„Sprache"
‚Gedanken'
/Zeichensprache/
Kapitel 3
Duo POV
„Hey Leute, da sind wir wieder!"
Ich ließ meinen Blick kurz über die jubelnde Menge schweifen. Wie immer hatten wir volles Haus. Unsere Band trat einmal die Woche im 'Planet' auf, und inzwischen hatten wir einen verdammt guten Ruf. Die Leute kamen von immer weiter her, nur um uns spielen zu hören. Der Besitzer des 'Planet' bereute es nicht im geringsten uns dieses Arrangement angeboten zu haben.
„Ich weiß ihr habt uns wirklich vermißt, stimmt's?" heizte ich die Menge weiter an, obwohl das kaum nötig war. Aber es hat mir schon immer unglaublich viel Spaß gemacht, die Meute so richtig aufzupuschen, und ohne eingebildet zu sein, ich bin wirklich gut darin. Ich weiß nicht wieso, aber bis jetzt gab es noch niemanden, den ich nicht auf die eine oder andere Weise dazu bringen konnte, genau das zu tun, was ich wollte. Es ist eine Gabe.
Eine weitere Gabe die ich besitze ist zweifellos meine Stimme. Ich habe schon immer viel und gerne gesungen, solang ich mich erinnern kann. Schwester Helen hat immer gesagt, es wäre ihr ein Rätsel, wieso ein kleiner Satansbraten, der nur Unsinn im Kopf hatte wie ich mit der Stimme eines Engels gesegnet wurde. Aber sie hat dabei immer gelächelt, so dass ich wusste, sie meinte das mit dem 'Satansbraten' nicht wirklich ernst.
Ich habe meine Eltern schon sehr früh durch einen Autounfall verloren, ich kann mich kaum an sie erinnern. Ich habe nur ein paar verschwommene Eindrücke an eine liebevolle Stimme und zarte Hände, die mein Haar kämmen. Ich nehme an, dass das meine Mutter war. Aber eigentlich war Schwester Helen die einzige Mutter die ich jemals hatte.
Bis ich 16 Jahre alt war lebte ich in einem kirchlichen Waisenhaus, zusammen mit einigen anderen Kindern, die genauso wie ich ebenfalls nicht adoptiert worden waren. Aber es hat uns eigentlich nie besonders gestört, Schwester Helen und die anderen Nonnen haben es uns nie an etwas fehlen lassen, und das obwohl das Geld immer knapp war.
Wie knapp das Geld tatsächlich war, erfuhr ich erst drei Monate vor meinem 17. Geburtstag. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Waisenhaus nämlich aufgelöst. Da es ein privat geführtes Haus war, war es auch hauptsächlich auf private Gelder angewiesen, und diese flossen nicht ganz so großzügig wie wir es gebraucht hätten. Scheinbar war Wohltätigkeit gerade nicht in Mode gewesen. Oder wir wirkten nicht süß genug um gerettet zu werden.
Wir Kinder hätten eigentlich auf verschiedene andere, staatliche Waisenhäuser verteilt werden sollen, und außer mir ist es auch allen anderen so ergangen. Aber ich hatte Glück gehabt. Ich hatte Quatre.
Ich habe Quatre in der Schule kennengelernt, und wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Ok, wenn man Quatre kennt ist das kein ein Wunder, ich glaube es gibt wirklich NIEMANDEN mit dem Quatre nicht gut auskommen würde. Bei mir ist das schon eine andere Sache, ich habe das Talent selbst meinen Freunden derart auf die Nerven zu gehen, dass sie mich am liebsten mit ihren bloßen Händen erwürgen möchten. Ich bin ziemlich stolz auf dieses Talent.
Man könnte jetzt natürlich meinen, das würde sich mit meiner Gabe Leute zu manipulieren beißen, aber dem ist nicht so. Der Unterschied ist nur, meine Freunde merken es, wenn ich versuche sie zu manipulieren, können sich aber trotzdem nicht widersetzen (oder nur selten) und das treibt sie dann logischerweise auf die Palme. Deshalb all die vielen Mordversuche von Seiten meiner Freunde.
Quatre und ich wurden schnell beste Freunde, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich herausfand, wer Quatre tatsächlich war. Sein ganzer Name lautet nämlich Quatre Raberba Winner. Ganz genau. Winner. Einer DER Winners. Genauer gesagt, der Erbe des Winner-Vermögens. Ich kann nicht sagen, er wäre der Alleinerbe, er hat immerhin 29 Schwestern (und aus diesem Grund mein allerherzlichstes Beileid), aber selbst wenn dieses Vermögen durch 30 geteilt wird, bleibt noch soviel übrig, dass man allein von den Zinsen gut leben kann.
