„Sprache"

‚Gedanken'

/Zeichensprache/


Kapitel 2
Heero POV

Ich starrte träge aus dem Fenster auf die vorüberziehenden Sterne. Seit Tagen flog ich nun schon einfach so mit unbekanntem Ziel dahin. Glücklicherweise hatte es keine Verfolger gegeben, da dieses Schiff das einzige war, das J zur Verfügung gestanden hatte – zumindest das einzige schnelle Schiff. Meine Flucht war also geglückt, doch wie sollte es nun weitergehen?

Weder Trowa noch ich hatten jemals über diesen Punkt hinausgedacht. Hatten jemals überlegt, wo wir denn hinwollten sobald wir geflüchtet waren. Es gab keine bewohnbaren Planeten, die nicht unter der Herrschaft der OZ standen. Zumindest keine die uns bekannt waren. Es gab mit Sicherheit eine ganze Menge Planeten, auf denen noch Menschen – oder gar andere Spezies – lebten, die noch nie etwas von den OZ gehört, geschweige denn deren Jäger zu spüren bekommen hatten. Natürlich würde ein solcher Planet auch außerhalb des OZ-Herrschaftsbereiches liegen, da die OZ natürlich alle bewohnbaren Planeten innerhalb ihres Hoheitsgebietes besiedelt hatten. Aber das war nur ein weiterer Pluspunkt.

Doch die Wahrscheinlichkeit einen solchen Planeten auf gut Glück, ohne Navigationsgeräte zu finden, schien gleich Null. Und die Navigationsgeräte konnte ich nicht benutzen, weil ich dazu die KI wieder hätte aktivieren müssen – und das würde ich ganz sicher nicht tun.

Überhaupt waren außer der Navigation noch eine ganze Menge anderer Geräte außer Funktion – das für mich kritischste war der Nahrungsreplikator. Offensichtlich war niemals vorgesehen gewesen, so ein Schiff ohne KI mehr als nur ein paar Stunden zu fliegen. Und im Normalfall würde das auch völlig ausreichen, um den nächsten Raumhafen oder bewohnten Planeten anzufliegen – aber gerade das konnte – und wollte – ich ja nicht.

Meine Flucht war also beinahe schon zu Ende gewesen, bevor sie überhaupt richtig begonnen hätte. Das ich keine Nahrung hatte, bereitete mir dabei nicht so viele Sorgen, ich kann es sehr wohl einige Tage ohne Nahrung aushalten. Aber verdursten geht sehr viel schneller als verhungern, und ohne die Replikatoren kam ich auch nicht an Wasser heran.

Und wieder war das Glück – oder vielleicht doch das Schicksal? – auf meiner Seite. Ich fand einen Vorrat von diesem süßen, klebrigen Coryne-Saft, der aus einem Baumharz hergestellt wurde und den J über alles liebte. Scheinbar noch etwas das J von der Konferenz mitgebracht hatte und in seiner Trunkenheit vergessen hatte. Glücklicherweise gab J sich niemals mit repliziertem Coryne-Saft ab, sondern es musste das Original sein.

Aber mir war es recht, ich hatte etwas zu trinken, auch wenn ich mich nach einigen Tagen regelrecht dazu zwingen mußte, dieses widerlich süße Getränk runterzuschlucken. Und außer mit Flüssigkeit versorgte es mich auch noch etwas mit Energie in Form von Zucker, so daß ich nicht völlig schwach vor Hunger war.

Dennoch würde ich wirklich froh sein, wenn ich endlich auf einen Planeten stoßen und wieder normale Nahrung zu mir nehmen können würde. Vielleicht lag es ja an diesem Saft – möglich das er für Menschen nicht wirklich gut verträglich war – aber ich begann mich eigenartig zu fühlen. Ich hatte kalte Schweißausbrüche, konnte mich nur schwer konzentrieren, fror ständig – obwohl die Lebenserhaltung völlig normal funktionierte – und richtig geschlafen hatte ich auch schon lange nicht mehr.

Plötzlich wurde ich durch einen piepsenden Signalton aus meinen Gedanken gerissen. Hatte das von mir hastig geschriebene Suchprogramm – ein kleiner Teil des Computers war trotz der Sperrung der KI noch benutzbar – etwa endlich einen passenden Planeten gefunden?

Schnell beugte ich mich über die Anzeigen – und keuchte erschrocken auf. Das war nicht der Signalton meines Programmes gewesen, sondern ein Warnsignal! Die KI versuchte die Sperre zu umgehen! Verdammt, verdammt, verdammt! Was sollte ich nur tun? Ich kannte mich nicht wirklich gut mit diesen Raumschiffen aus, alles was ich wußte hatte ich mir durch das Durchlesen der Informationen kurz vor meiner Flucht angeeignet – und indem ich mich in den letzten Tagen langsam mit dem Schiff vertraut gemach habe.

Aber über die KI und wieviel Kontrolle oder Möglichkeiten die Kontrolle zurückzubekommen diese hatte, darüber wußte ich fast nichts. Ich versuchte so gut es ging die KI weiterhin manuell zu blockieren, aber verdammt, ich habe auch nur zwei Hände, und egal wie schnell und gut ich auch bin, an eine KI komme ich nicht ran.

Und so gewann das verdammte Ding mit der Zeit wieder mehr und mehr Kontrolle über das Schiff. Zu meiner Ehre kann ich sagen, das ich ihr eine wirklich harte Schlacht lieferte, aber mir wurde schnell klar, das ich diesen Kampf über lange Zeit gesehen nicht gewinnen konnte. Meine Gedanken arbeiteten fieberhaft, während ich Blockaden um Blockaden errichtete.

Ich mußte von diesem Schiff runter, und zwar so schnell wie möglich! Sobald die KI die volle Kontrolle zurück hätte, bräuchte sie nur umzukehren und mich vor J's Haustür abzuladen. Und das wollte ich auf gar keinen Fall.

