Kapitel 4/11


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4. Der Inhalt der Truhe

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Drei Stunden später lief Lucius vor seinem Schreibtisch hin und her. Er warf abwechselnd der Truhe und seinen Büchern finstere Blicke zu. Er registrierte nicht, dass seine Frau mit einem Zauber die Tür zu seinem Heiligtum öffnete und hineinstürmte. Erst als sie direkt neben ihm stand, bemerkte er sie und zuckte sichtlich zusammen.

"Lucius Malfoy! Wieso verkriechst du dich in deiner Bibliothek! Du hat die Teestunde verpasst. Wir hatten, wie du dich unschwer entsinnen wirst, Gäste zum Tee geladen! Deine Freunde, die Notts, waren hier!", fauchte Narzissa ohne ihre schrille Stimme zu senken. Ein Pfeifen machte sich in Lucius' Ohren bemerkbar.

"Narzissa! Es reicht! Ich hatte dich gebeten, mich nicht zu stören. Ein Mann in meiner Stellung hat weiß Gott Wichtigeres zu tun, als auf albernen Teepartys dünnen Tee zu schlürfen und fade Gurken-Kresse-Sandwiches zu verdrücken! Dafür habe ich nun wirklich nicht den Nerv! Ich wäre dir dankbar, wenn du mich jetzt alleine ließest, ich habe zu arbeiten!"

Narzissa zuckte die Schultern und schlenderte um den Schreibtisch herum. Wie nebenbei ließ sie ihren Blick über die Unterlagen und Bücher, in denen Lucius wohl gerade gelesen hatte, gleiten.

"Runenkunde?", fragte sie verblüfft. Wusste sie doch, dass ihr lieber Gatte keinerlei Ambitionen für alte Schriften und Schriftzeichen hatte.

Sie warf einen überraschten Blick auf ihren Gatten. "Seit wann interessierst du dich für Runen?", bohrte sie weiter, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Lucius ging auf diese Bemerkung nicht ein. Er steckte sich eine weitere Zigarre an und begann hektisch daran zu saugen. "Seit heute eben!", gab er nach einer Weile grimmig zurück.

Narzissa studierte den Zettel und erklärte schließlich hochnäsig: "Dafür brauchst du Nachschlagewerke? Ich bitte dich. 'Der Kelch weist den Weg, aus dem die Weisheit ich trank, von dessen Saft ich wurde weise.' Also ich muss schon sagen, du überraschst mich."

Lucius fiel die Zigarre aus dem Mund. Er hatte vergessen, dass sich seine eigene Frau leidenschaftlich gern mit alten Schriften auseinander setzte und alte Runen sogar ein spezielles Hobby Narzissas waren.

"Der Kelch!", rief Lucius aus. Seine Augen leuchteten. Er eilte um den Schreibtisch herum. "Natürlich! Warum ist mir das nicht eingefallen? Ich wusste, ich würde es nicht bereuen, dich geheiratet zu haben. Steht da noch mehr?", fragte er interessiert, legte wie selbstverständlich den Arm um seine Frau und drückte leicht ihre Schulter. Narzissa zog irritiert eine Augenbraue nach oben, eine Geste, die sie sich innerhalb kürzester Zeit von ihrem Mann abgeschaut hatte. Sie versuchte seinen Arm und seine Nähe zu ignorieren. Einen solchen Überschwang war sie von ihm nicht gewöhnt. Narzissa betrachtete den Zettel eine Weile, verneinte dann aber und wurde mit ausgewählten Worten, einem flüchtigen Kuss und einer schiebenden Hand im Rücken hinauskomplimentiert.

Lucius grinste unverhohlen. So einfach war also des Rätsels Lösung. Er kniete vor der Truhe nieder und betrachtete die Schnitzereien aufmerksam. 'Der Kelch weist den Weg, aus dem die Weisheit ich trank, von dessen Saft ich wurde weise.'