Aber man hat Quatre niemals angemerkt, das er ein Millionenerbe wäre – er ist nicht im geringsten eingebildet oder verzogen (wie auch, bei 29 Schwestern?) oder fügt sich in sonst irgendein Klischee, das man sich vom Millionärssohn so allgemein macht. Hey, er ging immerhin auf dieselbe öffentliche Schule wie ich, das sagt doch eigentlich schon alles, oder?
Jedenfalls, als das Waisenhaus aufgelöst wurde, da übernahm Quatre einfach das Ruder und regelte alles. Und das bedeutet im einzelnen, er sorgte dafür, dass ich von einem Gericht frühzeitig für volljährig erklärt wurde, kaufte sich ein Haus und zog zusammen mit mir dort ein. Ich hatte in der ganzen Angelegenheit fast kein Wort mitzureden. Genauso wenig wie irgendein anderer.
Quatre war zu diesem Zeitpunkt schon 18 Jahre alt – er ist einundhalb Jahre älter als ich, was ich aber anfangs nicht wusste. Als ich mich mit ihm angefreundet habe, da hatte ich gedacht, er wäre sogar jünger als ich. Schon wieder dieses verdammt unschuldige Aussehen. Das er auch noch kleiner ist als ich hilft auch nicht. Ich glaube er könnte sogar jetzt noch im Zug mit der Kinderfahrkarte fahren, und keiner würde es anzweifeln.
Aber es war mein Glück, das Quatre bereits volljährig war. Denn jedes der Winner-Kinder hatte zu seiner Volljährigkeit einen Teil des Vermögens zur alleinigen Verfügung ausgezahlt bekommen – es hatte wohl irgendwelche steuerlichen Vorteile, keine Ahnung. Die Summe reichte natürlich bei Weitem nicht an das gesamte Vermögen heran, aber es war genug um gut zu leben. So das alles Meckern seines Vaters ihn nicht daran hindern konnte, einfach die Organisation meines Lebens in seine Hand zu nehmen.
Nicht das ich mich beschwert hätte. Ich wollte nicht in irgendein anderes Waisenhaus. Am liebsten wäre ich natürlich bei Schwester Helen geblieben, aber sie war Nonne und mußte zu ihrem Orden zurückkehren; sie hatte weder die Möglichkeit noch das Geld gehabt sich um mich zu kümmern. Und irgendwie hatte Quatre das gewusst – es ist wirklich seltsam, Quatre scheint immer genau zu wissen, wie wir uns fühlen, es ist fast wie eine Art sechster Sinn.
Also ließ ich Quatre einfach gewähren, als er mir einen – teuren – Anwalt besorgte und mir die Rechte und Pflichten eines Erwachsenen verschaffte. Somit mußte ich nicht wieder in ein Waisenhaus. Und indem er mich einfach zu sich nach Hause holte, sorgte er auch dafür dass ich ein Dach über dem Kopf hatte. Ich ging damals natürlich noch zur Schule, ich hätte es nie geschafft zu arbeiten, um genug Geld für eine Wohnung und meinen Lebensunterhalt zu verdienen und gleichzeitig die Schule zu beenden.
Aber selbst wenn ich etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte, es hätte auch nichts genutzt – wenn Quatre sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann ihn nichts und niemand davon abhalten. Ich weiß das genau, denn ich hab es versucht. Des öfteren. Mann hat der Junge einen stahlharten Kern unter diesem täuschend weichen unschuldigen Äußeren!
Natürlich gab es eine Menge Gerüchte deswegen – jeder dachte, dass Quatre und ich ein Paar wären, denn warum sonst hätte dieser so etwas für mich tun sollen? Nicht das ich dem abgeneigt gewesen wäre, das Geschlecht meiner Partner war mir noch nie so wichtig, und Quatre sieht gut aus und ist stinkreich. Was will man mehr? Nur leider hat es zwischen uns nie das gewisse Etwas gegeben – kein Funken, gar nichts. Q ist für mich wie ein Bruder, und ich denke, das ich für ihn die selbe Stellung einnehme. Immerhin, mit 29 – noch dazu älteren – Schwestern hat der arme Junge einen Bruder viel dringender nötig als ich!
