Kapitel 9
Seit die Jungs in Europa waren, war es regelrecht zur Tradition geworden, dass man gemeinsam ihre Briefe vorlas. Man saß abends zusammen im Wohnzimmer und Anne, Gilbert oder auch Rilla las die Briefe jeweils abwechselnd laut vor.
Susan strickte währenddessen immerzu eifrig Socken während sie aufmerksam zuhörte.
Shirleys Briefe waren immer noch voller Enthusiasmus insbesondere für die Fliegerei. Während Walters und auch Jems Briefe immer mal wieder voller Wehmut und auch Heimweh waren.
Wieder einmal saß man gemütlich zusammen, während Gilbert laut einen Brief von Jem vorlas.
Liebe Familie,
wir haben unser Lager derzeit in der Nähe von Nancy aufgeschlagen. Und während ich meinen Brief an Euch schreibe, kann ich vor dem Zelteingang auf einige wunderschön blühende Obstbäume schauen. Der Frühling bricht langsam hier in Europa an und man könnte glatt vergessen, welche Scheußlichkeiten sich hier abspielen. Würde ich jedoch jetzt auf die andere Seite des Zelts hinausschauen, würde ich eine verwüstete Stadt erblicken, mit ausgebrannten Häuserruinen und durchschossenen Fenstern. Die Tränen könnten einem bei diesem trostlosen Anblick in die Augen treten.
Aber jetzt will ich nicht an diese Trostlosigkeit denken. Ich denke lieber an Ingelside und das Lachen darin. Ich denke an Susans Apfelkuchen und an den Duft der Maiglöckchen. Da fällt mir ein, dass ich Spinne um einen Gefallen bitten wollten. Leider kann ich Mama diesen Frühling keinen Maiglöckenstrauß bringen, darum bitte ich dich meine kleine Schwester es für mich zu tun. Pflück ihr einen riesengroßen, sie freut sich immer so sehr darüber…..
Gilbert hielt kurz inne und blickte zu Anne hinüber, der nun dicke Tränen über die Wangen rollten. Und Susan zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich lautstark.
„Dieser Junge ist wirklich ein Goldschatz", schniefte sie dabei.
…..letzte Woche waren wir kurz in Paris und dabei habe ich doch zufällig Shirley getroffen. Seine Einheit war gerade eben erst eingetroffen. Ich muss schon sagen, mein kleiner Bruder sieht wirklich niedlich in seiner Uniform aus. Für ihn scheint das ganze ein Heidenspaß zu sein. Er plapperte voller Begeisterung über seine Fliegerausbildung. Bisher hat er allerdings noch keine echte Schlacht erlebt. Dann wäre sein Optimismus wohl ein wenig gedämpft. Ich hoffe, dass er ihm noch eine Weile erhalten bleibt.
Nun macht es gut meine Lieben.
Viele Grüße
Jem
Gilbert stoppte und las leise das P.S. unter dem Brief. Der noch nicht zu Ende zu sein schien.
… Ich weiß ihr lest die Briefe immer gemeinsam, bitte Dad oder Mom lest den nun folgenden Teil nur alleine. Meine kleine Rilla sollte nichts davon wissen…..
Gilbert faltete den Brief vorsichtig zusammen und sah die anderen lächelnd an.
„War das schon alles?" fragte Rilla enttäuscht.
„Ja, das war alles."
„Jem, schreibt doch sonst immer mehr. Gib mir doch mal den Brief, Dad." Rilla versuchte den Umschlag zu erfassen.
Doch Gilbert hatte ihn schon auf die andere Seite gelegt.
„Es steht trotzdem nicht mehr drin, Rilla. Wolltest du nicht übrigens noch zu den Merediths rüber? Heute Mittag kam Una vorbei und hat gesagt du solltest nicht vergessen vorbei zu kommen." Versuchte Gilbert sie abzulenken.
„Ach ja stimmt. Hätte ich fast vergessen. Ich sollte mich wohl lieber sputen." Mit einem Satz war Rilla aufgesprungen. Küsste ihre Mutter und ihren Vater auf die Wange und war verschwunden.
Susan seufzte laut: „Für heute genug gestrickt, mich plagen irgendwie Kopfschmerzen. Wenn es ihnen recht ist, werde ich mich lieber hinlegen liebe Frau Doktor."
