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9. Einbruch im Tower
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Im Stadthaus der Crabbes in London am gleichen Abend
"Der Tower!", Crabbe verschluckte sich fast beim Luft holen und fuhr konfus fort: "Nein! Nein! Glaubst, dass ich mich noch einmal von dir ausnutzen lasse? Der Tower! Ich fasse es nicht! Ich habe Ängste ausgestanden, die du dir nicht erklären kannst! Die haben mit ihren Zauberstäben..."
"Pistolen!", belehrte Lucius und betrachtete gelangweilt seine schlanken manikürten Finger. Crabbes Gattin hatte ihn auf Anweisung ihres Mannes zuerst nicht einlassen wollen. Doch Lucius konnte, wenn er wollte sehr charmant sein. Mit einige gezielten Komplimenten und einem reizenden Lächeln war sie weich geworden und hatte ihn unmissverständlich zum Bleiben aufgefordert. Die Gästezimmer waren hergerichtet worden und Lucius verbrachte mit Mrs Crabbe ein paar Minuten in anregendem Gespräch über die Kinder. Die Crabbes hatten einen Sohn, der im gleichen Alter war, wie Draco. Vincent war ein ruhiger, dicklicher Junge mit roten Bäckchen und dümmlichem Gesichtsausdruck, der die Erwachsenen anstarrte, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Lucius verstand es, Mrs Crabbe geschickt mit einigen Anekdoten über Draco zu unterhalten, bis sie es für richtig befand, ihn in den Salon zu Crabbe zu führen.
Nun saß Lucius bei zweitklassigem Whiskey und schummrigem Kaminfeuer in einem Sessel und hörte sich seit einer geschlagenen Stunde die Litanei seines Freundes an.
"... mit ihren Pistolen", äffte dieser Lucius gerade nach, "auf mich gezielt! Sie haben was von Hände über den Kopf, auf die Knie und nicht bewegen gefaselt! Ich habe die Nacht in einer Zelle verbracht, hinter Gittern! Die wollten mich verhören! Ich konnte gerade noch rechtzeitig disapparieren, sonst..."
Lucius sprang auf und riss dabei das Beistelltischchen um. Die Weinkaraffe zerbrach und die dunkle, rote Flüssigkeit ergoss sich über den hellen Perserteppich. Aber Lucius ignorierte das Desaster und schnellte auf Crabbe zu. Er packte ihn an den Aufschlägen seines Abendrockes und zwang, den fast anderthalb Köpfe größeren Mann dazu, ihm direkt in die hellen Augen zu schauen.
"Du Idiot! Weißt du, was das bedeutet!"
Lucius klang ruhiger, als Crabbe es erwartet hätte. Jedoch hütete sich dieser davor, sich allzu sehr in Sicherheit zu wiegen. Schließlich kannte er die cholerische Neigung seines Freundes.
"N-nein?", antwortete Crabbe darum zaghaft.
"Sie wissen nun, dass ein Zauberer hinter den Einbrüchen stecken!", zischte Lucius. "Bisher war es nur eine Vermutung, aber nun werden sie Auroren nach Los Angeles schicken und denen wird nicht entgehen, dass etwas ausgetauscht wurde!"
Dann ließ er Crabbe los, zog seinen Zauberstab und meinte kalt: "Was hindert mich daran, dich zu bestrafen? Sag mir nur einen plausiblen Grund. Was sollte mich daran hindern, dir den Crucio auf den Hals zu hetzen?"
Crabbe zuckte zusammen und wirkte wie ein geschlagener Hund. "Nichts, nur du brauchst mich?"
"In der Tat. Ich brauche dich, und darum wird es mir kaum etwas bringen, dir zu schaden. Aber ich warne dich, noch eine unbesonnene Aktion deinerseits und dein Sohn wird als Halbwaise aufwachsen! Zwei Artefakte, mir fehlen nur noch zwei, und eines ist zum Greifen nahe. Und du vermasselst es!"
Lucius steckte den Zauberstab, nachdem er das Desaster bereinigt hatte, wieder in seinen Spazierstock und setzte sich, als wäre nichts geschehen, wieder in den Sessel.