Mit einer Hand veränderte ich hastig die Suchparameter meines anderen Programms – inzwischen war es mir egal, ob ich einen bewohnten Planeten fand oder nicht, alles was ich brauchte war ein Planet mit atembarer Atmosphäre – ok, vielleicht wäre etwas Flora und Fauna auch nicht schlecht, schließlich wollte ich nicht elendig verhungern.

Und ich hatte Glück. Schon wieder. Langsam tendierte ich doch eher zu der Theorie mit dem Schicksal. Oder vielleicht wurde auch nur alles Glück, das mir bis jetzt in meinem Leben nicht gegönnt wurde auf einen Schlag nachgeholt. Aber ich fand einen Planeten. Atembare Atmosphäre. Und auch genügend Pflanzen und Tiere schien es zu geben. Ich zögerte nicht lange und lenkte das Schiff dorthin.

Als der Planet endlich auf meinen Bildschirmen erschien wäre ich vor Erleichterung fast in Tränen ausgebrochen. Denn lange würde ich die KI nicht mehr zurückhalten können.

Der Planet sah wirklich hübsch aus, sehr blau, viele Ozeane, relativ regelmäßig verteilte Kontinente. Ein Mond. Er war der dritte Planet seines Sonnensystems und so wie es aussah, der einzig bewohnbare. Ich begann mit meinem Sinkflug. Oder sollte ich besser sagen, Absturz?

Denn nichts anderes war es ehrlich gesagt. Die KI hatte inzwischen schon so viel Kontrolle zurückerlangt, daß ein stabiler Sinkflug nicht mehr möglich war. Egal was ich auch tat, die KI versuchte gegenzusteuern. Noch hatte ich das Schiff unter Kontrolle – halbwegs – aber wie lange das noch andauern würde, wußte ich nicht. Hoffentlich so lange, bis ich gelandet war.

Mein Sinkflug wurde immer steiler, und ich konnte sehen, wie die Oberfläche des Planeten näher und näher kam. Wäre der Planet bewohnt gewesen, so würde ich für die Bewohner wahrscheinlich wie eine Sternschnuppe oder ein kleiner Meteorit aussehen, der auf ihren Planeten stürzte. Ich hoffte nur, ich würde nicht auch wie ein solcher Meteorit enden – mit einem großen, häßlichen Krater. Dann würde ich zwar garantiert nicht zu J zurückkehren müssen, aber so richtig viel hätte ich von meiner Freiheit in dem Fall auch nicht mehr.

Also riß ich verzweifelt an der Steuerung und versuchte den Bremsflug etwas abzuflachen. Es war durchaus nicht mein Plan, mich so weit wie möglich in den Planeten zu bohren, nein vielen Dank. Eine sanfte Landung würde schon eher meinen Vorstellungen entsprechen, aber wie es aussah, würde mir sowas wohl nicht vergönnt sein.

Doch ich schaffte es immerhin, den Sinkflug soweit abzuflachen, das ich nicht mehr senkrecht auf den Boden zustürzte. Und dann ging wieder alles furchtbar schnell. Ich flog über ein Wäldchen, streifte ein paar Baumspitzen (und erschreckte die hiesige Tierwelt mit Sicherheit zu Tode), gewann nochmal ein bißchen an Höhe, und dann setzte ich endgültig auf dem Boden auf.

Als endlich alle Erschütterungen aufgehört und sich der Qualm etwas verzogen hatte, blickte ich vorsichtig auf. Soweit ich erkennen konnte, hatte das Schiff zwar nicht unbedingt sanft aufgesetzt, aber allzu beschädigt schien es nicht zu sein. Allerdings würde es wohl ohne Reparaturen nicht wieder abheben können, wie ich mit einem kurzen Blick auf den Schadensbericht bemerkte.

Ich lehnte mich zurück und zuckte leicht zusammen. Meine Rippen schmerzten, möglicherweise waren sie gebrochen. Aber angesichts der Tatsache das ich gerade mit einem Raumschiff abgestürzt war, waren das keine wirklich nennenswerten Verletzungen.

Erneut warf ich einen Blick auf den Schadensbericht. Ich hätte es wirklich nicht besser planen können. Das Schiff würde nicht abheben können, zumindest in nächster Zukunft und ohne ausgiebige Reparatur nicht, und so konnte ich mir etwas Zeit lassen. Die KI konnte mir im Moment nichts antun.

Vorsichtig erhob ich mich und stolperte zum Ausgang des Schiffes. Nachdem ich ihn geöffnet hatte und hinausgeklettert war, blieb ich eine Weile stehen und blickte mich um. Ich befand mich auf einer Art Lichtung, nicht allzu klein – das Schiff hatte sie zusätzlich noch vergrößert – aber auch nicht riesig. Ich war umgeben von hohen Bäumen, Nadelhölzern wie es aussah, und die Temperatur war erfreulich angenehm.

Ich atmete tief ein und blickte hinauf in die sternenklare Nacht. Außer dem Geruch von Ozon, der eindeutig von meinem inzwischen nicht mehr ganz so flugtauglichen Raumschiff ausging, konnte ich den würzigen Geruch des Waldes wahrnehmen. So etwas hatte ich nur selten tun können, als ich noch bei J gewesen war. J hatte Trowa und mich nur selten aus seinem Labor herausgelassen. Aber jedesmal wenn wir die Gelegenheit dazu bekommen hatten, sind Trowa und ich durch die umliegenden Wälder und Wiesen gestreift.

Ich entfernte mich ein paar Schritte vom Schiff und blickte zurück. Scheinbar war die Landung noch weniger sanft gewesen als ich gedacht hatte, denn das Schiff hatte sich sicherlich einen Meter in den Erdboden gebohrt, bevor es zum Stillstand gekommen war. Die lange Furche, die es dabei in den Boden gerissen hatte war ebenfalls kaum zu übersehen.