Quatre und ich blieben nicht lange allein in diesem Haus, etwa zwei Jahre später, gleich nach meinem Schulabschluss zogen auch noch Wufei und Noin bei uns ein. Wir vier waren schon eine ganze Weile miteinander befreundet, was hauptsächlich an der Band lag. Wir hatten uns eher zufällig zusammengefunden, aber gleich bei unserem ersten Auftritt auf einer Schulveranstaltung waren wir ein durchschlagender Erfolg, und die 'Scythes' waren geboren. Eigentlich hatte ich die Band ja 'Death's Scythes' nennen wollen, aber ich wurde von den anderen überstimmt.
Das Wufei gegen meinen Vorschlag war, hatte ich mir von Anfang an gedacht – Wufei ist grundsätzlich IMMER gegen alles was ich vorschlage. Das ist schon Tradition. Ich glaube, würde er mir auch nur einmal zustimmen, dann wäre das Ende der Welt nahe. Mal ganz davon abgesehen, das wir beide unsere kleinen Streitereien absolut vermissen würden.
Aber das Noin und dann auch noch Quatre in die selbe Bresche schlagen würden, hätte ich nicht erwartet. Wir würden doch kein Goth spielen, gna gna gna. Und Quatre war nicht umzustimmen. Nicht mal als ich anfing zu schmollen und meinen besten Hundebabyblick aufsetzte. Stahlharter Kern, wie ich schon sagte.
Mit der Zeit lockerte sich das Verhältnis der Bandmitglieder etwas, und wir wurden wirklich gute Freunde. Weshalb Wufei und Noin dann ja auch bei Quatre und mir einzogen. Wir sind alles in allem eine glückliche kleine Familie, könnte man so sagen. Und wir lebten seit etwa sechs Jahren alle in diesem Haus. Geld war nicht wirklich ein Problem, da wir dank Quatres Großzügigkeit ja keine Miete zahlen mussten, und unsere Band inzwischen auch zu einer gewissen Berühmtheit (und damit verbundenen finanziellem Einkommen) gelangt war, brauchte keiner wirklich zu arbeiten. Obwohl natürlich jeder von uns trotzdem eine Berufsausbildung hat – man weiß ja schließlich nie.
Noin ist Ärztin – jep, so richtig mit Studium, Assistenzarzt und allem drum und dran. Noin ist drei Jahre älter als Wufei und ich. Wufei ist, so unglaublich es mir auch immer noch erscheint, Lehrer. Ok, Sportlehrer, aber trotzdem. Obwohl er gerade nicht unterrichtete, so gab er dennoch kostenlose Karate-Kurse für unterprivilegierte Kinder. Und er zwang uns ebenfalls regelmäßig mit ihm zu trainieren. Der Sklaventreiber.
Quatre sollte eigentlich die Leitung des riesigen Winner-Firmenimperiums übernehmen. Das war ja so typisch für seinen Vater – er hat 29 erwachsene Töchter, von denen eine ganze Menge mehr als geeignet sind, das Imperium zu führen. Aber nein, das jüngste Kind soll das Firmenimperium allein übernehmen, nur weil es zufällig männlich ist.
Sein Vater hat ihn dafür extra auf ein äußerst teures College schicken wollen, um die entsprechenden Fähigkeiten zu erlernen. Aber Quatre hat sich standhaft geweigert, stattdessen ist er einfach auf das örtliche, kleine College gegangen und hat dort verschiedene Kurse belegt. Politikwissenschaften, etliche Sprachen, die Kunst der Diplomatie und was weiß ich nicht noch alles. Keine Ahnung was er jetzt eigentlich genau ist, aber es ist ja auch nicht so, als wäre er tatsächlich darauf angewiesen, zu arbeiten um Geld zu verdienen.
Natürlich war sein Vater stinksauer gewesen. Aber nichts was er gesagt oder getan hat konnte Quatre umstimmen. Wieder diese stahlharte Kern. Glücklicherweise hat sich sein Vater irgendwann beruhigt und jetzt leiten Quatres Schwestern ziemlich erfolgreich das Firmenimperium.
Und dann bin da natürlich noch ich. Ich habe ein wirkliches Händchen für Maschinen aller Art. Egal ob alt oder hightech, ob halbzerfallen oder im Topzustand, ich kann alles reparieren oder verbessern. Muss wohl noch so eine Gabe sein. Darum habe ich auch Maschinenbau studiert.
Aber Singen ist das, was ich wirklich will, das was mir absolute Befriedigung verschafft. Ich singe oder summe eigentlich ständig vor mich hin – ich bin kein Mensch, der lange ruhig sein kann. Ich brauche Leben um mich herum, Aufregung, Aufmerksamkeit. Was allein schon mein äußeres Erscheinungsbild zeigt. Hey, ein Kerl der einen meterlangen Zopf hat ist mit Sicherheit niemand, der gerne möglichst unauffällig bleiben will!
