Wie schon so oft an diesem Tag fühlte Harry sich bis an die Haarwurzeln erröten. Er wandte sich wieder dem Regal zu und stopfte das Buch mit etwas mehr Gewalt als nötig an seine Stelle zurück, die Lippen fest aufeinander gepresst und das Kinn stolz erhoben, so unbewusst dem Abbild des "stolzen Typs" aus dem Buch stark ähnelnd. Verdammt, hoffentlich waren die zwei Stunden bald um, damit er endlich aus der Gegenwart Malfoys entfliehen konnte.

Dem schien es anscheinend überhaupt nichts auszumachen, dass sie diese Strafarbeit bekommen hatten - er arbeitete vielmehr fröhlich vor sich hin und Harry war sich fast sicher, dass sein Kopf mit einem lauten Knallen explodieren würde, wenn er sich nur noch ein bißchen toller fühlen würde.

Ein schwaches Lächeln erschien auf Harrys Zügen. Endlich, dem Himmel sei es gedankt, endlich hatte er wieder normal über Malfoy gedacht und nicht über dessen Hautfarbe oder sonstige Aussehensmerkmale philosophiert. Endlich benahm er sich wieder normal.

Mit fast beruhigten Nerven nahm er aus den Augenwinkeln heraus wahr, dass Malfoy ihn wieder beobachtete. Sofort war es um seine Ruhe geschehen. Genervt drehte er sich zu dem Störenfried um und fragte ungehalten: "Was denn, Malfoy? Hab ich was im Gesicht?"

Mit leisem Erstaunen beobachtete er, wie zur Abwechselung mal Malfoys Gesicht rötlich anlief und er seine Lider rasch senkte. Er räusperte sich, starrte kurz seine Fußspitzen an als würde er sie zum ersten Mal sehen, und antwortete dann: "Sicher, Potter. Diese hässliche Narbe. Bist wohl verdammt stolz auf das eckige Ding, oder warum sonst hast du deine Haare so sorgfältig davon weg gestrichen?"

Harry knurrte leise und höchst unheilverkündend. "Na, du musst ja wissen, wann Haare sorgfältig bearbeitet wurden, nicht wahr? Soviel Gel wie in deinen Haaren drin ist - damit könnte man ja einen ganzen Ochsen einfetten!"

Malfoys Gesicht errötete noch mehr und er griff sich unwillkürlich in sein Haar, anscheinend um es auf die Gelhaltigkeit zu prüfen. Harry lachte abschätzig. "Ja, du kannst mir glauben, da ist 'ne Menge Gel drin!" meinte er höhnisch, und bevor er noch wirklich realisierte, was Malfoy vorhatte und dementsprechend reagieren konnte - und seine Reaktionszeit war ja für gewöhnlich ziemlich gut - wurde er von einem schweren Buch am Kopf getroffen und ging wie ein gefällter Baum zu Boden. "Urghs", machte er unkoordiniert und griff sich benommen an die Stirn, während alles sich um ihn herum wie wild zu drehen begann.

"Scheiße", hörte er plötzlich jemanden neben sich laut und herzhaft fluchen, "so ein verdammter Mist!"

Harrys Augenlider flackerten und er registrierte mit einem leisen Gefühl der Übelkeit, dass ihm während des Falles wohl die Brille runtergefallen sein musste. Jedenfalls sah er alles nur noch verschwommen, wie auch den hellen Fleck neben sich. Die Stimme allerdings hätte er wohl überall wiedererkannt.

"Potter", rief diese ihn nun drängend, "hey Potter, guck nicht so belämmert." Malfoy, dachte er, eindeutig Malfoy. "Tut mir leid, ich dachte nicht, dass dich das Buch treffen würde." Hatte er sich verhört? Oder hatte Malfoy sich gerade entschuldigt - auch wenn die Art und Weise noch deutlich zu wünschen übrig ließ. Er dachte nicht, dass ihn das Buch treffen würde - phh. Warum hatte er es dann geworfen?

Eine angenehm kühle Hand legte sich auf seine Stirn und strich sanft über die allmählich entstehende Beule. "Verdammt, Harry", murmelte Malfoy wieder, wohl mehr zu sich selbst, "jetzt sag doch was."

Einen kurzen Augenblick lang überlegte Harry, einfach so liegen zu bleiben und die unverhofften Streicheleinheiten noch ein Weilchen länger zu genießen, als er begriff, dass er schon wieder dabei war sich wie ein kleines, dummes Mädchen aufzuführen. Undankbar stieß er die Hand beiseite und rappelte sich auf die Ellenbogen auf. "Geht schon, Malfoy", sagte er, tapfer den aufkommenden Schwindel bekämpfend, "alles bestens."