Ich überlegte gerade, wohin ich nun als nächstes gehen sollte – eine Richtung schien mir so gut wie die andere – als ich ein Geräusch hörte. Ein summendes Geräusch. Ein mir nur zu vertrautes summendes Geräusch. Jäger! Verdammt, das konnte doch nicht sein! Wo kam dieser Jäger auf einmal her?

Doch ich verschwendete nicht allzuviel Zeit auf diese Frage. Völlig egal wo der Jäger herkam, ich mußte hier weg. Ich begann zu rennen, einfach nur los, mitten in den Wald hinein. Ich weiß nicht wie ich es schaffte, so lange ein derart konstantes – und schnelles – Tempo durchzuhalten, vor allem da ich in den letzten Tagen kaum etwas zu Essen gehabt hatte.

Aber als ich endlich aus dem Wald herauskam, da war das Summen des Jägers immer noch hinter mir. Wie weit er hinter mir war konnte ich nicht sagen, aber ich konnte es mir auch nicht leisten anzuhalten um es herauszufinden.

Allerdings stockte ich tatsächlich für einen Sekundenbruchteil, als ich den Wald hinter mir ließ. Doch nicht der Jäger war die Ursache dafür, sondern etwas anderes. Lichter. Ich konnte Lichter ein gutes Stück den Hang hinab unter mir erkennen. Und Lichter bedeuteten für gewöhnlich intelligente Lebewesen.

Ich rannte auf die Lichter zu und wunderte mich kurz, warum dieser Planet mir als unbewohnt angezeigt worden war, wenn er doch offensichtlich sehr wohl bewohnt war. Ich konnte nur mir mein unzureichendes Suchprogramm als Grund denken. Offenbar waren meine Suchparameter zu eng gesteckt gewesen – ich hatte nach einer Zivilisation gesucht, die auf ähnlich hohem technologischen Stand war, wie die vor der ich geflohen war.

Aber vielleicht war es ganz gut, wenn diese Lebewesen hier technologisch noch nicht so weit fortgeschritten waren. Machte die Wahrscheinlichkeit das die OZ sie finden würden erheblich geringer. Und ich war doch überaus froh und erleichtert, das ich den Rest meiner Tage wohl doch nicht als Einsiedler völlig allein auf einem unbewohnten Planeten verbringen würde. Allerdings musste ich erstmal die Jägereinheit loswerden, wollte ich den Rest meiner Tage überhaupt noch erleben, geschweige denn genießen.

Das war auch der Grund warum ich auf die Lichter zurannte. Je mehr Lebewesen, vorzugsweise Menschen, desto schwerer würde es für den Jäger werden, mich zu finden. Und wenn er mich nicht fand, konnte er mich auch nicht zum Schiff zurück schleppen, richtig? Richtig.

Ich schlitterte, rutschte und fiel mehr den Hügel hinab als das ich rannte, aber ich hielt nicht an und wurde auch nicht langsamer. Keine Ahnung was die Jägereinheit so lange aufhielt, aber ich würde mich garantiert nicht darüber beschweren.

Endlich erreichte ich die Randbezirke der Siedlung. Allerdings war es doch mehr als nur eine kleine Ansiedlung. Schien schon eher eine Stadt zu sein – wie groß konnte ich nicht sagen, aber je größer desto besser. Mehr Möglichkeiten mich in der Menge zu verlieren.

Ich rannte die Straßen entlang, die aus irgendeinem seltsamen dunklen, grobkörnigen Stein gefertigt waren. Ich hatte so eine Art Stein noch nie gesehen, aber er mußte auf diesem Planeten in Mengen vorkommen, denn alle Straßen schienen damit ausgelegt zu sein. Außerdem war die Oberfläche der Straßen äußerst ebenmäßig und es waren auch keine Nahtstellen zu sehen, an denen die Steinblöcke aneinandergefügt waren. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wozu man eine derart glatte Straßenoberfläche brauchen würde, aber vielleicht hatte es ja einen kulturellen Hintergrund?

Außerdem schienen diese Leute nicht ganz so technologisch zurückgeblieben zu sein, wie ich zuerst angenommen hatte. Sie hatten immerhin schon die Elektrizität entdeckt, wie ich anhand der Straßenbeleuchtung erkennen konnte. Allerdings schien ich durch einen eher unbewohnten Teil der Stadt zu laufen, denn bisher war mir noch kein einziger Mensch begegnet. Ich hatte einfach beschlossen, die Bewohner dieses Planeten 'Menschen' zu nennen, bis ich etwas Gegenteiliges sehen würde.

Die Gebäude waren alle sehr groß und hatten kaum Fenster. Sie sahen für mich eher aus wie Lagerhäuser, weniger wie Wohnhäuser. Das würde natürlich erklären, warum ich noch niemanden gesehen hatte. Wenn das hier ein Industriegebiet war, dann war hier Nachts natürlich nichts los.

Das war gar nicht gut. Wie sollte ich mich in den Menschenmassen verlieren, wenn es hier gar keine Menschenmassen gab? Ich rannte immer noch wie ein Wahnsinniger die Straßen entlang, bog absolut willkürlich in die verschiedensten Straßen ein, alles in der Hoffnung den Jäger zu verwirren. Ich konnte ihn immer noch hören, irgendwo hinter mir.

Plötzlich hörte ich noch ein anderes Geräusch. Ein tiefes Brummen. Und es kam näher. Inzwischen war es so nah, das es sogar das Summen des Jägers überdeckte, und außerdem war es auf der Straße plötzlich viel heller als noch vor Sekunden. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah zwei runde Lichter auf mich zukommen. In letzter Sekunde warf ich mich zur Seite und blickte dann keuchend dem merkwürdigen Gefährt hinterher, mit dem ich soeben beinahe zusammengestoßen war.