Und deshalb liebe ich es auch so sehr auf der Bühne zu stehen, die Menge vor mir zu sehen und mit ihr zu spielen, sie zu leiten, zu manipulieren. Denn genau das mache ich dort oben. Ich kann sie dorthin dirigieren, wo ich sie haben will. Sie sind wie Wachs in meinen Händen. Das ist ein unglaublich berauschendes Gefühl. Ein Gefühl das ich nicht mehr missen möchte.
„Ok, dann wollen wir euch jetzt nicht länger warten lassen und legen gleich los!"
Gesagt, getan. Unterstützt vom Jubel der Menge begannen wir mit unseren ersten Songs. Oft kann ich gar nicht mal sagen, wie lange wir wirklich da oben auf der Bühne stehen und ein Lied nach dem anderen spielen. Ich bin meist so vertieft in den Gesang, dass ich die Zeit völlig vergesse. Aber ab und zu gibt es Kleinigkeiten, die einem im Gedächtnis bleiben.
So wie dieses Mal. Ich wußte nicht, wie Quatre das gemacht hatte, aber die Spezialeffekte waren mal wieder vom Feinsten. Quatre kümmerte sich immer um diese Dinge, aber normalerweise sagte er uns was er vorhatte. Diesmal jedoch erwähnte er nichts.
Auf einmal kamen diese kleinen silbernen Dinger angeflogen – keine Ahnung, wie ich sie sonst nennen sollte. Sie flogen eine Zeitlang über die Menge, dann visierten sie die Bühne an. Ich war begeistert. Sie wirbelten um mich herum und ich streckte eine Hand aus, um sie zu berühren. Ich war wirklich neugierig, wie sie sich wohl in der Luft hielten.
Doch plötzlich ballten sie sich zu einer kleinen silbernen Kugel zusammen und landeten direkt in meiner ausgestreckten Hand. Ich blinzelte überrascht, ließ mir aber glaub ich sonst nichts anmerken. Ich beendete den Song wie geplant. Q sollte sowas wirklich nicht machen, ohne mich vorher vorzuwarnen. Was wenn ich mich so sehr erschrocken hätte, das ich den Song verpatzt hätte? Eher unwahrscheinlich, ich weiß, aber hätte ja vielleicht sein können!
Ich war jedenfalls immer noch höllisch neugierig auf diese silbernen Dinger – wie hatten sie vorher so viele sein können und dann plötzlich eine völlig glatte Kugel? Ich beschloß sie später genauer zu untersuchen, aber jetzt hatte ich erstmal eine Show zu beenden. Ich steckte die Kugel in meine Hosentasche und machte weiter im Programm.
Normalerweise könnte ich stundenlang auf der Bühne stehen und singen, aber aus irgendwelchen Gründen konnte ich es diesmal kaum erwarten, endlich fertig zu werden. Endlich war es dann soweit, wir spielten unseren letzten Song.
„Ok Leute, das war's für heute!" rief ich und lächelte, als die Menge enttäuscht aufseufzte. Es war doch wirklich jede Woche das gleiche Spiel. Und so rief ich das, was die Leute von mir hören wollten.
„Hey kein Grund so enttäuscht zu sein, nächste Woche sind wir wieder hier!" Wie erwartet jubelten die Leute wieder, und nach einiger Zeit begannen sie dann endlich langsam und in Grüppchen zu verschwinden – freundlich unterstützt vom Sicherheitspersonal. Ein Hoch auf die Security. Gebaut wie Schränke, denen traut sich keiner zu widersprechen.
„Das war mal wieder eine klasse Show, Duo," sagte Quatre und lächelte mich an. Ich grinste zurück.
„Danke Q-man, aber heute war das Publikum auch besonders gut."
Wufei schnaubte. „Als ob du dich von der Stimmung des Publikums beeinflussen lassen würdest, Maxwell. Egal wie mies die Meute am Anfang drauf ist, du hast sie jedesmal innerhalb von Minuten soweit, das sie dir aus der Hand frißt." Wufei grummelt zwar immer rum, aber im Grunde ist er ein feiner Kerl. Und obwohl es für Außenstehende manchmal nicht so aussieht sind wir wirklich gute Freunde.
„Wow, Wuffels, war das etwa ein Kompliment?" scherzte ich deshalb und riß die Augen gespielt erstaunt weit auf.