Malfoys Gesicht kam näher und näher, bis sogar Harry mit seiner Kurzsichtigkeit alle feinen Details seines Gegenübers wahrnehmen konnte - den blassen, fast zarten Rotton von dessen Lippen, die scharfgeschnittene, ebenmäßige Nase und die Augen, diese unglaublichen Augen, die Harry im Moment viel zu nah waren. So nah, dass er sein eigenes, verschreckt wirkendes Spiegelbild aus beiden Augen reflektiert war, einen grünäugigen Jungen mit schwarzen Haaren, die man kaum als Frisur bezeichnen konnte.

"Sicher?"

Harry brauchte einen Moment bis er registrierte, dass diese Frage an ihn war. "Ja, ich bin sicher", gab er ärgerlich zurück und versetzte Malfoy einen Stoß gegen die Brust, damit er ihm nicht mehr so unerträglich nah war, damit sich ihr Atem nicht mehr vermischen konnte.

Malfoy verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Hintern. Es knirschte bedrohlich, und sogar Harry konnte verschwommen erkennen, dass ein Grinsen über Malfoys Gesicht zog. "Super, Potter", meinte er ironisch, "du hast mich genau auf deine Brille geschubst. Die ist jetzt wohl hinüber."

Harry verzog das Gesicht und stand ganz auf. Seine Stirn pochte wie verrückt und er musste sich an den Regalen festhalten und die Augen schliessen, um nicht sofort wieder auf den Boden zurück zu plumpsen. So bekam er nicht mit, wie Draco sich rasch aufrichtete und ihm einen schwer zu deutenden Blick zuwarf.

"Malfoy", sagte er, und seiner Stimme war der Unwillen deutlich anzuhören, "kannst du mich in meinen Turm bringen?" Er wusste, wie lächerlich die Bitte war und das Malfoy vermutlich eher Goyle einen Zungenkuss vor der ganzen Schule gegeben hätte, als sich freiwillig als Babysitter für einen Gryffindor - und vor allem diesen Gryffindor - zu betätigen, aber er hatte keine Wahl. Entweder, er fragte oder er würde wie ein verlorener Hund stundenlang durch das Schloss irren, um bei seinem Glück vermutlich am Ende entweder im Verbotenen Wald, dem See oder in Snapes Kerker zu enden. Keine verlockenden Aussichten.

Malfoy gab ein kurzes, schnaubendes Geräusch von sich. "Normalerweise bringe ich nur Mädchen auf ihr Zimmer, Potter", erwiderte er und Harry konnte das Malfoy-typische Grinsen aus seinen Worten heraushören und vor sich sehen, als stände der Blonde direkt vor ihm, "und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Ist wohl nicht zu erwarten, dass ich das Gleiche von dir bekomme?"

Er ließ den letzten Satz wie ein Damokles-Schwert im Raum hängen und Harry kam sich plötzlich merkwürdig entblößt vor. Was für ein perfides Spiel spielte Malfoy bloß? Er konnte nichts tun, seine Wangen färbten sich schon wieder rot - diesmal allerdings vor Wut, wie er meinte. "Wohl nicht", erwiderte er kühl und kniff seine Augen zusammen, um Würde - und vor allem um Standfestigkeit - bemüht.

Draco betrachtete ihn eine Weile aufmerksam und antwortete dann, um eine normale Stimmlage bemüht, während er innerlich bei dem ungewohnten Anblick von Harrys unverhüllten, smaragdgrün funkelnden Augen schlucken musste: "Egal, Potter. Ich bringe dich zu deinem Turm."

Harrys Unterkiefer klappte herunter, so sehr überraschte ihn diese Zusage. Innerlich hatte er sich schon auf eine handfeste Diskussion mit Malfoy vorbereitet - und auf das Gefühl, als Verlierer aus dieser hervorzugehen. In diesem Moment war ihm so ziemlich jeder überlegen, und er hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Malfoy diese Situation schamlos ausnutzen würde. Und jetzt wollte er ihn tatsächlich zurückbringen? Unglaublich. "Oh", sagte er unbestimmt, "wie... nett." Er kam sich albern und unsagbar dämlich vor bei diesen Worten, konnte sich aber nicht mehr stoppen.