Auch Crabbe nahm wieder Platz und begann versöhnlich: "Es tut mir Leid, Lucius. Aber Muggel sind mir einfach nur unheimlich. Ich komme mit ihnen nicht klar und will es auch nicht. Du wirst verstehen, dass ich dich bitte, auf mich zu verzichten. Du kannst mich um alles bitten, aber nicht in den Tower. Mein Großvater ist einmal darin gewesen und es war schrecklich." Crabbe erschauderte. Er erinnerte sich sehr genau an die Horrorgeschichten, die sein Großvater ihm über diese Muggelfestung erzählt hatte. Dass sich in der Zwischenzeit viel geändert hatte und der Tower seit langer Zeit schon ein Museum war, ignorierte Crabbe. Für ihn war dieses Londoner Wahrzeichen der greifbare Beweis der Brutalität und Abartigkeit der Muggel.
Lucius richte seine Manschetten und erklärte: "Ich werde morgen allein in den Tower gehen, sobald dieser öffnet. Ich erwarte von dir nicht, dass du die Kronjuwelen stiehlst, du sollst mir lediglich ein Alibi geben, ein glaubhaftes, wohlgemerkt. Meinst du, dass du wenigstens das schaffst?"
Crabbe wirkte erleichtert und bejahte. Dann zog sich seine Stirn in Falten. "Was ist, wenn sie mit Veritaserum kommen?"
Lucius verdrehte die Augen, atmete tief durch und erwiderte gestresst: "Marshbanks ist auf Urlaub irgendwo im Atlantik. Fudge leitet das Ministerium im Augenblick. Er wird nur sehen, dass die entwendeten Gegenstände mit Hogwarts und seinen Gründern zu tun haben. Was wird unser lieber Herr Vize- und zukünftiger Minister für Zauberei folglich tun?... Genau, er wird die Sache an den großartigen Dumbledore weiterleiten und sich aus der Sache ausklinken und Kontakte pflegen. Unser guter Schulleiter von Hogwarts verabscheut Methoden wie Veritaserum. Muss ich noch mehr sagen?"
Crabbe schüttelte den Kopf. Eine Zeitlang saßen sie noch schweigend und trinkend nebeneinander. Schließlich erhob sich Lucius und verschwand in das Gästezimmer. Er wollte ausgeruht sein.
Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr
Das Wetter hatte sich geändert. Es hatte die Nacht tatsächlich geschneit, hier und da konnte man die Reste der ersten Schnees noch sehen; im Laufe des Tages würde alles wieder verschwinden. Nun regnete in Strömen, doch vor dem Tower schien die Touristenschlange kein Ende nehmen zu wollen. Die erste Führung durch den ehemaligen Sitz der englischen Könige begann um zehn Uhr.
Noch reihte sich Regenschirm an Regenschirm vor dem Kartenhäuschen und Lucius befand sich inmitten der Wartenden und versuchte Zusammenstöße mit diversen Speichen der Schirme zu vermeiden. So wandte er hier und da einen Zauber an und kämpfte sich in der Masse weiter vor. Er hatte nicht die Absicht zu warten, bis er an der Reihe war. Wozu war er ein Zauberer, wenn er sich dadurch nicht einen Vorteil verschaffen konnte.
Schließlich hatte er es geschafft und würde mit der ersten Besuchergruppe die Führung durch den Tower erleben. Nicht dass es es wollte, jedoch war Tarnung alles. Ehe Lucius registrierte, dass er ausgerechnet in eine japanische Reisegruppe und eine Busgesellschaft aus Deutschland geraten war, war er auch schon auf historischem Grund und Boden auf dem Innenhof der Festung.
Ein Fremdenführer nahm sich ihrer an und begann nach einem herzlichen Willkommen und einigen Floskeln, die die Dolmetscherin rasch ins Deutsche übersetzte, seinen auswendig gelernten Text über die Geschichte des Tower herunter zu rasseln. Wild gestikulierte der Fremdenführer und deutete nach links nach rechts, nach vorne nach hinten, sogar nach unten und nach oben. Voller Stolz zeigte er auf die Raben im Innenhof und erklärte, dass die Monarchie in Großbritannien solange bestünde, wie es Raben im Tower gäbe.