Wie erwartet reagierte Wufei auf den Spitznamen mit einer Menge Geknurre und Gegrummel. Es ist eigentlich schon fast zu einfach. Aber es machte nichtsdestotrotz einen höllischen Spaß, ihn damit aufzuziehen. Obwohl ich ja insgeheim argwöhnte, dass er es im Grunde gar nicht so schlimm fand und nur noch pro forma herummeckerte. Es war inzwischen schon fast eine Art Ritual.
„Wufei, ich weiß wirklich nicht, warum du darauf immer noch reagierst," sagte Noin und rollte mit den Augen, „Ignoriere Duos Spitznamen für dich einfach, dann wird er es irgendwann leid."
„Lu hat recht, Wuffie, vielleicht werde ich es irgendwann leid," grinste ich ihn an. Kein sehr wahrscheinliches Szenario, aber das konnte Wu ja nicht wissen.
„Schön wär's," knurrte Wufei, „Aber du nennst Quatre auch so gut wie nie bei seinem Namen, und der hat sich auch noch niemals über die Spitznamen beschwert."
Mist, scheinbar wußte er es doch. Naja, was sollte es. Aber weiter im Text. „Hey, Q-tip gefallen die Spitznamen zufällig!" rief ich und stützte meine Arme gespielt empört in die Seiten. Quatre lächelte nur und schüttelte den Kopf.
„Etwa nicht?" schmollte ich. In diesem Moment fiel mir die kleine Kugel wieder ein. „Ach übrigens Q, das waren heute wirklich erstklassige Spezialeffekte! Wie hast du das gemacht? Dieses fliegende Silberding war echt unglaublich!"
Quatre starrte mich verblüfft an. „Keine Ahnung. Damit hatte ich nichts zu tun. Ich dachte, du hättest es organisiert, Duo, schließlich hat sich das Teil vollkommen auf dich konzentriert."
„Was?" Jetzt war ich wirklich neugierig und zog die Kugel aus meiner Tasche. „Aber was ist das dann?"
„Ich hab keine Ahnung," antwortete Quatre. „Zeig mal her!" Er streckte die Hand danach aus.
Ich hielt ihm die Kugel hin, damit er sie genauer in Augenschein nehmen konnte, als ich plötzlich ein unterdrücktes Keuchen hörte.
Ich drehte mich um und sah, dass scheinbar doch noch nicht alle Besucher gegangen waren. Manchmal versuchten einige Fans so näher an uns heran zu kommen. Dort unten, nur einen Schritt von der Bühne entfernt stand ein junger Mann, ungefähr in meinem Alter und starrte uns mit großen, schreckgeweiteten Augen an.
Für einige Momente herrschte völlige Stille, wir vier starrten zu ihm hinab und er zu uns hinauf. Ich ließ meinen Blick über ihn wandern. Ich war fasziniert. Vor mir stand der wahrscheinlich bestaussehndste Kerl den ich je gesehen hatte. Auch wenn er im Moment eher völlig am Ende wirkte. Er war wohl ungefähr so groß wie ich, vielleicht sogar ein, zwei Zentimeter größer. Genau ließ sich das nicht sagen, da ich ja leicht erhöht stand.
Er trug einen hautengen schwarzen Anzug mit dunkelgrünen Streifen die schräg darüber verliefen. Wirklich nichts blieb der Vorstellung überlassen, das könnt ihr mir glauben. Er hatte mit Sicherheit eine Menge Aufsehen erregt hier im 'Planet'. Einen Körper wie diesen bekam man nicht oft zu sehen. Auch wenn er fast ein wenig zu dünn wirkte... aber das konnte durchaus auch am Licht liegen.
Seine Haare waren dunkelbraun, soweit ich das erkennen konnte, und sie fielen ihm unordentlich ins Gesicht. Und seine Augen... Seine Augen waren wirklich das beste an ihm. Blau, aber nicht das normale, verwaschene Graublau das so viele Menschen haben, sondern ein unglaublich intensives, dunkles, fast stechendes Blau. Ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von diesen Augen lösen. Wie tiefe, bodenlose Seen zogen sie mich immer weiter hinein und ich wehrte mich gar nicht dagegen.
Ich war so fasziniert von diesen Augen, dass ich die Linien der Erschöpfung in seinem Gesicht erst gar nicht wahrnahm. Doch dann fiel es mir doch auf. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, diesen wunderschönen Augen. Seine Haut hatte einen gräulichen Schimmer, so als hätte er seit langem kein Tageslicht mehr gesehen. Oder als ob er krank wäre. Und außerdem schien er leicht zu schwanken.
