Kapitel 8/11


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8. Wo ist der Dachs?

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Lucius Malfoy hatte sich wieder einmal in seiner Bibliothek verschanzt. Der Slytherin-Codex lag aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch zwischen mehreren anderen Büchern. Diesmal wusste Lucius genau, was er suchte, gefunden hatte er es allerdings noch nicht.

Der Rabe hatte ihn zum Kelch geführt, die Schlange zum Buch und nun suchte er den Dachs. Das Wappentier der Helga Hufflepuff würde ihn zum nächsten Artefakt führen und zum nächsten Puzzleteil. Lucius durchforstete akribisch jedes Blatt, ging Schritt für Schritt jede aufgezeichnete Rezeptur durch. Aber er wurde und wurde nicht fündig. In keinem der Tränke tauchte ein Dachs auf. Lucius vermutete einen Spruch, in dem das Wort Dachs in irgendeiner Form vorkam. Viele Tränke kannte er, dennoch durchsah er sie nach möglichen Anzeichen, aber nichts, in keinem Spruch, in keiner Zutat gab es auch nur den Bruchteil eines Hinweises auf das Wappentier Helga Hufflepuffs.

Wütend schlug er seine Faust auf den Tisch, stand auf und stieß mit den Kniekehlen den Sessel um. Wo steckst du Aas! Verdammt!, dachte er bei sich.

Lucius trat ans Fenster und starrte hinaus. Er war nicht gerade einer der geduldigsten Männer. Aber er war ein Malfoy, und ein Malfoy brachte das, was er begann stets zu Ende. Es lag nicht in der Natur der Dinge, nicht in der Natur eines Malfoys, sich mit Halbheiten zufrieden zu geben. Lucius ließ seinen Blick durch den Park seines Landsitzes schweifen. Der Oktober war golden, fast sommerlich zu nennen. Die Blätter leuchteten in intensivem Rot. Malerisch und idyllisch, atemberaubend und faszinierend bot sich Lucius die Landschaft dar. Der Nachmittag war weit fortgeschritten und das Licht der untergehenden Sonne verstärkte die Kraft der Herbstfarben enorm. Der Kontrast zum leicht dämmrigen Himmel verstärkte den unwirklichen Eindruck.

Lucius stand mit gespreizten Beinen in hochgekrempelten Hemdsärmeln am Fenster und grübelte. Wieder neigte sich ein Tag dem Ende entgegen, an dem er seine Pflichten vernachlässigt hatte. Narzissa würde mehr als wütend sein, dass er heute seinen Sohn noch nicht aufgesucht und sich mit ihm befasst hatte. Ein schlechtes Gewissen hatte Lucius allerdings nicht, noch war der Junge einfach zu jung, um sich mit ihm zu befassen. Er war zu klein, zu quengelig, zu verzogen. Lucius' Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Hart stieß er die Luft durch die Nase aus. Als ein einsamer Lichtstrahl seine Nase berührte musste er niesen. Verärgert runzelte er die Stirn, doch dann entspannte sich sein Gesicht. Ein erkennendes Lächeln umspielte seinen Mund.

"Der Dachs ist nicht im Text, er ist auf einer der Illuminationen. Aber auf welcher", grübelte Malfoy laut. Er musterte das Buch über die Schulter hinweg. Allmählich verdichtete sich der Gedanke in ihm, das der eigentliche Hinweis auf dem Einband war. Er wusste, dass weder Salazar noch ein anderer der Gründer, chaotische Menschen waren. Vieles sprach dafür, dass sie ihr Leben planten und konsequent durch organisierten. Sie hatten mehr als einen Weg, um zum Ziel zu kommen. Es gab stets zwei, einen schnelle, versteckten und einen langen, offensichtlichen aber mühseligen.

Lucius entschloss sich dazu, den kurzen zu suchen. So lief er zum Schreibtisch, schlug den Codex zu und beäugte kritisch den Einband. Er war nicht länger aus brüchigem Leder, das sich um morsches Holz legte. Massives Silber auf dem filigrane Linien Muster bildeten hatten es abgelöst. Goldplättchen, ins Silber eingelassene Gemmen, Steinschnitzereien und Smaragde, Schlangen aus gedrehten Edelmetallkordeln schmückten das Buch. Zwei Schlangen mit Smaragd-Augen bildeten die Schließen, sie gruben sich mit ihren Mäulern in den Buchdeckel ein, um das Pergament in Form zu halten.