Dann setzte sich der gesamte Tross in Bewegung und folgte dem kleinen energischen Mann. Lucius schloss sich ihnen an und betrachtete eingehend die einzelnen Türme der Festung. Wo steckst du, ich weiß, dass du hier irgendwo bist!
Lucius Malfoy, dunkler Zauberer aus Leidenschaft, fühlte sich unwohl unter so vielen Muggeln, die merkwürdig gekleidet waren und nicht einmal Englisch sprachen. Tatsächlich hatte er unter der Gruppe aus Deutschland einen dicken Mann in kurzen Lederhosen mit drolligem Hut gesehen, auf dem eine Art Pinsel steckte.
Lucius hatte sich der Tarnung halber erneut in Muggelkleidung gequält. Er trug sogar eine dunkle Perücke, die sein langes weißblondes Haar verbarg. Er kam sich erbärmlich vor, dass er zu solchen Täuschungen greifen musste, nur weil Crabbe zu dusselig gewesen war, und gezaubert hatte. Lucius hatte sich dazu entschlossen als Architekturliebhaber aus Schottland aufzutreten. Es würde nicht weiter auffallen, wenn er die Kronjuwelen ausließe und sich dafür die Baustruktur und Methode des Towers zu Gemüte führte.
Vor dem ersten Gebäude blieb die Gruppe stehen und Malfoy wäre beinahe in eine kleine Japanerin gelaufen, die wie wild auf den Auslöser eines Fotoapparates klickte. Mit einem Mal wurde an seinem Ärmel gezupft. Lucius schaute auf ein kleines blondes Zopfmädchen mit dicker Brille, das ihn munter und offen anstarrte. "Du woarscht abba ned im Omnibusch, gell?", fragte die Kleine und nestelte an ihrem Zopf. Lucius verstand nicht ein Wort. Doch schon kam aufgeregt eine zierliche, bebrillte Dame mit Regenschirm angelaufen, die die Kleine an die Hand nahm und auf sie einredete: "Hanna, habe ich dir nicht..."
Mehr hörte Lucius nicht, und es langte ihm auch. Muggel!, dachte er bei sich und rümpfte die Nase.
Der Fremdenführer lotste seine Schützlinge zur Ausstellung der Kronjuwelen. Ungeduldig wollte der Mann auch Lucius drängen, doch dieser erklärte nur knapp mit Schottischer Tonfall, dass er Architekturliebhaber sei und die Schönheit der Komposition der Türme in aller Ruhe in sich aufnehmen wolle.
"Schotten!", murmelte der Fremdenführer und hastete seinen Japanern und Deutschen hinterher. Lucius musterte die Türme des Towers und versuchte zu erkennen, welcher frappante Ähnlichkeit mit einem Hogwartsturm hatte. Sein Blick blieb an einem Fenster haften. Er erkannte es sofort. Es war dieses gewesen, aus dem der Dachs geschaut hatte. Lucius sah, wie jemand die Tür zu diesem Turm betrat und heimlich folgte er dem Mann. Im Eintreten warf er einen Blick auf das Schild am Rande. "The Bloody Tower!"
Einem Malfoy lief selten ein Schauer über den Rücken, in diesem Fall jedoch fühlte er sich elend. Wie kam ein Turm, ein einfaches Gebäude aus Stein und Putz, zu einem solchen Namen. Unauffällig stieg er hinter dem Mann die Wendeltreppe empor und gelangte in einen, in dem dunkelbrauner edler Sekretär stand. Ein Buch lag aufgeschlagen auf der Schräge. Schreibutensilien steckte in einem dafür geschaffenen Behältnis, als würde gerade vor wenigen Stunden jemand damit gearbeitet haben.
"Was sucht Ihr hier? Zauberer?", wurde Lucius von einer kindlichen Stimme angefahren. Langsam drehte er sich mit weitaufgerissenen Augen um. Er schaute auf die gegenüberliegende Wand und sah nichts.
"Nein, Eduard, bitte, ignorier ihn, dann geht er wieder!"