„Hallo," riß ich mich schließlich aus meiner Benommenheit und lächelte ihn an, „Können wir dir helfen?"
Er zögerte kurz, dann öffnete er den Mund und schien etwas sagen zu wollen. Doch so weit kam es gar nicht, denn plötzlich schwankte er noch stärker, verdrehte die Augen und kippte nach vorne.
Ich weiß nicht wie ich es schaffte, aber ich war mit einem Satz von der Bühne runter und konnte ihn gerade noch auffangen bevor er mit dem Gesicht voran auf dem Boden aufschlug.
„Was hat er?" hörte ich Quatre aufgeregt rufen, doch ich drehte mich nicht zu ihm und den anderen beiden um. Ich weiß nicht wieso, aber dieser Fremde hatte mich von Anfang an in seinen Bann gezogen. Ich wollte wissen, wer er war. Was er hier wollte. Warum er so erschöpft aussah. Ich wollte ihn am liebsten in die Arme nehmen und vor allem Übel dort draußen beschützen. Und ich war absolut erschüttert über diese seltsamen Empfindungen, das könnt ihr mir ruhig glauben.
Vorsichtig drehte ich ihn herum und legte seinen Kopf in meinen Schoß. Er atmete flach, sein Gesicht war jetzt noch bleicher als vorher, und auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Vorsichtig strich ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht.
„Duo?" fragte mich Quatre und endlich blickte ich auf. Meine Freunde waren inzwischen auch von der Bühne gekommen und standen jetzt um mich und den Fremden in meinem Schoß herum.
„Wer ist das? Kennst du ihn?" Quatre blickte mich fragend an.
„Nein," sagte ich, „Ich hab ihn noch nie gesehen."
„Er sieht gar nicht gut aus," warf Noin ein, „Wufei, ruf einen Krankenwagen." Sie kniete sich neben mich und begann den Fremden zu untersuchen.
„Nein!" rief ich, „Keinen Krankenwagen!" Wufei blieb stehen und sah mich fragend an.
Ich wußte selbst nicht wieso ich das gesagt hatte. Aber ich wollte ihn jetzt nicht irgendwelchen fremden Ärzten in irgendeinem Krankenhaus überlassen. Ich wollte doch noch so vieles von ihm wissen. Und außerdem hatte ich dieses wirklich seltsame Gefühl... Er gehörte mir. Ich hatte ihn gefunden, und wer es findet, darf's behalten. Jaja, lacht nur.
„Aber Duo," protestierte Noin, „Er braucht ärztliche Hilfe!"
„Bitte Lu," sagte ich und blickte sie flehend an, „Du bist doch Ärztin. Du kannst ihm helfen."
„Das bin ich, aber wenn er ernsthaft krank ist, dann kann ich hier nicht viel für ihn tun."
Ich wartete still ab, bis sie mit ihrer kurzen Untersuchung fertig war. „Nun?" fragte ich, als sie sich schließlich zurücksetzte.
„Soweit ich sagen kann scheint er nicht krank zu sein. Nur äußerst erschöpft. Aber ganz sicher kann ich erst sein, wenn er in einem Krankenhaus richtig untersucht worden ist."
„Kein Krankenhaus!" rief ich wieder. „Wenn er nur erschöpft ist, dann kann er sich auch bei uns einfach ausschlafen. Und dann können wir mit ihm reden. Er wollte doch offensichtlich mit uns sprechen, sonst wäre er nicht auf uns zugekommen. Bist du denn gar nicht neugierig?"
„Duo..." begann Noin, doch ich unterbrach sie sofort mit einem flehenden „Biiiiiiiitteeeeeeee!!!!!" Ich bin wirklich gut in sowas. Normalerweise kann niemand meinem Hundebabyblick widerstehen, aber Noin sah sehr entschlossen aus.
Doch diesmal rettete mich Quatre. Er hatte dem ganzen bis jetzt still gelauscht und mich nur nachdenklich gemustert. Schließlich ergriff er das Wort. „Noin, vielleicht ist Duos Idee wirklich die beste. Wir sollten den Jungen erstmal mitnehmen. Du kannst ihn zu Hause auch genauer untersuchen, und falls du dann noch immer der Meinung bist, dass er in ein Krankenhaus gehört, dann werden wir sofort den Krankenwagen rufen, in Ordnung?"
