Kapitel 7
Hastig schlug Anne die Augen auf. Der Mond schien hell ins Zimmer. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper und das Herz raste in ihrer Brust. Ein Alptraum hatte sie aus dem Schlaf hochschrecken lassen. Zwar konnte sie sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern, aber sie wusste, dass es um den Krieg und ihre Söhne gegangen war.
Immer noch schwer atmend sah Anne auf die Uhr. Es war gerade mal zwei Uhr morgens. Seufzend ließ sie sich wieder in die Kissen fallen und starrte an die Decke. Neben sich hörte sie den gleichmäßigen Atem von Gilbert, der mit dem Rücken zu ihr, fest schlief.
Sie versuchte sich langsam wieder zu beruhigen, doch ihr Puls schlug immer noch mit Höchstgeschwindigkeit in ihren Adern. Nach 10 Minuten gab sie es auf wieder einzuschlafen. So leise wie möglich stand sie auf, legte sich eine Stola über das Nachthemd und ging zum Fenster.
Es war eine sternenklare Nacht und der Mond schien voll und klar vom Himmel. Unten an den Meeresufern hingen Nebelschwaden, die langsam nach Glen hoch zogen. Sie wirkten wie Gespenster und Anne fröstelte. Diese Nacht war seltsam unheimlich. Zunächst der Traum und jetzt dieses Bild.
Gab es so etwas wie eine Vorahnung? Die Ahnung, dass etwas passieren würde? Mrs. Hammond hatte einmal eines ihrer Kinder durch einen Unfall verloren und sie hatte immer erzählt, dass sie in der Nacht zuvor einen seltsamen Traum hatte.
Energisch schüttelte Anne den Kopf. Was für ein Unsinn. Das waren bloß Schauermärchen, die sie als Kind nur allzu gerne gehört hatte.
Sie wand ihren Blick von den düsteren Nebelschwaden ab und blickte auf die andere Seite. Dort drüben lag ihr „Traumhaus". Von ihrem Schlafzimmerfenster aus konnte sie es nicht sehen, dazu hätte sie schon auf den Dachboden steigen müssen. Aber sie wusste genau wo es stand. Dort hinter dem kleinen Kiefernwäldchen.
Wenn jemand darin wohnen würde, könnte sie von hier aus den Rauch aus dem Kamin aufsteigen sehen. Doch ihr Traumhaus war jetzt über den Winter leer. Leslie und Owen wohnten nur im Sommer dort.
Was für eine glückliche Zeit hatte sie in dem kleinen Haus verbracht. Vom ersten Augenblick an hatte sie es geliebt. Als Gilbert ihr vom Wagen half und ihr das liebliche Häuschen zeigte. Auch hier in Ingelside war sie glücklich gewesen. Manchmal hörte sie immer noch das Trippeln der kleinen Füßchen auf der Treppe. War es nicht herrlich gewesen, die Kinder aufwachsen zu sehen. Doch jetzt herrschte eine fast gespenstische Stille im Haus. Mit Wehmut hatte Anne erkannt, dass ihre Kinder Erwachsen geworden waren.
Jem, Walter und Shirley waren weit weg in Europa, Nan und Di waren auf dem College, nur Rilla war nach hier und selbst sie ging oft ihre eigenen Wege. Sie brauchten ihre Mutter nicht mehr, sie standen auf ihren eigenen Füssen.
Eine kleine Eule flog rufend am Fenster vorrüber und Annes Herz fing erneut heftig zu schlagen an.