Malfoys Unterlippe kräuselte sich. "Ich mache das nicht für dich, Potter. Erstens passiert es mir nicht oft, dass ich den Goldjungen persönlich wie einen Dackel spazierenführen kann und zweitens werden Slytherin 200 Punkte abgezogen, wenn ich mich nicht irgendwie mit dir arrangiere."

Harrys Gesicht wurde erst rot, dann blass, dann wieder rot und er presste seine Lippen so fest aufeinander, dass sie nur einen schmalen Strich bildeten. Ein Zug ungewohnter Härte zog über sein Gesicht und Malfoy lächelte amüsiert. Endlich, endlich mal wieder hatte er es geschafft, den großen Potter zu besiegen - wenn auch nur in einem Rededuell und unter der Voraussetzung, dass Potter auf ihn angewiesen war. Ein schönes Gefühl, verdammt schön sogar.

Er bückte sich um Harrys demolierte Brille aufzuheben und nahm sich dann besitzergreifend Harrys Hand. Dieser sog scharf die Luft ein.

"Hey", sagte er empört, "was tust du da?" Erfolglos versuchte er, seine Hand aus dem harten Griff des Blonden zu befreien.

Malfoy seufzte übertrieben. "Wie stellst du dir das vor, Potter? Du läufst hinter oder neben mir her und kollidierst ohne Unterlass mit Wänden oder Büchern?" Harry lag der scharfe Einwand auf der Zunge, dass beides nur Malfoys Schuld gewesen sei, kam aber nicht zu Wort. "Ich würde dir auch liebend gerne eine Leine umbinden, aber dummerweise habe ich gerade keine zur Hand." Harry verdrehte die Augen, konnte aber allerdings auch diesmal nichts einwerfen. "Und somit scheint mir dies die einzige Möglichkeit, ohne dass ich morgen ein äußerst unfreuliches Gespräch mit Flitwick darüber führen muss, warum Quasimodo gegen dich eine Schönheit ist, Mr. Meine-Beule-könnte-als-zweiter-Kopf-durchgehen." Harry knurrte und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen als Malfoy einwarf: "Und keine Sorge - ich werde schon nicht mitten durch die Schule tapern, mit dir händchenhaltend." Er drückte Harrys Hand kurz und beruhigend und sandte so kleine, heiße Wellen durch dessen Körper. "Schließlich will ich nicht, dass die ganze Schule mich für schwul hält."

Harry schluckte. "Gut zu wissen", brachte er heiser hervor, und ärgerte sich im selben Moment über seine Stimme, in der ein Hauch von Enttäuschung mitschwang. Was hatte er denn?

Malfoy reagierte kaum auf Harrys Worte sondern zog ihn mit sich, mit der Rechten Harrys Hand haltend und mit der Linken die Brille so umklammernd, dass die scharfen Glassplitter in sein Fleisch schnitten und ein dünner Blutfilm über das Gestell lief.

Harry konnte fühlen, wie sein Puls sich mehr und mehr beschleunigte mit jedem Schritt, den sie aus zusammen gingen. Träumte er einen völlig absurden Traum - oder lief er tatsächlich gerade mit Malfoy händchenhaltend durch die Schule? Es bedrückte ihn ein wenig, dass er das Gesicht des Anderen nicht sehen konnte - sicherlich lachte Malfoy gerade still vor sich hin und malte sich in den buntesten Farben aus, wie er später mit dem Erlebnis vor seinen Getreuen prahlen würde. Wunderbar, Harry konnte schon den genauen Wortlaut und Malfoys schnarrende Stimme hören: "Erst hab ich ihn mit einem Buch beworfen, woraufhin der Schwächling natürlich umgekippt ist. Dann hab ich seine Brille zertreten und er hat mich angebettelt, dass ich ihn zurück zu seinen Schlammblut-Freunden bringe, damit er nicht blind wie ein Fisch durch die Schule stolpert!"

Er schnaubte bei der Vorstellung und warf einen wütenden Blick auf den weißblonden Fleck, der für ihn Malfoy bildete. Dieser beschleunigte wie zur Antwort seinen Schritt, sodass Harry prompt aus dem Tritt kam und stolperte. Beinahe wäre er wieder mit dem Kopf voran auf den harten Steinplatten aufgeschlagen, als sich starke Arme um seinen Körper schlangen und er fest an eine muskulöse Brust gezogen wurde.

"Verdammt, Harry!" keuchte Malfoy aufgebracht, und die Besorgnis in Malfoys Stimme ließ Harry aufhorchen.