Noin schien mit diesem Kompromiß einverstanden zu sein und ich lächelte Quatre dankbar an. Schnell packten wir unsere restlichen Sachen zusammen, dann machten wir uns hinaus zu unserem Wagen. Normalerweise helfe ich den anderen dabei ihre Instrumente zu tragen, doch diesmal hatte ich eine viel wichtigere Aufgabe. Ich trug den Fremden hinaus zum Wagen. Ich war wirklich erstaunt, als ich ihn hochhob; er war leichter als ich vermutet hatte.
Nach einer glücklicherweise recht kurzen Fahrt waren wir endlich zu Hause angekommen und ich trug den Fremden sofort hinauf in mein Zimmer. Nein, das war kein Versuch die Situation auszunützen; es war nur einfach so, das wir kein freies Schlafzimmer im Haus hatten. Das Haus hatte zwar ursprünglich über sechs Schlafzimmer verfügt, aber eines davon hatten wir in einen Musikraum umgewandelt, und das andere in einen Trainingsraum. Und die restlichen vier Schlafzimmer waren logischerweise von Wufei, Noin, Quatre und mir belegt.
Vorsichtig legte ich ihn auf meinem Bett ab. Dann machte ich mich daran, ihn auszuziehen. Allerdings stand ich dabei schnell vor einem Problem. Ich fand den verdammten Reißverschluss nicht. Das ist nicht witzig! Dieser Anzug sah aus, als hätte er ihn seit Tagen nicht mehr gewechselt, völlig zerknittert und schmutzig, und ich wollte ihn zumindest bis auf die Unterwäsche ausziehen, um es ihm etwas bequemer zu machen. Und damit Noin ihn besser untersuchen konnte.
Aber egal wie ich ihn drehte und wendete, wo ich auch nachsah, da war kein Reißverschluß. Und auch keine Knöpfe oder Schnüre oder sonst etwas. Das Ding sah aus als wäre es ihm an den Leib genäht worden. Wie hatte er sich da nur hereingezwängt? Irgendwann griff ich einfach völlig frustriert zu einer Schere und schnitt ihm das Ding herunter. Irgendwie mußte ich ihn schließlich ausziehen, und ich hoffte einfach, das er mir das später nicht übel nehmen würde.
Vorsichtig schnitt ich den Anzug auf, sorgfältig darauf bedacht den Fremden dabei nicht zu verletzen. Dann zog ich den Anzug langsam herunter. Oh. Keine Unterwäsche. Ich lief rot an, holte schnell eine Boxershort aus meinem Schrank und zog sie ihm an. Und versuchte krampfhaft nicht daran zu denken, wie... perfekt der Fremde doch so ganz ohne Kleidung aussah. Trotz etlicher blauer Flecken, die ich auf ihm bemerkte – wo hatte er die nur bekommen? Er sah aus als wäre er in einen Autounfall oder eine Schlägerei verwickelt gewesen. Doch trotz dieser Verletzungen konnte man erkennen, das die Haut einen leichten Bronzeton hatte – und absolut makellos war.
Ich war so damit beschäftigt an den Fremden zu denken – ich meine, NICHT an den Fremden zu denken – das ich gar nicht bemerkte, wie Noin hereinkam. Erst als sie direkt vor mir stehenblieb und mit hochgezogenen Augenbrauen die Stoffetzen am Boden betrachtete, wachte ich aus meiner Versunkenheit auf. Ich wurde schon wieder rot. Verdammt, wieso wurde ich ständig rot?
„Ich will es gar nicht erst wissen," sagte Noin und wandte sich dann ihrem Patienten zu. Sie stellte ihre Arzttasche neben dem Bett ab und untersuchte ihn gründlich, dann richtete sie sich auf.
„Wie es aussieht hat er ein paar gebrochene Rippen, aber das ist nicht so schlimm. Ich werde ihm einen Stützverband anlegen, mehr könnte man im Krankenhaus auch nicht für ihn tun."
„Aber er ist doch nicht krank, oder?" fragte ich nach.
Noin runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher... Nein, denke ich."
„Du denkst?" Jetzt war es an mir eine Augenbraue hochzuziehen.
„Er hat kein Fieber... Ich glaube, er ist wirklich nur aus Erschöpfung ohnmächtig geworden."
Ich war erleichtert. Wenn der Fremde nicht krank war, dann würde ich ihn behalten dürfen. Verdammt, da war ja schon wieder dieser besitzergreifende Gedanke. Irgendwann würde der Fremde aufwachen, und uns früher oder später auch wieder verlassen. Ich konnte ihn nicht einfach behalten, egal wie sehr ich es mir auch – aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer – wünschte.
