wieder sehen. Ich vertraue dir auch. Mehr wahrscheinlich, als ich es tun sollte.
Langsam verschloss Harry das Tintenfass, als er sich den Brief noch einmal durchlas. Wankend erhob er sich und schnürte die Rolle an Cygnus' Bein fest. Er wirkte höchst zufrieden, stieß einen lauten, hellen Schrei aus und flog davon, so schnell, dass Harrys Augen ihm kaum folgen konnten. Er zuckte zusammen, als hinter ihm jemand ausgelassen anfing zu reden.
„Hast du es schon gehört, Harry?", fragte Ginny, die mit leicht glühenden Wangen eine Rolle Pergament in den Händen umklammert hielt. „Hast du, ja?"
„Äh…"
„Ron und Hermine-"
„Ja, ich… war sozusagen dabei", sagte Harry mit einem gequälten Lächeln, wobei er ein wenig langsamer als gewöhnlich die Feder und das Tintenfass vom Boden aufhob.
Ginnys Lächeln erschlaffte und ihre Augen blickten plötzlich sehr ernst drein. „Gefällt es dir nicht?" Es war eine einfache Frage, doch Harry wusste nicht genau, was er darauf antworten sollte.
„Ich weiß nicht", begann er langsam, „ich will nur nicht, dass sich zwischen uns etwas verändert. Ich mochte es so, wie es bisher war." Es fiel ihm nicht leicht das zuzugeben, doch er hatte das sichere Gefühl, dass Ginny nicht lachen würde. Sie lächelte sanft und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst", sagte sie, „aber du solltest wenigstens auch versuchen, für die beiden Verständnis aufzubringen. War dir denn nicht klar, dass so etwas irgendwann passieren würde?"
„Doch, manchmal schon", brummte Harry.
„Komm schon, du bist und bleibst trotzdem immer noch ihr bester Freund", fuhr Ginny aufmunternd fort, „wieso sollte sich das ändern? Ich sehe gar keinen Grund, sich zu sorgen, ehrlich, Harry. Mach dir nicht wegen alles und jedem einen Kopf, das bringt dich nicht weiter."
„Hast du das von Fred und George?"
„Ja, und es ist verdammt wahr", gestand sie trotzig, wenn auch mit leicht geröteten Wangen. „Ach ja, ich wollte dich noch was fragen-"
„Ich habe Zeit", sagte Harry grinsend.
„Gut, dann macht es dir sicher nichts aus, heute Nachmittag ein Interview für den Klitterer zu geben?", fragte sie mit strahlendem Gesicht, das ohne Zweifel keine Antwort zuließ. „Die Kimmkorn freut sich schon auf dich", fügte sie hinzu und zog eine Grimasse.
„Jaaaaaaaah, sicher", sagte Harry trocken.
„Luna wird sie begleiten", erklärte sie und begann, die Eulen zu mustern, anscheinend, um die kräftigste unter ihnen zu erkoren, „also dann, heute um Vier in den Drei Besen, hinterster Tisch links."
„Geht klar", sagte Harry und erhaschte einen kurzen Blick auf das lange, dicht beschriebene Pergament in ihrer Hand. „Ähm… sag mal, an wen schreibst du denn?"
„An Fred und George", entgegnete Ginny freudestrahlend, „ich will ihnen von Ron und Hermine berichten, er selbst würde daran ja nicht in Traum denken. Und das wäre doch ungerecht, immerhin ist er ihr Bruder!"
Zweifelnd, ob die Zwillinge diese Nachricht ebenso unschuldig glücklich wie ihre Schwester aufnehmen würden, stieg Harry die Treppen zum Eulenturm herunter. Erst als er vor der Fetten Dame stand und das Passwort nannte, kam ihm in den Sinn, dass vielleicht auch Ginny nicht die nobelsten Hintergedanken hatte, als sie ihren zwei Brüdern den Brief schickte.