Es bewegte sich auf vier Rädern, war offensichtlich motorbetrieben und die zwei Lichter, die ich gesehen hatte, waren zwei Scheinwerfer, die die Straße vor diesem Gefährt beleuchteten. Offenbar benutzten diese Menschen noch Fahrzeuge mit Bodenkontakt, um sich fortzubewegen. Jetzt wußte ich auch, warum ihre Straßen so ebenmäßig waren. Für Schwebegleiter wie ich sie kannte war es so ziemlich egal wie glatt die Oberfläche war, über die sie hinwegschwebten, aber für Fahrzeuge mit Rädern waren ebene Oberflächen natürlich günstiger.

Das wieder lauter werdende Summen riß mich aus meinen Gedanken. Sofort rannte ich wieder los, dem Fahrzeug hinterher. Ein Fahrzeug bedeutete Menschen, und vielleicht waren dort, wo es hinfuhr ja noch mehr von ihnen. Ich wusste nicht, wie lange dieses noch unterwegs sein würde, aber vielleicht hatte ich ja Glück und es fuhr nicht mehr allzu weit.

Nach einer Weile konnte ich vor mir mehrere Strahler sehen, die sich in einem bestimmten Rhythmus bewegten und Muster in den Himmel zeichneten. Wie hatte ich diese Richtungsweiser bis jetzt nur übersehen können? Die mußten doch sicherlich kilometerweit zu sehen sein. Scheinbar war ich so sehr damit beschäftigt gewesen, dem Jäger zu entkommen, das ich sie einfach nicht wahrgenommen hatte.

Je näher ich diesen Lichter kam, desto lauter wurde es. Ich konnte ein tiefes, vibrierendes Geräusch hören – eigentlich war das Geräusch fast zu tief um es noch zu hören, es schien nur knapp oberhalb der Hörgrenze zu liegen. Für eine Sekunde wunderte ich mich, was wohl ein solches Geräusch erzeugen konnte, doch dann konnte ich endlich Stimmen wahrnehmen und dachte nicht länger darüber nach.

Ich folgte den Geräuschen und kam zu einem weiteren großen Lagerhaus – nur das es scheinbar nicht mehr zu Lagerzwecken genutzt wurde. Zumindest konnte ich mir das nicht vorstellen, denn wieso sollten sonst so viele Menschen – es waren tatsächlich Menschen, wie ich nun sehen konnte – hier sein, wenn es nur ein einfaches Lagerhaus war? Auf dem Dach des Lagerhauses waren die Scheinwerfer angebracht, die sich immer noch bewegten und Muster in den Himmel malten. Scheinbar war das wirklich dazu gedacht, die Leute anzulocken, denn ich konnte eine lange Schlange von Menschen sehen, die vor dem Eingang stand und von mehreren muskulös aussehenden Männern kontrolliert wurden, bevor sie reingelassen wurden.

Ich sah mich hastig um. Ich hatte keine Zeit, um mich in die Schlange zu stellen und zu warten, bis ich an der Reihe war, eingelassen zu werden. Mal ganz davon abgesehen, das ich sowieso keine Wertgegenstände oder gar die ortsübliche Währung hatte, um die Gebühr zu bezahlen, die offenbar nötig war, um hineinzukommen. Aber ich mußte irgendwie hineinkommen, in dieser Halle mußten Unmengen von Menschen sein, dort würde ich mich irgendwo verkriechen und so vielleicht dem Jäger entgehen können.

Hastig lief ich außen an der Wand des Gebäudes entlang. Und tatsächlich, da waren noch andere Türen, allerdings verschlossen. Doch das war mir egal. Ich würde mich jetzt nicht von so etwas wie verschlossenen Türen aufhalten lassen. Ich lief zu einer der Türen hin und zog einmal kräftig daran – und mit einem knirschenden Geräusch öffnete sich die Tür.

Ich starrte einen Augenblick verwundert auf die zerrissene Kette, die noch am inneren Griff der Tür baumelte. Offenbar waren die Menschen auf diesem Planeten wohl nicht ganz so stark wie ich es war. Aber das war im Grunde eigentlich auch nicht so erstaunlich, schließlich waren sie sicher nicht seit Generationen auf bestimmte Eigenschaften hin gezüchtet worden.

Ich schüttelte schnell den Kopf, dann schlüpfte ich hinein. Augenblicklich dröhnte mir ein unglaublicher Lärm entgegen. Ich hatte noch niemals zuvor in meinem Leben so etwas gehört. Einen Moment blieb ich einfach nur an der Tür stehen und versuchte all die überwältigenden Sinneseindrücke zu verarbeiten, die auf einmal auf mich einströmten.

Das Licht war gedämpft, doch ich war trotzdem geblendet. Denn obwohl es nicht sehr hell war, hingen überall bunte Scheinwerfer, die in unregelmäßigen Intervallen aufleuchteten. Aber am schlimmsten war ein äußerst grelles weißes Licht, das so schnell hintereinander blinkte, das jede Bewegung wie in Zeitlupe wirkte. Der Effekt war – gelinde gesagt – gewöhnungsbedürftig.

Dann die Luft – ich weiß nicht ob es Absicht war oder nicht, aber überall schwebte dieser beißende, stinkende Rauch. Er brannte in den Augen und schmerzte beim Einatmen. Tränen liefen mir über das Gesicht und ich mußte schrecklich husten. Doch ich war wohl der einzige, der solche Probleme damit hatte, alle anderen die ich sah nahmen es scheinbar nicht einmal wahr. Ich konnte sogar erkennen, das etliche von ihnen kleine, weiße Stäbchen in den Händen hielten, die sie ab und zu zum Mund führten, und die die Ursache dieses Qualms zu sein schienen.