Wo bist du?, fragte sich Lucius erneut. Aufmerksam begutachtete er auch die kleinste Kleinigkeit. Er verengte die Augen und da war sie, die Unregelmäßigkeit, die er suchte. An der unteren linken Ecke des hinteren Buchdeckels leuchtete ein Edelstein in leichtem gelblichen Grün. "Ein Peridot", flüsterte Lucius. Seine Fingerkuppen strichen über den Stein und übten leichten Druck aus. Überrascht zuckte der Zauberer zurück, als sich das Manuskript selbstständig machte. Es klappte auf und blätterte langsam, dann immer schneller werdend, seine Seiten vor und zurück. Nach einer Weile blieb es aufgeschlagen liegen. Vorsichtig beugte sich Lucius vor. Er wollte vor Freude jubeln, eine vollkommen untypische Anwandlung.

Der Peridot hatte ihn zu einer doppelseitigen Illumination geführt, welche die vier Gründer mit ihren Wappentieren darstellte, zumindest sollte sie das. Einzig und allein der Dachs fehlte im Reigen der Tiere. Doch Lucius resignierte nicht. Er betrachtete das Bild und versuchte sich jedes kleine Detail einzuprägen.

Vor einer Landschaft, die der um Hogwarts sehr ähnlich war, standen die Gründer in Paaren zusammen. Die erste im Bunde war Rowena Ravenclaw. Obwohl der Darstellung jedwede Perspektive fehlte, konnte Lucius entfernte Ähnlichkeit zum Gemälde der schwarzen Dame feststellen. Rowena in einem himmelblauen Kleid mit bronzefarbenen Stickereien hatte einen Vogel auf der Schulter zu sitzen, den man für einen Raben, aber auch für einen Adler halten konnte. In der Hand hielt sie einen bronzefarbenen Kelch. Lucius nickte, dieses Vermächtnis hatte er. Neben Rowena stand Salazar Slytherin. Ernst, nahezu etwas verbittert, schaute dieser Mann drein. In dunkles Grün gehüllt mit silbernen Schließen und Schnallen am Gewand und am Umhang wirkte er so unnahbar, wie Lucius sein wollte. Silberfäden zogen sich über seinen Rock. In seinen Armen hielt er ein Buch, das dem Zaubertrankbuch sehr ähnlich sah. Um seinen Hals und seinen rechten Arm wand sich eine Schlange. Zufrieden lächelte Lucius. Auch dieses Erbe hatte er in seinem Besitz. Neben Salazar auf dem anderen Blatt, stand eine brünette, sehr ätherisch wirkende Frau. Der Illuminator hatte sie in einem gelben Kleid dargestellt, mit Schlitzen in den Ärmeln durch die das schwarze Untergewand lugte. Helga wirkte einfach nur lieb und scheu, als könne sie keiner Fliege etwas zu Leide tun. Aber der Dachs war nirgends zu sehen. Lucius runzelte die Stirn, sein Blick fiel auf Goderic Gryffindor. Der Mann stand große und stolz mit leichtem Lächeln da. Er trug ein ähnliches Gewand wie Salazar nur in sattem Rot. Hier und da schien das Gewebe mit Goldfäden durchwirkt. Sein Umhang war schwarz von einer goldenen Schließe gehalten. Vor Goderic stand ein Löwe, der den Mann bis zur Hüfte verdeckte. Lucius musterte die Darstellung kritisch. Gryffindor schien etwas in seinen Händen zu halten, doch was es war, konnte er nicht erkennen, da der Löwe es verdeckte.

Lucius stand kurz davor in eine Kanonade von Flüchen auszubrechen, als sein Blick auf den Turm von Hogwarts fiel. Aus einem der Fenster schaute ein schwarzer Dachs und in seinem Maul trug er eine überdimensionale Schreibfeder. Das Lächeln kehrte auf das Gesicht Malfoys zurück. Hab ich dich, dachte er. Ein Dachs im Turm. Im Turm...! Lucius stutzte.

Seine Augen weiteten sich, als er erkannte, wo sich das dritte Artefakt befand. "Ein Dachs im Tower!" Er jubelte innerlich. Der Turm auf dem Bild hatte sehr viel Ähnlichkeit mit einem der Türme des Londoner Towers. Aber Lucius konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, mit welchem. Er würde sich vor Ort erkundigen müssen. Natürlich wusste er, dass diese Festung erst gebaut worden war, nachdem das Buch geschrieben wurde. Aber er wusste auch, dass Magie oft ihre eigenen Wege ging. Wie war der Slytherin-Codex nach Amerika gekommen und der Kelch nach Frankreich? Das waren ebensolche Rätsel, die ihn allerdings im Moment weniger interessierten. Er befürchtete jedoch, dass das nächste Artefakt ihn eventuell sogar nach Deutschland führen würde oder was noch schlimmer wäre, in die Mongolei, einem Gryffindor war alles zuzutrauen. Zufrieden schlug er das Buch zu und brachte es behutsam und ehrfürchtig in den Kerker, wo er es auf einem Samtkissen neben der Truhe der Rowena bette.

