Kapitel 6
Nach Abreise der Zwillinge wurde es noch stiller im Haus, als zuvor. Manchmal wirkte es richtiggehend gespenstisch. Die meiste Zeit über war Gilbert, wie gewöhnlich auf Krankenbesuche.
Oft fühlte Anne sich einsam und verlassen. Wenn der Herbstwind um die Ecken des Hauses strich und Susan in der Küche arbeitete, saß sie oft alleine im Wohnzimmer. Dann versuchte sie zu stricken oder auch zu schreiben. Doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, zu ihren Söhnen, die jetzt irgendwo in Europa waren. In ihrem Herzen herrschte eine tiefe Traurigkeit und Angst um ihre Kinder. Die Ängste einer Mutter, die hoffte, dass alles bald vorüber war.
Froh war Anne, wenn Rilla ihr Gesellschaft leistete. Eigentlich hätte Rilla dieses Jahr ebenfalls aufs College gehen sollen. Aber Rilla war noch nie besonders ehrgeizig gewesen und ihre Leistungen in der Schule waren immer nur mittelmäßig gewesen. Von der Idee aufs College zu gehen, war sie nicht sehr angetan. Darum hatte sie ihre Eltern gebeten, erst nächstes Jahr gehen zu müssen. Gilbert war von diesem Vorschlag nicht begeistert gewesen.
„Sie muss endlich lernen Verantwortung zu tragen. Du hast sie viel zu sehr verwöhnt, Anne." Schimpfte er zunächst.
Doch dann hatte er trotz allem nachgegeben. Auch wenn er es nicht zugab, er war ebenfalls froh, Rilla noch da zuhaben.
Im Grunde ihres Herzen wusste Anne, dass Gilbert Recht hatte. Noch nie war Rilla für irgendetwas verantwortlich gewesen. Aber Anne beschwichtigte sich selbst mit den Worten, dass dieses eine Jahr wohl kaum einen großen Schaden anrichten würde.
Sie blickte von ihrer Strickarbeit auf und beobachtete Rilla, wie sie vor ihr auf dem Boden saß und vollkommen in ein Buch vertieft war. Ihr rotbraunes Haar schimmerte im Schein des Kaminfeuers. Anne lächelte, als sie daran dachte, wie aus dem molligen Kind plötzlich ein hübsches junges Mädchen geworden war. Plötzlich hob Rilla den Kopf und sah ihre Mutter nachdenklich an.
„Mama, findest du dass ich eine Niete bin?" fragte sie mit ernster Miene.
Anne hätte beinah laut losgelacht, so unverhofft kam diese Frage.
„Rilla Schatz, wie kommst du denn auf so etwas?"
„Ich frage mich nur manchmal ob du und Papa mich für eine haltet. Alle eure Kinder sind so ehrgeizig. Jem möchte Arzt werden, Walter ein Poet, Di und Na Lehrerinnen und Shirley Pilot. Nur ich will überhaupt nichts werden. Ich hab keine guten Noten in der Schule und ich habe überhaupt keine Ziele. Ich komme mir plötzlich selbst wie der Versager dieser Familie vor. Seid ihr nicht furchtbar von mir enttäuscht?"
„Wir sind von keines unserer Kinder enttäuscht. Es ist doch nur natürlich, dass nicht jeder sofort seine Lebensziele vor Augen hat. Lass dir Zeit, Rilla. Du hast jetzt ein ganzes Jahr, um dir zu überlegen, was du machen möchtest. Wäre es außerdem nicht langweilig, wenn alle Menschen gleich wären. Jeder geht seinen Weg und die Straße geht nicht schnurgerade aus. Sie hat ihre Kurven und Biegungen und alles kommt manchmal ganz anders, als man denkt." Sie beugte sich vor und strich ihrer Tochter liebevoll übers Haar.
„Danke Mama", Rilla küsste die Hand ihrer Mutter und wand sich lächelnd wieder ihrem Buch zu.