Nachdem Noin ihm den Brustkorb fest verbunden hatte verließ sie mein Zimmer wieder und ließ mich mit dem Fremden allein. Sorgfältig deckte ich ihn mit meiner Bettdecke zu. Ich wunderte mich kurz, warum Wufei und Quatre nicht vorbeigeschaut hatten, aber dann fiel mir ein, wie spät es schon war und das sie wahrscheinlich schon längst ins Bett gegangen waren.
Also zog ich mich auch bis auf meine Boxershorts aus und legte mich neben den Fremden ins Bett. Glücklicherweise – oder vielleicht eher unglücklicherweise? – hatte ich ein zwei Meter breites Bett, so daß darin genügend Platz für uns beide war. Eine Weile betrachtete ich den Fremden neben mir, dann schlief ich ein.
Ich wurde von einem Stöhnen geweckt. Einen Moment lag ich da und versuchte mich zu orientieren – von wem war das Stöhnen gekommen? Dann fiel es mir wieder ein. Schnell wandte ich mich dem Fremden zu. Offenbar schien es diesem nicht sehr gut zu gehen, denn er warf sich unruhig hin und her, stöhnte ab und zu im Schlaf und zitterte am ganzen Körper.
Schnell legte ich ihm meine Hand auf die Stirn. Er hatte kein Fieber. Seine Stirn fühlte sich kalt und klamm an. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Schnell sprang ich aus dem Bett und lief hinüber zu Noins Zimmer. Sie war zwar nicht sonderlich begeistert, das ich sie einfach so aus dem Schlaf riß, aber nachdem ich ihr erzählt hatte, was los war, folgte sie mir schnell zurück in mein Zimmer.
Der Fremde hatte sich inzwischen nicht wieder beruhigt, sein Zittern war im Gegenteil sogar eher stärker geworden, und er schien Schmerzen zu haben. Noin warf ihm einen besorgten Blick zu, dann untersuchte sie ihn.
„Was ist?" fragte ich gespannt, als sie endlich fertig war.
„Ich bin mir nicht sicher," antwortete sie, „Ich würde fast sagen, das er eine Art Entzug durchmacht. Allerdings sieht er nicht aus wie ein Junkie – keine Einstichstellen oder ähnliches. Vielleicht sollten wir doch...?"
Sofort setzte ich wieder meinen besten Hundebabyblick auf. Diesmal schien er zu wirken, denn Noin seufzte nur. „In Ordnung. Heute Nacht können wir sowieso nichts für ihn tun. Aber wenn es ihm bis morgen nicht besser geht, dann kommt er ins Krankenhaus!"
Ich nickte erleichtert. Ich wollte natürlich auch nicht, das der Fremde durch meine Schuld zu Schaden kommen würde, aber irgendetwas in mir sperrte sich einfach dagegen, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Ich hatte keine Ahnung, warum. Und in dem Moment war es mir auch egal.
Noin ging wieder zurück in ihr Zimmer, und ich holte aus meinem Bad ein feuchtes Handtuch. Ich wischte dem Fremden den kalten Schweiß von der Stirn, dann legte ich mich wieder neben ihn ins Bett. Er zitterte noch immer.
Vorsichtig nahm ich ihn in die Arme. Er hatte zwar kein Fieber, so daß das Zittern nicht von Schüttelfrost herrühren konnte, aber vielleicht war ihm ja einfach nur kalt? Ich zog meine Decke über uns beide und rieb seine Arme, um ihn aufzuwärmen. Vielleicht war es ja nur mein Wunschdenken, aber ich bildete mir ein, dass das Zittern nachließ, nachdem ich ihn in den Arm genommen hatte.
Aber auf jeden Fall hörte er auf sich umherzuwerfen und lag still in meinen Armen. Nein, eigentlich lag er nicht einfach nur still in meinen Armen, er schmiegte sich sogar etwas an. Er vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge und hörte auf zu Stöhnen. Was auch immer ihm solche Schmerzen bereitet hatte, es mußte nachgelassen haben.
Ich weiß nicht wie lange ich noch wach lag und ihn einfach nur im Arm hielt, aber irgendwann ließ auch das Zittern nach. Ich seufzte erleichtert auf. Ich war wirklich froh, das es ihm besser ging. Ich wünschte mir nichts so sehr, wie das es ihm gut ginge. Ich wollte wieder in diese unglaublichen Augen blicken. Wollte mit ihm sprechen. Wollte seinen Namen erfahren. Wollte ihn halten, ihn küssen...
Noch bevor mich dieser Gedanke erschrecken konnte, schlief ich wieder ein.
