Kapitel 10

Zwei Wochen später kam die Nachricht!

Eine Nachricht, die einen Schock unter den Ingelsidebewohnern auslöste. Sie kam in einem gewöhnlichen, braunen Briefumschlag und war auf einem Briefbogen des Kriegsministeriums knapp abgefasst.

Walter wurde vermisst! Seit einem Gefecht seiner Einheit fehlte jede Spur von ihm.

Alle waren wie gelähmt. Was war geschehen? War Walter jetzt in einem Gefangenenlager? War er verwundet?

Niemand wusste etwas und diese Ungewissheit war fürchterlich. Die Wochen zogen sich quälend dahin, ohne irgendein Zeichen.

Schließlich kam eines Tages die frohe Nachricht, dass der Krieg beendet war. Mit Freude nahm man wahr, dass die Jungs nun bald nach Hause kommen würden.

Doch was war mit Walter?

Nach zwei Monaten waren Jem und Shirley wieder daheim. Die Freude über die Heimkehr war groß, doch unterschwellig wurde sie durch die Unwissenheit über Walters Schicksal getrübt. Ungeduldig wartete man auf den Postboten oder eilte zum Telefon, sobald es klingelte. Doch nichts geschah. Es war zum verzweifeln.

Im Dunst des hereinbrechenden Sommerabends schwirrten die Mücken lustig auf und ab. Es war ein ungewöhnlich heißer Junitag gewesen und die rote Hafenstraße staubte, wenn ein Wagen darüber fuhr. Seit beinah zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet.

Anne war über ihre geliebten Rosenstöcke gebeugt und schnitt die verwelkten Blumen ab. Sie hatte eine Schürze umgebunden und trug einen Strohhut auf dem Kopf. Wie so oft waren ihre Gedanken bei Walter, immer wieder musste sie an ihn denken. Nicht zu wissen was mit ihm war, machte ihr sehr zu schaffen. Jede Nacht träumte sie von ihm.

Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und blickte für kurze Zeit von ihrer Arbeit auf. Die untergehende Sonne blendet sie, so dass sie sich die Hand über die Augen hielt. Ihr Blick war auf die Straße gerichtet, als sie plötzlich eine Gestalt wahrnahm, die zu Fuß in Richtung Ingelside lief.

Im ersten Augenblick glaubte sie sich getäuscht zu haben und sah genauer hin. Plötzlich kam die Gestalt ihr irgendwie bekannt vor und ihr Herz fing heftig zu schlagen an.

Sie lief zum Tor und dann merkte sie, wer da die Straße entlang kam. Nach einem kurzen Moment des Erkennens lief sie ihm entgegen. Der junge Mann hatte sie ebenfall entdeckt, ließ sein Gepäck fallen und rannte ihr entgegen.

„Walter!" Anne lachte und weinte zugleich und schloss ihren Sohn in die Arme.

Ihr fiel auf, wie dünn er geworden war und unter seinen Augen waren dunkle Ringe, doch zusammen mit Susans Kochkünsten würden sie ihn schon wieder aufpäppeln. Wieder und wieder musste sie ihn ansehen und konnte nicht glauben, dass er endlich wieder da war.

Gilbert war aus dem Haus getreten und sah, wie Anne die Straße entlang eilte. Dann bemerkte auch er, wer ihr da entgegen rannte.

Plötzlich strömten alle aus dem Haus und umringten Walter. Jeder schloss ihn in die Arme und war glücklich ihn wieder zusehen. Susan hörte überhaupt nicht mehr auf zu weinen. Alle waren nun wieder zusammen, ihre Familie war wieder komplett. Doch jeder von ihnen spürte auch, dass sich etwas verändert hatte. Nichts war mehr so, wie es vorher gewesen war. Der Krieg hatte sie verändert, mit ihm hatten sie die unbeschwerte Zeit ihrer Kindheit endgültig hinter sich gelassen. Mit einem Schlag waren sie alle erwachsen geworden.

Es war schon spät, als Anne und Gilbert an diesem Abend noch zusammen auf der Veranda saßen und dem zirpen der Grillen lauschten. Der Mond schien voll und klar vom Himmel. Gilbert hatte den Arm um sie gelegt.

„Unsere Kinder sind erwachsen geworden Gil. Selbst meine kleine Rilla. Erst gestern hat sie mir gesagt, dass sie nun doch aufs College gehen will. Sie weiß zwar noch nicht genau, für was sie sich entscheiden soll, aber sie will gehen." Seufzte Anne.

„Aber selbst wenn sie unabhängig werden, ist trotzdem hier ihr Zuhause. Bist du ihre Mutter, die sie lieben."

„Und wir werden alt und grau, Gil." Schmunzelte Anne. „Obwohl ich sagen muss, dass mir deine grauen Strähnen im Haar ganz gut gefallen. Es steht dir irgendwie."

Gilbert lachte: „Oh, was für ein nettes Kompliment um auszudrücken, dass ich alt werde."

Zärtlich nahm er ihre Hand zwischen die seine: „Ich hab mir war überlegt, Anne. In einem Jahr hat Jem sein Medizinstudium beendet. Über kurz oder lang wird er meine Praxis übernehmen, er hat den Wunsch dazu schon vor einiger Zeit geäußert. Dann werde ich allmählich kürzer treten und wir beide werden mehr Zeit füreinander haben. Wir könnten auch mal für eine Weile nach Avonlea fahren oder sonst wohin es uns gefällt. Na, was hältst du davon."

„Gil, das ist wunderbar. Ich würde sehr gerne mal wieder länger in Avonlea bleiben. Dann können wir so richtig in Erinnerungen schwelgen. Ich liebe Dich, Gil."

„Ich liebe Dich, mein Anne-Mädchen."

Sie küssten sich und lauschten weiter dem zirpen der Grillen.

ENDE