Einen Moment lang war ich versucht, mich umzudrehen und wieder nach draußen zu stürmen, um diesem furchtbaren Rauch zu entkommen. Aber dann blieb ich doch – er schien nicht gefährlich zu sein, sonst würden die anderen Leute hier ja wohl kaum so ruhig herumstehen und diesen Rauch sogar selbst produzieren. Und dort draußen wartete mit Sicherheit der Jäger auf mich. Ich würde lieber das Risiko des möglicherweise giftigen Rauches auf mich nehmen.

Und außer diesen Dingen war auch der Lärm viel stärker geworden. Dieses tiefe, dumpfe Geräusch, das ich schon draußen vernommen hatte – es war jetzt noch viel lauter, und ich konnte es nicht nur hören, sondern es ließ auch meinen Brustkorb vibrieren. Es war fast unangenehm, aber gleichzeitig auch irgendwie – hypnotisierend. Dieses tiefe Geräusch wurde von anderen Geräuschen überlagert – ich wußte nicht, was solche Geräusche hervorbringen konnte, aber sie hörten sich irgendwie an wie Maschinengeräusche. Ich konnte es mir nicht erklären.

Auf einer riesigen Fläche in der Mitte der Halle drängten sich eine Menge Leute. Sie zuckten und hüpften und bewegten sich auf seltsame, schlängelnde Art und Weise. Sie schienen beinahe wie in Trance zu sein – vielleicht ausgelöst von diesem seltsamen, hypnotisierendem Geräusch? Oder dem Rauch? Denn dort unten war der Rauch sehr viel dichter, und ich konnte sogar sehen, das er in dicken Schwaden aus kleinen Maschinen ausgestoßen wurde. Jedenfalls wollte ich lieber nicht zu lang bleiben, sonst würde ich vielleicht auch noch dort unten bei den sich windenden Leibern landen.

Vorsichtig löste ich mich von der Tür, ging an der Wand entlang bis ich zu einem Durchgang kam und wanderte weiter in das Gebäude hinein. Ich befand mich in einer Art Flur, überall standen Grüppchen von Menschen und unterhielten sich über den Lärm hinweg. Sie mußten sich dazu immer weit vorbeugen und ihrem Gegenüber direkt ins Ohr sprechen, aber das schien keinen wirklich zu stören.

Ich lief weiter, schob mich zwischen Menschen hindurch und blickte mich mit großen Augen um. Ich konnte mir nicht vorstellen, was das hier für eine Veranstaltung sein könnte. Natürlich, ich hatte auch nicht die geringste Ahnung, was Menschen, die keine Sklaven waren, in ihrer Freizeit so alles taten. Noch dazu war ich auf einem mir unbekannten Planeten – wer wußte schon wozu diese Art der Unterhaltung diente?

Ich versuchte mich so unauffällig wie möglich zu benehmen – ich glaubte nicht, das ich allzusehr auffiel. Ich war ungefähr so groß wie die meisten Männer hier – vielleicht sogar ein klein wenig am oberen Ende der Skala. Ich trug zwar immer noch den hautengen Anzug in J's Farben, den all seine Sklaven tragen, doch obwohl ich niemanden sonst in einer ähnlichen Aufmachung gesehen hatte, so hatte ich doch schon eine Menge wirklich unterschiedliche Kleidung gesehen – es schien kein bestimmter Stil vorzuherrschen. Meine würde da garantiert nicht zu sehr auffallen.

Doch trotz allem zog ich Blicke auf mich. Vor allem weibliche Blicke. Ich wußte nicht was diese Blicke zu bedeuten hatten – sie waren nicht drohend oder abfällig oder etwas in der Art. Sie schienen eher – beifällig zu sein. Bewundernd. Doch welchen Grund sollten diese Leute haben, mich bewundernd anzusehen?

Ich konnte mir vorstellen, das ich ziemlich abgekämpft aussehen mußte – ich hatte mich seit Tagen nicht mehr richtig waschen oder gar die Kleidung wechseln können. Außerdem hatte ich kaum gegessen, kaum geschlafen und war die letzte halbe Stunde – oder war es sogar eine ganze Stunde? – gerannt, so daß ich völlig verschwitzt sein musste. Ich war mit Sicherheit kein schöner Anblick.

Ich schob mich langsam weiter auf das Ende des Ganges zu. Der Lärm schien dort nicht ganz so schlimm zu sein, genauer gesagt konnte ich von dort keines dieser seltsamen Geräusche hören. Nur das Raunen von unzähligen Stimmen. Ich betrat einen weiteren großen Raum, auch wenn dieser nicht ganz so groß war wie der vorherige.

Auch hier drängten sich eine Menge Menschen, und da es hier leiser war als vorher konnte ich einige ihrer Gesprächsfetzen verstehen.

„... unglaublich cool..."

„... geile Band..."

„... gleich geht es weiter..."

„... bin schon total gespannt..."

„... und dieser Sänger ist soooooo sexy!!!!"

Ich stockte kurz. Hatte ich das eben richtig gehört? "Sänger"? Aber dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. Wahrscheinlich hatte die Frau ein ganz anderes Wort gesagt, das nur so ähnlich klang, und ich hatte dann "Sänger" hinein interpretiert, weil mir die Jäger und OZ nicht aus dem Kopf wollten.

Ich schob mich vorsichtig in eine der hinteren Ecken, die nicht ganz so vollgestopft waren wie der Rest des Raums. Hier würde ich mich verstecken, hier würde ich es eine Weile aushalten können. Sogar an den beißenden Rauch hatte ich mich inzwischen gewöhnt.

Plötzlich hörte ich eine laute Stimme.

„Hey Leute, da sind wir wieder!"

