Kapitel 3/11
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3. Der erste wahre Hinweis

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"Frei! Endlich! Endlich frei!", rief die Frau auf dem Bild. Sie reckte sich und begann sich zu empören: "Warum liegen wir auf dem Boden? Warum sind wir nicht an unserem angestammten Platz? Was hat das zu bedeuten?"

Lucius blickte auf die Leinwand. Rasch hatte er sich von seinem Schrecken erholt und heftete das Bild mit einem einfachen Zauberspruch an die nächstbeste Wand.

"Ah, so ist es besser, viel besser. Jetzt sehen wir, wo wir sind. Und? Wer ist Er?", fragte die Dame ohne Unterbrechung weiter.

Lucius zog seine Augenbraue hoch. Spöttisch deutete er einen Diener an und antwortete: "Lucius Malfoy, stets zu Euren Diensten. So nun genug der Nettigkeiten!" Der spöttische Zug verschwand und machte einem herrischen Platz. "Wer sind Sie und wieso können Sie jetzt reden! Sie waren stumm, ein Muggelbildnis. Mehr nicht!"

"Junger Mann, nicht in diesem Ton bitte!", empörte sich die Dame.

"Ich werde Sie verbrennen, das schwöre ich, wenn Sie nicht gleich auf meine Fragen antworten!", zischte Lucius und begann erneut seine Wanderung um die Truhe herum.

"Interessant! Nicht wahr? Lucius Malfoy? Welches Jahr haben wir? Wir haben seit Ewigkeiten unter dem Verstummungszauber gelitten."

Der blonde Mann stutzte und betrachtete das Bild eingehender. Die Dame war wunderschön, dunkle kunstvoll aufgetürmte Locken betonten ein sehr blasses, atemberaubend schönes Gesicht. Schwarze Auge blickten Lucius ebenso interessiert an wie er ihre Besitzerin.

"Und?", stichelte das Porträt. "Hast du unsere Falten gezählt? Tja die Zeit lässt die Farben brüchig werden, schrecklich!", seufzte das Bildnis.

Lucius schnappte nach Luft, dieses Porträt war ja eine Zumutung. Jetzt besaß es auch noch die Frechheit, ihn zu duzen.

"Hey, Lady...", begann er und zog seinen Zauberstab.

"Tatatatata", machte das Frauenbildnis und hatte in diesem Augenblick eine verblüffende Ähnlichkeit mit der alten, längst verstorbenen Großmutter Malfoy. Sie war die einzige Frau gewesen, die Lucius je wirklich geliebt hatte. So zögerte er einen Moment.

"Meinst du wirklich, Lucius Malfoy, dass du ohne meine Hilfe das da", die Frau deutete auf die Truhe, "auf bekommst?"

Der blonde Mann schaute verdrießlich in das gemalte, schmunzelnde Gesicht. Das süffisante Lächeln brannte sich ihm förmlich ins Gedächtnis.

"Also, was muss ich tun?", erkundigte sich Lucius mühsam beherrscht.

"Bevor ich dir helfe, beantworte mit eine Frage. Was erwartest du, dort zu finden?" Die Dame räkelte sich gerade genüsslich auf der Fensterbank im Hintergrund ihres gemalten Turmzimmers. Ihr schien es offenbar Freude zu machen ihn hinzuhalten.

Lucius fühlte sich auf den Arm genommen. "Was interessiert es ein Bild, was ich dort zu finden hoffe!"

Die schwarze Dame sprang auf, warf ihren schwarzen Umhang fort und zum ersten Mal konnte Lucius ein Blick auf ihr Kleid werfen. Es war himmelblau. Ein Rabe zierte das Überkleid und bronzefarbene Stickereien zogen sich über den gemalten Stoff.

"Rowena?", frage Lucius ungläubig. Die Dame zog die Stirn in Falten. Ein unschöner Riss zeigte sich in der Leinwand genau an der Stelle, an der sich ihre Brauen trafen.

"Zu viel der Ehre, Malfoy!", fauchte sie. Dann klang sie mit einem Mal sehr verletzt und weinerlich, als sie fortfuhr: "Nein, ich bin nur eine billige Kopie eines drittklassigen Künstlers, der nicht einmal soviel Courage besaß, seinen Namen unter sein Werk zu setzen. Oder wie erklärst du dir das hier?"

Die schwarze Dame drehte sich um und zeigte Lucius den entblößten Rücken. Offenbar hatte der Maler sein Werk nicht vollendet. Zwischen den Schulterblättern schimmerte Leinwand hindurch. Schwarze Schriftzeichen, die kaum noch zu erkennen waren, verunstalteten den unfertigen Rücken.

"Nun lies schon!", forderte das Bildnis ungeduldig. "Ich weiß nicht, was da steht. Als ob man sich auf den eigenen Rücken schauen könnte. Männer, scheinbar hat sich seit Jahren an diesen Wesen nichts geändert."

Lucius ignorierte das Geplapper des Bildes und versuchte krampfhaft die Zeichen zu entziffern.

"Verflixt!", meinte er nach einer Weile.

Die Dame warf ihm über die bloße Schulter einen amüsierten Blick zu. "Was ist denn nun schon wieder! Kann Er denn nicht einmal Schrift entschlüsseln?"

Lucius ignorierte den verächtlichen Tonfall und das erniedrigende"Er". Dieses anmaßende Bildnis behandelte ihn wie einen Dienstboten, eine groteske Vorstellung. Im Stillen schwor sich Lucius, dieses plappernde Gemälde wieder zum Schweigen zu bringen, wenn diese Sache vorbei war.

So einfach, wie er es sich gedacht hatte, war es nicht, die Schriftzeichen zu deuten. Es befanden sich keine lateinischen Buchstaben auf dem Rücken der Dame, sondern germanische Runen, wie sie vor Urzeiten in Gebrauch gewesen waren. Sorgsam notierte sich Lucius die Zeichen auf Pergament und behielt den Zettel in der Hand.

"Sie kann sich wieder umdrehen!", imitierte Malfoy ihren Tonfall. Die schwarze Dame reagierte, wie er es erwartet hatte. Empört schnellte sie herum und setzte zu einer harschen Erwiderung an, doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie nahm Lucius' hämischen Gesichtsausdruck wahr. Als sie ein schwarzes Tuch auf sich zu schweben sah, begann sie zu schimpfen und zu zetern.

Mit einem überheblichen Grinsen verhängte Lucius das protestierende Bildnis der schwarzen Dame. Augenblicklich verstummte sie. Scheinbar hatten sprechende Gemälde und Sittiche eine Gemeinsamkeit. Wenn es dunkel um sie herum wurde, schwiegen sie.

"Endlich Ruhe!", seufzte Lucius. Er steckte sich eine Zigarre an, setzte sich gemütlich an den Schreibtisch und machte sich an die Entschlüsselung der Runen.

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tbc