Kapitel 6/11
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6. Das Zaubertrankbuch
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Etwa sechs Stunden und fünfzehn Minuten später schüttelte Crabbe erneut den Kopf. Er konnte es nicht fassen, dass er in Muggelkleidung hinter einem Baum stand und die Umgebung im Auge behielt. Auf eine solche Idee konnte auch nur Malfoy kommen.
"Das Buch ist von Slytherin!", äffte Crabbe Lucius nach. "Das wird ein Kinderspiel!" Der Mann nieste. "Ja ein Kinderspiel von wegen!", schimpfte er leise aber energisch vor sich hin. Der Transatlantikport war holprig gewesen. Noch immer drehte sich ihm der Magen um. Dass seine Übelkeit auch an den Unmengen französischen Cognacs liegen konnte, den er bei Lucius genossen hatte, mochte er kaum glauben.
Endlich tat sich etwas. Ein Muggelauto hielt vor einem kleinen Haus in der Nähe des Museumskomplexes. Bald darauf trat ein Mann in Uniform an das Auto heran. Er beugte sich zum Fahrer und beide redeten. Der Wind trug die Stimmen zu Crabbe. Verzerrt hörte er fröhliches Gelächter. Nach einer Weile übergab der Uniformierte dem Mann im Auto einen Umschlag, grüßte und trat einen Schritt zurück. Das Auto fuhr los und der Muggel schlenderte zurück in das Häuschen.
Crabbe gähnte und lehnte seine Schulter gegen den Baum: "Müde?", schnarrte ihn Lucius an. Unbemerkt war der Zauberer aufgetaucht und hatte sich an den Wartenden angeschlichen. "So passt du also auf. Ich sollte das Buch doch alleine an mich bringen. Es war ein Fehler, dich mitzunehmen", flüsterte der blonde Mann. Seine gedämpfte Stimme klang wütenden und gefährlich. "Du wirst hier warten. Aber egal was geschieht, du darfst nicht zaubern! Verstanden? Behalt den Wachmann im Auge!", orderte Lucius und zog seine dunkle Kleidung zurecht. Er verabscheute Muggelkleidung und alles, was mit Muggeln zusammenhing, aber wenn es seinen Zwecken diente, verdrängte er seine Aversion schon einmal. Ein Mann musste eben tun, was ein Mann tun musste, und das galt für die Malfoys selbstverständlich doppelt.
"Mehr muss ich nicht tun?", fragte Crabbe nach und wunderte sich, wieso Malfoy seine Meinung mit einem Male geändert hatte. Was er jedoch nicht ahnte, war, dass Lucius genau das von Anfang an beabsichtigt hatte. Er hatte nie vorgehabt, den Freund mit ins Museum zu nehmen. Er allein würde es schon schwer haben, nicht aufzufallen, eine weitere Person barg eine zusätzliche Unsicherheit in sich. Lucius brauchte Crabbe als Ablenkung, wie er den korpulenten Mann kannte, würde er irgendwann eine Nachlässigkeit begehen und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Lucius konnte sich ein überlegenes Lächeln nicht verkneifen. "Nein, mehr hast du nicht zu tun. Behalt ihn im Auge, das ist alles!"
Crabbe nickte und widmete seine Aufmerksamkeit dem Häuschen.
Dieser Idiot, dachte Lucius und rieb sich die klammen Hände. Er grinste; ein verschlagenes Grinsen, das Crabbe, hätte er es gesehen, hätte skeptisch werden lassen müssen. So jedoch merkte dieser nicht das Geringste. Lucius schloss die Augen und verschwand mit einem Plopp.
Erschrocken wandte sich Crabbe um und starrte auf den leeren Platz neben ihm, wo sich eben noch der Freund befunden hatte. Er fluchte und macht mit der Hand eine ausholende Bewegung. Allerdings hatte der gute Mann vergessen, dass er seinen Zauberstab in der Hand hielt. Die Mülltonne flog zwei Meter in die Höhe und fiel mit einem lauten Scheppen wieder auf den Bürgersteig. Crabbe schluckte hart. Das war genau das, was er hatte vermeiden sollen.
Der Uniformierte hatte den Krach gehört und rannte aus dem Häuschen. Ihm folgten noch drei weitere Männ er in Uniform. Mit gezückten Waffen kamen sie rasch näher. Der erste blieb stehen, zielte mit der Waffe auf den Baum und rief in breitem gemehrt klingendem Dialekt: "Hände hoch! Rauskommen! Oder ich schieße!"
Crabbe zögerte einen Moment, doch schon peitschte ein Schuss und die Kugel schlug einen Meter über seinem Kopf in den Baumstamm ein.
Wut machte sich in dem Zauberer breit, Wut auf die Muggel, die es wagten, ihm zu drohen, und Wut auf Lucius Malfoy, der das mit Sicherheit genauso geplant hatte. Dennoch entschloss sich Crabbe, das Spiel mitzuspielen. Er hob die Hände und trat aus dem Schutz des Baumes hervor.