Die Menge jubelte. Ich drehte den Kopf, um den Ursprung dieser Stimme auszumachen. Mir gegenüber, am anderen Ende des Raumes, war eine Art Erhebung aufgebaut. Auf dieser Erhebung stand jetzt eine kleine Gruppe Menschen.

Ein junger Mann, mit dunklen, ungefähr schulterlangen Haaren, die er an seinem Hinterkopf fest zusammengebunden hatte, saß vor einem seltsamen Gerät, das aus einer Ansammlung von kurzen Tonnen zu bestehen schien. Er hatte zwei schmale Holzstöcke locker in den Händen und sah sich entspannt im Raum um.

Ein weiterer junger Mann mit blonden, kurzen Haaren und unglaublich kindlichen Gesichtszügen stand ein Stückchen vor diesem komischen Tonnengerät und hatte ebenfalls ein seltsames Gerät in der Hand. Es sah aus wie ein Brett, das unten breit war und dann oben in einen schmalen Stiel auslief. Auf diesem Brett waren irgendwelche Schnüre oder Sehnen oder so etwas gespannt. Ein Gurt verlief von einem Ende dieses Geräts zum anderen und diente wohl dazu, es sich umzuhängen, so das man es nicht festhalten mußte. Er lächelte freundlich in die Menge.

Eine junge Frau war auch dabei, mit kurzen, blauschwarzen Haaren. Sie stand auf der anderen Seite des Tonnengeräts. Vor ihr stand eine Art Tisch, doch was sich darauf befand konnte ich von hier aus nicht sehen. Nur das eine Menge Kabel daraus hervorkamen und in einem großen, schwarzen Lautsprecher verschwanden (ebenso wie aus dem Brett des blonden Mannes).

Aber was meinen Blick wirklich fesselte war der vierte Mensch, der auf dieser Erhöhung stand. Ein junger Mann, mit kastanienbraunen Haaren. Mit unglaublich langen kastanienbraunen Haaren. Ich hatte noch niemals zuvor derart lange Haare gesehen. Er hatte sie auf eine wirklich kunstvolle Art und Weise ineinander verwoben, so das sie in einem langen Zopf auf seinem Rücken hingen. Jedesmal wenn er sich bewegte schwang dieser Zopf hin und her, und man konnte das schöne, symmetrische Muster erkennen.

Er hatte ein unglaublich breites Lächeln, und irgendetwas an diesem Lächeln veranlaßte mich, zurück zu lächeln. Und das obwohl ich die Male, die ich in meinem Leben bereits gelächelt hatte, an einer Hand abzählen konnte – und der junge Mann mein Lächeln sowieso nicht sehen konnte.

Vor ihm stand eine Stange mit einem etwa handgroßen Gerät darauf. Das Gerät hatte vorne eine Art Kugel, und in diese sprach der junge Mann. Es mußte eine Art Verstärker sein, deshalb konnte man seine Stimme wohl auch so gut hören.

„Ich weiß ihr habt uns wirklich vermißt, stimmt's?" rief er in die Menge, und erneut antwortete ihm ein überwältigender Jubel.

„Ok, dann wollen wir euch jetzt nicht länger warten lassen und legen gleich los!"

Die Menge jubelte wieder – ehrlich gesagt, sie hatten eigentlich gar nicht aufgehört zu jubeln, nur die Lautstärke war zwischendurch etwas geringer geworden.

Und dann begannen sie. Der schwarzhaarige Mann klopfte ein paar Mal seine Stöcke aufeinander, dann begann er damit auf seine Tonnen einzuschlagen. Und so seltsam das schien, irgendwie klang das gar nicht so unangenehm. Er schien irgendeine Art Gleichtakt vorzugeben, denn nach einigen Augenblicken setzten die Frau und der blonde Mann ebenfalls ein.

Die Frau bewegte ihre Finger über den Tisch und entlockte diesem so Töne. Doch nicht irgendwelche Töne! Es klang – schön! Angenehm! Es hatte Ähnlichkeit mit den Tönen der OZ, und doch war es wieder ganz anders. Ich konnte es nicht erklären. Ich stand da, völlig bewegungslos und starrte wie hypnotisiert auf die vier Leute auf der Erhöhung.

Denn nicht nur die Frau erzeugte Töne, auch der blonde Mann entlockte seinem Brett die unglaublichsten Geräusche. Sie klangen so ganz anders als die Töne der OZ, aber ich konnte sie dennoch als solche erkennen. Diese Menschen hatten Methoden gefunden, auf künstliche Art und Weise Musik zu erzeugen. Ich war völlig überwältigt. Wie hatten sie das geschafft? Verdammt, wie waren sie überhaupt erst auf die Idee gekommen, so etwas zu tun?

Doch damit sollten meine Überraschungen noch nicht beendet sein. Denn das Unglaublichste kam erst noch. Der junge Mann mit dem außerordentlich langen Zopf hatte bis jetzt noch nicht viel mehr getan, außer sich im Rhythmus der Musik zu wiegen. Doch nun öffnete er den Mund – und begann zu singen.

Ich weiß nicht wie lange ich dort stand, völlig erstarrt, ohne meinen Blick von ihm zu lösen. Ich mußte mich mehrmals kneifen, um sicher zu gehen, das ich nicht träumte. Dort oben, keine 30 Meter von mir entfernt stand ein Mensch und sang. Es war der süßeste Klang den ich jemals gehört hatte.

Ich glaube, wenn meine Augen vom vielen Starren ohne zu Blinzeln nicht so trocken gewesen wären, dann hätte ich geheult. Oder vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht was ich getan hätte. Wahrscheinlich weiter einfach dagestanden und ungläubig diesen jungen Mann angestarrt. Ich wußte nicht was ich denken sollte. Menschen konnten nicht singen. Und doch, dort oben stand einer, der es offenbar konnte. Und es schien noch nicht mal etwas so ungewöhnliches zu sein, denn außer mir starrte ihn keiner mit ungläubigen Augen an. Ich konnte sogar – wenn auch nur am Rande – erkennen, das die anderen drei Menschen auf der Bühne ab und zu mitsangen, genauso wie etliche Zuschauer in der Menge.