„Natürlich, Susan. Soll ich dir vielleicht einen kühlen Lappen hochbringen?" Fragte Anne besorgt.
„Nein danke, geht schon, liebe Frau Doktor." Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.
Erneut nahm Gilbert den Umschlag in die Hand und setzte sich neben Anne auf das Sofa.
„Der Brief ist noch nicht zu Ende, Anne." Sagte er und berührte sacht ihre Hand.
„Aber warum hast du dann nicht weiter gelesen?" Verwirrt blickte sie zu ihm auf.
„Jem hat darum gebeten ihn nicht vor Rilla vorzulesen."
Annes Augen weiteten sich erschrocken, war mochte wohl darin stehen?
Gilbert faltete das Papier sorgfältig auseinander und fuhr fort.
…..eine ganze Weile habe ich versucht das nun folgende zu verdrängen. Doch ich kann es nicht mehr für mich behalten. Dieser Krieg hier ist einfach fürchterlich. So viele unschuldige Menschen müssen jeden Tag ihr Leben lassen. Besonders schlimm war es bei der letzten Schlacht. Wir waren vom Feind eingekesselt und jeder von uns glaubte schon, dass sein letztes Stündlein geschlagen hätte. Doch dann nahmen die Ereignis eine unerwartete Wendung an und es gelang uns einen Ausweg frei zubahnen. Leider wurde mein Freund Peter von einem der Heckenschützen dabei in die Brust getroffen. Ich hab ihn noch aus der Schusslinie gezogen, doch er ist in meinen Armen gestorben. Während diesen ganzen unsinnigen Krieges habe ich schon viele Tote und auch Sterbende gesehen. Doch als ich nun Peter in meinen Armen lag, habe ich mich so elend gefühlt wie noch nie zuvor. Seit wir in Europa sind, haben wir uns ein Zelt geteilt, wir haben zusammen gelacht, gefroren und auch gezittert. Nun ist er tot, aus und vorbei…..
Als Peter gestorben war, haben die Heckenschützen weiter auf unseren Trupp geschossen. Plötzlich ist eine unsagbare Wut in mir hoch gekrochen. Eine Wut auf diese fürchterlichen Menschen, die meinen Freund umgebracht haben.
Mit all unserem Willen und Kampfgeist haben wir es schließlich geschafft aus dieser Hölle zu entkommen.
Während wir durch das Gebüsch robbten, kamen wir an einigen toten deutschen Soldaten vorbei. Plötzlich hörte ich ein leises Wimmern und merkte dass der Soldat neben mir noch nicht tot war, sondern offensichtlich im Sterben lag. Er machte eine Geste, die wohl bedeuten sollte, dass er Wasser wollte. Seine Trinkflasche lag einige Meter entfernt und war für ihn nicht erreichbar. Einen Augenblick lang wollte ich ihm seinen letzten Wunsch erfüllen und ihm die Flasche geben. Doch dann sah ich Peter vor mir und wie er gestorben war. Vielleicht war es ja dieser Soldat gewesen, der ihm den Schuss verpasst hatte.
Ich wand mich ab und kroch weiter, ohne auf seine Bitte einzugehen, ohne ihn weiter zu beachten.
Seit diesem Tag kann ich nicht mehr richtig schlafen. Dauernd sehe ich diesen sterbenden Soldaten vor mir. Ich weiß, dass es mein Gewissen ist, das mich plagt, dass ich ihm nicht diese letzte Bitte erfüllt habe. Doch noch schlimmer ist wohl die Gewissheit, dass ich es in diesem Moment nicht bedauert habe. Ich war wütend durch den Verlust meines Freundes und hätte ihm am liebsten noch ins Gesicht gespukt.
Dieses Gefühl des Hasses ist es, das mir solche Angst macht. Macht mich dieser Krieg zu einem Menschen, der kein Mitleid mehr empfinden kann? Breitete sich eine Gefühlskälte in uns allen aus?
Ich bin dies alles so leid….
Mit diesen Worten beendete er seinen Brief. Noch lange noch saßen Anne und Gilbert beisammen und dachten über die Worte nach, die sie soeben gelesen hatten. Und jeder betete still zu Gott, dass dieser Krieg doch endlich ein Ende haben solle.