"Auf die Knie! Hände hinter dem Kopf verschränken! Los!", wurde er angeschrieen.
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Lucius apparierte in der Nähe einer Kamera, im Entree des Museums. Sein Kontakt hatte ihm genauestens beschrieben, wo er was finden würde und ihm sogar die einzige Stelle genannt, die von der Videoüberwachung, was auch immer das sein möchte, nicht erfasst wurde. Dort stand der blonde Zauberer nun, als er das Scheppern hörte, das von draußen kam, und kurz darauf auch den Revolverschuss vernahm. Er schmunzelte. Auf seine Freunde war eben Verlass.
Mit einer geschmeidigen Handbewegung manipulierte die Kamera. Er wusste zwar nicht genau, was das für Auswirkungen hatte, verließ sich aber auf seine Kontaktperson. Der Muggel hatte irgendetwas von Endlosschleife gefaselt und gemeint, man würde so den Eindruck erwecken, dass sich niemand im Raum befinde. Lucius hatte es mehrfach ausprobiert und geschafft, die Geräte so zu manipulieren, dass der Eingriff kaum nachweisbar war und sich die Wirkung auf die gesamte Anlage erstreckte. Einige Sekunden ließ er verstreichen, bis er den Zauberstab ergriff und ihn auf seinem Handteller bettete.
"Zeige mir den Weg!", befahl er. Einen Moment lang geschah nichts. Dann vibrierte der Stab, erhob sich einige Zentimeter und schwebte über Lucius Hand. Wie von einem Magneten angezogen änderte dieser dann plötzlich seine Richtung. Die Spitze zeigte in eine Richtung in der sich, wie Lucius aus den Plänen wusste, das Treppenhaus befand. Lucius eilte den Stufen entgegen, ohne an der Position des Stabes etwas zu verändern.
Dieser Coup war einfach nur genial zu nennen, selbstverständlich aus Sicht des Zauberers. Lucius hatte es geschafft und den herkömmlichen Vier-Punkte-Zauber so modifiziert, dass sein Zauberstab nunmehr auf Besitztümer Slytherin reagierte. In mühseliger Recherche hatte er herausgefunden, wie das möglich war. Das erstaunliche jedoch war, dass er ohne große Schwierigkeiten den Spruch jederzeit auf jedwede andere Person umpolen konnte. Momentan zählte jedoch nur Salazar Slytherin. Sein Zauberstab würde von ganz allein das ominöse Buch finden.
Lucius lächelte, es war ein ein kaltes, berechnendes aber auch triumphales Lächeln. Er streifte die Kostbarkeiten, die er passierte nur mit desinteressiertem Blick. Ob nun unbezahlbare Gemälde der berühmtesten Künstler, die je in der Muggelwelt gelebt hatten, oder Skulpturen, Fresken, Manuskripte und Inkunabeln in abgedunkelten Vitrinen, Lucius ignorierte diese Schätze. Wichtig war ihm einzig und allein der Slytherin-Codex, wie er ihn nannte.
Malfoy blieb an der Treppe stehen. Die Zeit drängelte. Der Zauberstab zeigt nach unten. Lucius apparierte kurz entschlossen von Etage zu Etage, das sparrte Zeit und Mühe. Schließlich war er im untersten Kellergewölbe angelangt. Nun galt es die Muggelsicherungen wie Alarmanlagen, Sicherheitsschranken oder Stahltüren zu umgehen. Doch er hatte einiges vom Wiesel gelernt. Wie sonst hätte er den Meisterdieb der Knockturngasse im Louvre überrumpeln können? Bisher hatte es keinerlei Vorkehrungen gegen Magie gegeben, was Lucius freute. Arrogante Muggel, dachte er nur. Da näherten sich Schritte. Lucius spürte einen Hauch von Spannung und wie sich Adrenalin in ihm regte. Er presste sich gegen die Wand und sprach einen Ignorierzauber aus. Ein Wächter erschien und schwenkte seine Taschenlampe energisch durch den Raum. Der Lichtkegel traf Lucius' Gesicht, der Uniformierte schaute jedoch an ihm vorbei. Dann sprach er in ein dem Zauberer fremdes Gerät in seiner Hand, das ihm schnarrend, durch Klickgeräusche unterbrochen, zu antworten schien.
"Hier ist alles in Ordnung, over" "Der Typ vom Parkplatz ist auf dem Polizeirevier, komischer Kauz, hat nicht alle Tassen im Schrank, faselt immer was von 'Muggel' und so. Der Lieutenant will die Psychofritzen rufen, ein Fall für die Klapse, wenn du mich fragst! Over and out!"
Der Wächter steckte das Gerät in eine Tasche an seinem Gürtel und verschwand Richtung Treppe.