Aber ich bekam das alles nicht wirklich mit. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf den langhaarigen Mann gerichtet. Seine Stimme war – wunderschön. Ich kann es nicht anders beschreiben. Sie klang warm, und weich, hatte einen beinahe besänftigenden Klang, konnte aber genauso gut auch laut und herausfordernd werden. Es war unglaublich über was für eine Bandbreite dieser Mann verfügte. Das was die OZ im Gegensatz dazu von sich gaben konnte nicht einmal annähernd mithalten. Was ich hier zum ersten Mal in meinem Leben hörte war Harmonie.

Harmonie, die urplötzlich von einem wütenden Summen unterbrochen wurde. Ich riß erschrocken die Augen auf. Der Jäger! Ich hatte den Jäger völlig vergessen! Instinktiv warf ich mich zu Boden – und konnte spüren, wie der Jäger nur Millimeter über mich hinwegfegte. Hätte ich nicht so schnell reagiert, er hätte mich erwischt. Und bei dem Tempo das er draufhatte, hätte er mich schwer verletzt – wenn nicht sogar getötet.

Ich lag da am Boden und versuchte keuchend Luft zu holen. Bei meinem Ausweichmanöver hatte ich völlig vergessen, meine noch immer schmerzenden Rippen zu schützen, und so war ich schlitternd direkt auf diesen zu liegen gekommen. Vor meinen Augen tanzten weiße Punkte und ich kämpfte darum, das Bewußtsein nicht zu verlieren. Der Schmerz zusammen mit dem beißenden Rauch machten es schwer mich zu konzentrieren.

Dann wurde das Summen wieder lauter, und als in den Kopf hob, konnte ich den Jäger sehen, der über mir schwebte. Ich schloß ergeben die Augen. Ich hatte versagt. Ich war zu erschöpft, um jetzt einen weiteren Fluchtversuch zu starten. Der Jäger hatte mich. Gleich würde er sich auf mich stürzen und mich mit Gewalt zurück zum Schiff schleifen. Doch die Sekunden vergingen und nichts geschah.

Zögernd öffnete ich meine Augen wieder und blickte zum Jäger hinauf. Was war los? Irgendwas stimmte hier nicht, denn statt sich auf mich zu stürzen, wie er es normalerweise tun würde, verharrte er einfach nur über mir. Worauf wartete der Jäger?

Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere drehte er ab und verschwand. Ich blinzelte einen Augenblick verblüfft, dann stand ich schnell auf, wobei ich mir den schmerzenden Brustkorb hielt. Wieso hatte der Jäger mich nicht angegriffen?

Und dann sah ich ihn. Der Jäger flog scheinbar ziellos über die Menge, zog einige Kreise. Die Leute bemerkten ihn zwar, hatten aber keine Angst vor ihm. Ich weiß nicht wofür sie ihn hielten, aber sie zeigten begeistert auf ihn und jubelten wenn sie ihn entdeckten.

Doch dann hatte der Jäger scheinbar entschieden was er tun wollte. Er nahm direkt Ziel auf die Erhebung am anderen Ende des Raumes. Und auf den Sänger. Ich erstarrte. Nein. Das durfte nicht sein! Nicht er! Nicht der Mann mit der wunderbaren Stimme! Ich wollte zu ihm rennen, wollte ihn vor dem Jäger retten, doch ich war wie erstarrt. Und selbst wenn ich mich hätte bewegen können, ich wäre sowieso zu spät gekommen. Der Jäger schwebte jetzt über den vier Leuten auf der Erhebung, dann senkte er sich hinab.

Ich konnte nur dastehen und mit einem dicken Kloß im Hals zusehen. Der Jäger umschwirrte den Sänger eine Weile. Diesem schien das zu gefallen, denn er lachte auf – ohne mit dem Singen aufzuhören – und streckte seine Hand aus, um den Jäger zu berühren. Wenn ich mir vorher noch nicht sicher gewesen war, so zeigte es dieser Anblick nur zu deutlich – diese Menschen hatten noch niemals Kontakt zu den OZ gehabt oder jemals einen Jäger gesehen. Niemand war so dumm und streckte freiwillig seine Hand nach einem Jäger aus.

Doch dem Sänger geschah nichts. Der Jäger umschwirrte ihn noch ein paar Minuten, hüllte ihn in einen silbernen Schleier, der den jungen Mann fast unwirklich erscheinen ließ – und dann ballte sich der Jäger zu einer kompakten, festen Kugel zusammen und landete mitten in der ausgestreckten Hand des langhaarigen Mannes.

Ich stand dort, völlig verblüfft. Ich hatte noch niemals einen Jäger etwas ähnliches tun sehen. Was hatte das zu bedeuten? Und warum hatte der Jäger weder mich, noch sonst einen der anderen Menschen angegriffen – nicht das ich mich beschweren würde, aber es war nicht normal.

Möglich das er auf den Gesang reagiert hatte – ganz sicher sogar – aber wieso hatte er sein Verhalten geändert? Kein Jäger und keine Schiffseinheit hat jemals von sich aus irgendetwas getan – zumindest nicht das ich es wüßte. Man brauchte Töne, um die Jäger und die Schiffe zu aktivieren, aber danach mußte man ihnen auch Befehle geben. Sonst wüßten sie ja nicht, was sie zu tun hatten. Aber niemand hatte dieser Jägereinheit den Befehl gegeben, den Angriff einzustellen – oder gar harmlos in der Hand des Sängers zu landen.