Er fuhr den Namenszug der Gründerin nach und grübelte, was das wohl zu bedeuten hatte.

"Von dessen Saft ich wurde weise", murmelte er leise vor sich hin. Weise! Weisheit!, überlegte er und fixierte den Nachnamen. Mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Weisheit war das, was Rowena Ravenclaw am meisten geschätzt hatte, Weisheit und Intelligenz. Lucius wusste, dass man von einer Gründerin behauptete, sie wäre ein Animagus gewesen. Rowena hätte bestimmt den Raben gewählt, oder der Rabe hätte sie gewählt.

Daher die Runen, sagte er sich. Odin gab sein eines Auge, um Weisheit zu erlangen. Seine Begleiter waren zwei Raben. Gedanke und Gedächtnis hießen sie. Der Rabe weist den Weg, bete Lucius im Gedanken sein Wissen herunter.

Vielleicht brauchte er nur einen Spruch aufsagen und die Truhe würde aufspringen, ein Sesam-Öffne-Dich für eine Kiste. Er strich über den Namenszug und murmelte: "Gedanke sei mein Pfad, Gedächtnis sei mein Steg! Weisheit, die mich leitet, den Horizont erweitert. Raben, zweit gerad', zeigt mir meinen Weg!"

Ein Poltern war in der Truhe zu hören, Schlösser und Riegel glitten geräuschvoll zur Seite. Schließlich sprang der Deckel der Truhe ohne Knarren auf. Der Blick, der sich Lucius bot, verschlug ihm den Atem. Auf einem ehemals dunkelblauen Kissen, das mit Raben in verblassten bronzenen Fäden bestickt war, lag ein Kelch, der aus schwerem Bronze gegossen war. Er war mit Saphiren besetzt, zwischen denen sich feine filigrane Gravuren zogen. Lucius entnahm der Truhe das Gefäß und hielt es mit leichtem Triumphgefühl in der Hand.

"Der erste wahre Hinweis!", kam dem knieenden Mann emotionslos über die Lippen, obwohl es in seinem Inneren anders aussah. "Wohin wirst du mich führen?"

Er drehte den Kelch zwischen den Händen und betrachtete ihn von allen Seiten. Er schaute in den Kelch, aber nichts, nicht die kleinste Spur auf eine Unregelmäßigkeit war zu entdecken. Dieses Gefäß war von einem wahren Könner gefertigt worden. Kurz entschlossen besah sich Lucius auch die untere Seite. Der verhältnismäßig massige Fuß wollte auf den zweiten Blick nicht so recht zur Gesamterscheinung passen. Lucius' Gesichtszüge entspannten sich, als er die Schlange sah. Ein Tier, das Rowena nie verehrt hatte. Das fußlose Wesen schlängelte sich um ein Symbol, das wie ein beschlossenes Buch aussah.

Lucius brach in lautes Gelächter aus und konnte nicht verhindern, dass er dem verhangenen Bildnis einen amüsierten Blick zuwarf. Er wusste, dass dieses Rätsel leichter zu entschlüsseln war. Denn schließlich kannte er sein Vorbild, den großen Salazar Slytherin sehr genau, und wusste von den meisten Dingen, die dieser verborgen hatte. Nur das größte Geheimnis des Meisters der dunklen Künste, kannte er nicht. Der Ort der Kammer des Schreckens blieb selbst ihm verborgen. Aber es würde nur eine Frage der Zeit sein, auch den Schlüssel zu diesem Erbe des Meisters in Händen zu halten.

Lucius erhob sich und legte den Kelch der Rowena Ravenclaw behutsam in die Kiste zurück. Sorgsam verschloss er sie und schaffte sie in die sichere Obhut seines Kerkers.

Das Buch des Salazar Slytherin, das Werk in dem alle Tränke standen, die der Meister des Schwarzen Magie, je gebraut hatte und noch viel mehr. Und ich weiß, wo es sich befindet! Und er hatte auch schon eine Idee.

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tbc