Das war knapp, dachte Lucius. Er löste sich von der Wand und verursachte dabei ein Geräusch, das dem Zerreißen von Papier gleich kam. Erneut richtete er den Zauberstab aus und folgte ihm, wohin er ihn führte. Er eilte durch den Keller und hatte das Gefühl, noch tiefer in den Boden vorzudringen. Der Raum musste eine Neigung haben, oder die Decke wurde niedriger. Lucius überlegte, während er mit weitausholenden Schritten dem Ziel immer näher kam. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den beleibten Wächter zu töten und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er es auch in Erwägung gezogen. Dann hätte man ihn allerdings entdeckt und die Spur nach England zurückverfolgen können.
Vor einer dicken Stahltür begann der Stab zu zittern, schnellte gegen die Tür und blieb mit der Spitze am Stahl kleben. Lucius atmete schneller. Er löste den Stab und behielt ihn in der Hand. Die Tür wies keinerlei Griff auf. Rechts an der Wand war eine Platte mit einer Zahlentastatur und einer einer Scannervorrichtung angebracht. Lucius wusste von seinem Kontakt, dass er mit solcher Apparatur zu rechnen hatte. Handscanner schimpfte sich das, wie er sich erinnerte. Lucius seufzte und setzte zum Apparieren an. Aber nichts geschah.
Verflucht, beim Barte des Merlin! Apparierschutz!, fluchte er im Gedanken und bereute zum ersten Mal, das Wiesel getötet zu haben. Der Meisterdieb hätte sicher gewusst, wie man in den Raum hinter dieser Tür gelangte. Wutentbrannt richtete Lucius den Zauberstab gegen die Tür und rief: "Alohomora!"
Aber nichts geschah.
Lucius kochte vor Zorn. Er deutete auf die Metallplatte und zischte: "Alohomora Fortis!" Aus der Scannervorrichtung drang eine Reihe piepender Tön. Eine Zahlenkombination erschien auf der Metallplatte. Der rotleuchtende Punkt flackerte kurz und wurde grün. Ein mehrfaches Knattern und Klicken tönte aus dem Raum. Offenbar waren in der Tür verschiedene Mechanismen in Gang gesetzt worden. Mit einem Plop öffnete sich die Tür behäbig und glitt zur Seite.
Der Zauberer hielt die Luft an . Hier geschah etwas, das er in der Muggelwelt niemals erwartet hätte. Die Geräuschkulisse erinnerte ihn an Gringotts, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Schließlich konnte Lucius ungehindert den Tresorraum betreten. Für die Großartigkeit desGwölbes hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Er hatte spektakulärere gesehen. Der Raum war über fünf Meter hoch. Regal, Laden, Kisten, Fächer, Schränke allesamt aus Metall bildeten auf den ersten Blick ein heilloses Durcheinander. Auf den zweiten Blick hingegen erkannte Lucius, dass das Chaos durchaus System besaß.
Lucius setzte erneut den Zauberstab ein. Der einmal losgelassen, sofort auf eines der hinteren Regale zusteuerte und einen Meter unter der Decke schwebend zum Halten kam. Malfoy eilte hinterher, rief den Stab zurück und hielt einen Wimpernschlag später eine schwere Metalllade mit Codeschloss in der Hand.
"Endlich hab ich dich!", hauchte Lucius ehrfurchtsvoll. Alohomora tat das übrige. Er hob das Buch sorgsam aus der Lade. Dort, wo seine Hände das alte, abgegriffene Leder berührten, wurde dieses brüchig, verschwand und gab den Blick auf Silber frei, durch die entstandenen Riss konnte der junge Zauberer die filligranen Gravuren erkennen, die zart in das Silber eingearbeitet worden waren. Hier und da blitzte ein Edelstein durch den Schein-Einband. Lucius hielt inne. Er erkannte in den Verzierungen Schlangen und vereinzelt Basilisken.
Er blinzelte mehrmals und hauchte: "Nicht hier! Nicht jetzt!" Sorgsam zog er aus einer verborgenen Umhängetasche ein weiches Tuch, schlug den Codex darin ein und verstaute es. Dann entnahm er der Tasche ein anderes Buch, das rein äußerlich dem Codex in seinem Schein-Einband glich und vertraute es der Lade an. Man würde nichts bemerken, erst wenn man das Buch öffnete, denn die Seiten waren leer.
Er eilte aus dem Raum hinaus, verschloss geschickt die Tresortür und apparierte in den Eingangsbereich. Hastig nahm er den Zauber von der Technik und verschwand aus dem Museum.
Punkt acht Uhr konnte man einen elegant gekleideten Lucius Malfoy beobachten, wie er hoch erhobenen Hauptes und in arroganter Haltung mit energischen Schritten die Stufen zur Zaubererbank erklomm. Niemand würde vermuten, dass sich dieser angesehene Mann die Nacht zuvor als Einbrecher betätigt hatte.
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tbc