Lucius' Blick schnellte an die Decke. Was er sah, ließ ihn grinsen. Dicht aneinander gedrängt schwebten zwei Jungen an der Decke, die sich verblüffend ähnlich sahen. Beide waren durchscheinend. Der ältere von beiden Geistern musste zwölf Jahre gewesen sein, als er starb. Mutig schwebte er vor seinem jüngeren Bruder in der Luft.
"Was wollt Ihr hier?", rief der Geist, der offenbar Eduard hieß.
Lucius schluckt. Mit Geistern hatte er im Tower nicht gerechnet, obwohl es ihm nunmehr logisch erschien. Was sollte er machen? Er setzte sein charmantestes Lächeln auf und erwidert: "Ein Rätsel hat mich hergeführt. Ich bin auf der Suche nach einem Gegenstand, der einst einer mächtigen Zauberin gehörte."
Eduard kam näher und musterte Lucius. "Eure Augen sind kalt. Warum sucht ihr diesen Gegenstand?"
Lucius Kiefer knackten.
"Nun, man hat mich gebeten, es zurück an seinen Ursprung zubringen."
Der Eduardgeist schwebte näher und ließ seinen ängstlich zitternden Bruder zurück an der Decke. "Edurd, nein, er wird dir auch böses antun, wie die Männer, die uns im Schlaf wehtaten."
Lucius stutzte, dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das mussten die beiden Prinzen sein, die Richard III., wie man mutmaßte, hatte ersticken lassen, um die rechtmäßigen Thronerben aus dem Wege zu räumen.
"Euer Majestät?", fragte Lucius unterwürfig und verneigte sich. Dass es nur gespielt war, war nicht wichtig. Er wollte Helgas Vermächtnis haben und dieser Knabe wusste, wo es war.
"Ihr wisst, wer ich bin?" Der junge Geist lächelte. "Das ist schön und ich dachte, man hätte uns vergessen. Die Leute, die jeden Tag herkommen und uns in unserer Ruhe stören, sehen uns nicht, sie wissen nicht wer wir sind. Es wird ihnen immer erzählt. Aber es interessiert sie nicht. Sie wollen nur etwas über die anderen wissen, die hier eingesperrt worden waren. Wisst Ihr denn genau, was ihr sucht?"
Lucius lächelte und neigte leicht den Kopf. Dieser kleine Geist prüfte ihn offenbar. "Nun die Zauberin war eine Poetin, eine Meisterin des Wortes!"
Da meldete sich der jüngere Geist zu Wort. "Du, da war doch mal ein Zauberer hier und hat etwas in die Schachtel getan, die jetzt noch immer im Pult liegt. Ob er das meint?"
Eduard warf seinem Bruder einen ärgerlichen Blick zu. Doch es half nichts. Lucius wusste, dass er es gefunden hatte. Er öffnete den Deckel des Pultes und nahm eine längliche Schachtel heraus. Sie war schwarz wie die Nacht. Als er sie öffnete, schwebten beide Geister über seinen Schultern und schauten neugierig zu, was er tat. Es waren eben doch noch Kinder, die in erster Linie neugierig und wissensdurstig waren.
Die Schachtel ließ sich ohne Zauber leicht öffnen. Auf quittegelber Seide lagen in Vertiefungen, eine Schreibfeder, ein Griffel und ein Zauberstab. Die Deckelinnenseite zierte ein schwarzer Dachs dessen Vorderpfoten auf einem kunstvoll gestickten "H" ruhten.
"Helga Hufflepuff!", flüsterte Lucius. Er hatte das Gefühl, dass die Augen des Dachses, kleine Onyxsplitter zu leuchten anfingen. Ohne die beiden Jungen noch eines Blickes zu würdigen, verließ er den Bloody Tower. Das Schreien der Buben war noch weit außerhalb des Turmes zu hören. Doch Lucius kümmerte sich nicht darum. Mit freudigem Grinsen verließ er den Tower. Wenige Minuten später erinnerte sich mehr niemand mehr daran, dass ein schwarzhaariger Schotte, der Architektur liebte dort gewesen war. Selbst der Fremdenführer, der die beiden Reisegruppen gerade von den Kronjuwelen zum nächsten Punkt der Führung scheuchte, wusste nicht mehr, das ursprünglich noch ein andere Besucher zu seiner Gruppe gehörte.
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tbc