Wieder in der Bibliothek legte er seinen Umhang über die Schultern und ergriff seinen Spazierstock. Er eilte durch das Entree und trat vor sein Anwesen, um zu apparieren. Aber er kam nicht weit. Die Tür hinter ihm öffnete sich einen Spalt breit und ein Paar hellblauer Augen schauten ihn vorwurfsvoll an. Lucius wandte sich langsam um und sah von oben herab auf seinen Sohn.

"Draco! Geh zu deiner Mutter!", orderte er streng. Doch der Knabe gehorchte nicht. Draco stieß die Tür vollends auf, holte tief Luft, öffnete den Mund und brüllte wie am Spieß. "Dada weg!" Was danach kam, hätte sich Lucius nicht einmal in seinen ärgsten Albträumen vorstellen können. Sein Sohn, der aussah wie ein Engelchen, machte das ganze Haus rebellisch. In seinem dunkelgrünen Leibchen und dem dazu passenden Jäckchen ließ er sich auf den Hintern fallen und trommelte mit den Fäusten wie wild auf den Boden. "Daco mit!"

Lucius kalte Miene wurde panisch. Er tänzelte an seinem schreienden Sohn vorbei und rief dabei in einer Lautstärke, die der Dracos in nichts nachstand, nach Narzissa, der Kinderfrau und sämtlichen Hauselfen. Der Vater wusste nicht, was er anderes hätte tun sollen. Er bückte sich umständlich und las sein Kind vom Boden auf. Irgendwie schaffte er es, den brüllenden Jungen so herumzubugsieren, dass er das Gesicht des schreienden Wesens vor Augen hatte und nicht dessen gewindeltes Gesäß.

"Gutschigu!", machte Lucius mit hochgezogener Stirn und versucht sich darin, den Jungen zu beruhigen. Aber Draco wollte nicht. Ein Spiegel zerbrach in der Nähe. Draco hatte wie alle magisch veranlagten Kinder die Eigenart, Gegenstände zum Zerspringen zu bringen, wenn sie wütend waren. Geschockt sahen sich Vater und Sohn an. Ein Augenblick der absoluten Stille. Dann jedoch zogen sich synchron die Gesichter von Vater und Sohn in Falten und beide brüllten nach Narzissa.

Endlich kam Narzissa angeschwebt. Sie sah sehr elegant aus. Amüsiert betrachtete sie das Szenario und fragte sich, welcher der beiden Männer in ihrem Leben wohl röter vor Wut im Gesicht aussah.

"Aha, wollten wir uns wieder wegschleichen!", begann Narzissa. Die beiden wurden ruhig. Lucius war sich nicht sicher, ob sie ihn oder den gemeinsamen Sohn gemeint hatte und erwiderte nichts. Narzissa genoss diesen Moment, dann erbarmte sie sich ihres Gatten und nahm ihm den Sohn ab. "Draco! Ich habe dir mehrmals gesagt, dass du hier unten ohne die Nana nichts zu suchen hast."

Sie reichte den hochroten Jungen an das Kindermädchen weiter und scheuchte beide mit einer Handbewegung fort.

"Und nun zu dir, Lucius!", sagte sie mit honigsüßer Stimme. Lucius richtete sich zu seiner vollen Größe auf und warf seiner Gattin einen misstrauischen Blick zu. Narzissa ließ ihn zappeln und starrte an ihm vorbei in die ungemütliche Dämmerung. "Es wird die Nacht schneien! Du solltest den gefütterten Umhang umlegen!"

Sie gab einem Hauselfen ein Zeichen und ließ sich von ihm das Kleidungsstück geben. Lucius nahm mit einem versöhnlichen Lächeln seinen Umhang ab, gab ihn an Narzissa weiter und legte sich den wärmeren, weicheren um die Schultern.

"Was immer du tust, sei verdammt nochmal vorsichtig! Ich habe keine Lust, mich alleine um unseren Sohn zu kümmern!", fauchte sie und schlug ihrem Mann die Tür vor der Nase zu. Lucius grinste und apparierte.

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tbc