Ich war verwirrt. Meine Gedanken rasten in meinem Kopf. Das war einfach alles zu viel gewesen für mich. Erst die Hungerkur an Bord des Raumschiffes, dann die lange, anstrengende Flucht vor dem Jäger, danach die unglaubliche Entdeckung, das diese Menschen singen konnten, und nun noch das verwirrende Verhalten des Jägers. Hätte ich mich bewegen können, ich hätte mich in einer Ecke zusammengekauert und die Augen geschlossen um nichts mehr zu sehen und zu hören.

Stattdessen blieb ich stehen und wendete den ganzen Abend meine Augen nicht vom Sänger. Ich stand dort, in meiner Ecke, und lauschte der Musik. Lauschte dem Gesang. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nicht gehen können. Es war wie ein Bann.

Ich weiß nicht wie lange ich dort stand und zuhörte, wie der junge Mann ein Lied nach dem anderen sang. Aber irgendwann hörten die vier Leute auf dem Podest auf zu spielen und zu singen.

„Ok Leute, das war's für heute!" rief der langhaarige Mann, und die Menge seufzte enttäuscht auf. Mir ging es nicht anders. Obwohl ich mich kaum noch aufrecht halten konnte und mein Brustkorb höllisch schmerzte, ich würde hier noch tagelang bewegungslos stehen bleiben, wenn ich nur weiter diesen süßen Klängen lauschen dürfte.

„Hey kein Grund so enttäuscht zu sein, nächste Woche sind wir wieder hier!" beruhigte der Sänger die Menge, und nun gab es wieder Applaus und Jubel für die vier Leute dort oben.

Ich keuchte erschrocken auf. Nächste Woche erst! So lange könnte ich nicht warten! Ich mußte jetzt handeln. Ich schob mich durch die Leute in Richtung der Gruppe, die jetzt damit angefangen hatte, ihre Geräte zusammenzuräumen. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie einige der muskulösen Männer den Raum betraten und die Menge höflich, aber zielsicher hinausdrängte. Schnell versteckte ich mich hinter einem der Lautsprecher. Ich konnte jetzt noch nicht gehen, ich mußte erst mit diesen vier Leuten sprechen.

Dann war außer mir und den Leuten auf der Bühne niemand mehr da. Ich beschloß noch eine Weile in meinem Versteck zu bleiben und abzuwarten. Ich konnte sie miteinander reden und lachen hören.

„Das war mal wieder eine klasse Show, Duo," sagte der Blonde und lächelte dem Langhaarigen zu.

„Danke Q-man, aber heute war das Publikum auch besonders gut."

„Als ob du dich von der Stimmung des Publikums beeinflussen lassen würdest, Maxwell," brummte der schwarzhaarige Mann, „Egal wie mies die Meute am Anfang drauf ist, du hast sie jedesmal innerhalb von Minuten soweit, das sie dir aus der Hand frißt."

„Wow, Wuffels, war das etwa ein Kompliment?" fragte der Langhaarige grinsend.

Die Frau verdrehte die Augen, als der Schwarzhaarige den Langhaarigen wie auf Kommando anknurrte und mit Blicken geradezu erdolchte. Der Blonde und der Langhaarige lachten nur.

„Wufei, ich weiß wirklich nicht, warum du darauf immer noch reagierst," sagte sie, „Ignoriere Duos Spitznamen für dich einfach, dann wird er es irgendwann leid."

„Lu hat recht, Wuffie, vielleicht werde ich es irgendwann leid," fügte der Langhaarige hinzu, immer noch grinsend.

„Schön wär's," knurrte der Schwarzhaarige, „Aber du nennst Quatre auch so gut wie nie bei seinem Namen, und der hat sich auch noch niemals über die Spitznamen beschwert."

„Hey, Q-tip gefallen die Spitznamen zufällig!" rief der Langhaarige gespielt empört und stützte seine Arme auf die Hüften. Der Blonde schüttelte nur nachsichtig lächelnd den Kopf.

„Etwa nicht?" fragte der Langhaarige und schmollte. Doch es hielt nicht lange an, denn im nächsten Moment rief er auch schon, „Ach übrigens Q, das waren heute wirklich erstklassige Spezialeffekte! Wie hast du das gemacht? Dieses fliegende Silberding war echt unglaublich!"

Der Blonde starrte ihn verblüfft an. „Keine Ahnung. Damit hatte ich nichts zu tun. Ich dachte, du hättest es organisiert, Duo, schließlich hat sich das Teil vollkommen auf dich konzentriert."

„Was?" rief der Langhaarige und zog die silberne Kugel aus seiner Tasche. „Aber was ist das dann?"

Das schien genau mein Stichwort zu sein. Langsam stand ich auf und näherte mich der Gruppe.

„Ich hab keine Ahnung," sagte der Blonde gerade. „Zeig mal her!" Er streckte die Hand danach aus.

Ich musste wohl irgendein Geräusch gemacht haben, wahrscheinlich völlig instinktiv, um den Blonden zu warnen, jedenfalls drehten die vier sich auf einmal zu mir um und starrten mich überrascht an. Ich blieb schwankend stehen.

„Hallo," sagte der Langhaarige schließlich und lächelte mich an, „Können wir dir helfen?"

Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, um ihn vor dem Jäger zu warnen, um irgendwas zu sagen, egal was, doch es kam nichts heraus. Mag sein das es an meiner Erschöpfung lag, oder an den Verletzungen, oder an all den unglaublichen Ereignissen der letzten Stunden. Vielleicht auch an dem unfassbaren Anblick eines Jägers, der harmlos in der Handfläche des Langhaarigen lag. Aber plötzlich begann sich alles um mich zu drehen, der Boden kam auf mich zu, und dann wurde mir schwarz vor Augen.