POTTER UNTERWEGS
KAPITEL 4 – Derjenige, der fast entkam
Ich denke, es wäre die Untertreibung des Jahrhunderts wenn ich sagte, dass ich eine schlechte Woche hatte. Sie haben heute allerdings bald aufgehört. Wahrscheinlich wegen des Regens. Natürlich ist es ein großer Spaß, einen gefesselten Gefangenen in den Dreck zu drücken und so zu tun, als würde man ihn ersticken, aber nach ein paar Stunden lässt der Regen auch einen selbst frieren. Die Nase beginnt zu rinnen, die Zähne klappern, und nicht einmal der brutalste Sport der Welt kann einen ablenken. Sie banden mich im Zentrum des Camps an und gingen in ihre Zelte, um Tee zu trinken.
Immerhin war der Regen eisig kalt. Mein Hemd bestand nur noch aus Fetzen. Das war es, seit der Cruciatus Fluch langweilig geworden war. Ich lag da und versuchte, mich zu einer Kugel zusammenzurollen. Ich wartete darauf, dass alles taub wurde. Auf das Taubwerden hatte ich schon vier Tage lang gewartet. Ich hatte darauf gewartet, dass alles aufhörte und fragte mich, warum ich noch am Leben war.
Lestrange, die lachende Frau, sagte mir, dass sie mich umbringen würde, wenn sie keinen Spaß mehr hatte. Ich wusste aber, dass mehr dahinter steckte. Jeden Tag zogen sie die Pfähle aus der Erde und brachten mich mit einem Portschlüssel in ein neues Camp. Wir reisten über den Kontinent nach Osten. Ich wurde vom Feld zur Höhle und zur Scheune gebracht. Heute Nacht waren wir nahe am Meer, am Rand eines Kliffs. Ich konnte hören, wie die Wellen dagegen krachten. Sie passten wegen Auroren genau auf, aber sie liefen nicht vor ihnen davon. Sie brachten mich zu einem bestimmten Ort.
Ich warf einen Blick zur Wache. Die anderen nannten in MacConkey. Ich hatte während der vergangenen Tage die meisten Namen gelernt. MacConkey war nicht so schlimm wie man von Todessern erwartet. Wenn er seine Schicht hatte kam er vorbei und trat mich ab und zu, aber die Folter wurde ihm schnell zu langweilig. Die Tritte schienen eher Frustration zu sein. Im Moment schlief er offensichtlich.
Ich besah mir die Pfähle, die in die Erde gehauen waren. Sie hatten dazu Magie verwendet. Ich hatte schon in vorigen Nächten versucht, sie heraus zu ziehen, aber ohne Erfolg. Ich streckte die Hand aus und zog an dem, der mir am nächsten war. Er bewegte sich ein wenig, fast wie ein loser Zahn. Ich griff nach dem anderen und er bewegte sich auch. Ich warf einen Blick hoch zum Himmel und blinzelte das Wasser aus meinen Augen. Ein Pfahl hing an den Fesseln, die meine Handgelenke banden, der andere an den Fesseln meiner Knöchel. Auch falls ich die Pfähle aus der Erde ziehen konnte würde ich nicht davonlaufen können. Ich könnte nur wie ein Wurm durch den Dreck rollen und kriechen. Ich würde wahrscheinlich keine hundert Meter vom Camp wegkommen. Ich ließ meinen Kopf einen Moment lang auf der nassen Erde ruhen. Ich konnte fühlen, wie die Wellen gegen das Kliff krachten. Ich streckte die Hand aus und packte den Pfahl. Ich zog. Er war befreit.
Ich kroch auf den Ellbogen und Knien. Der Regen fiel weiterhin, und nun mischte sich ein wenig Hagel darunter. Ich konnte nicht sehen, wohin ich kroch, aber ich konnte es hören. Ich hörte auch Schreie aus dem Camp. Ich ignorierte sie. Sie suchten in der falschen Richtung. Meine Hände streckten sich über den Abgrund. Das Kliff zitterte unter den wütenden Schlägen des Ozeans. Ich rollte mich herum, setzte mich auf und ließ meine gefesselten Beine über den Rand baumeln. Ich sah nach unten. Meine Brille war schon seit einer Weile verschwunden. Ich konnte nicht sagen, ob unter mir Wasser oder Steine waren. Zu diesem Zeitpunkt war es egal. Ich schloss die Augen und lehnte mich nach vor. Ich fiel.
Salzwasser verstopfte meine Nase. Ich strampelte und trat, aber wegen der Fesseln konnte ich die Beine nicht richtig strecken. Ich konnte nicht ordentlich treten. Meine Füße trafen auf den steinigen Grund und ich stieß mich ab. Die Strömung warf mich herum. Das Wasser war einheitlich dunkel, und ich wusste nicht, wo die Oberfläche war. Während der letzten Woche hatte ich oft darüber nachgedacht, wie ich sterben würde. In diesem Moment war ziemlich sicher, dass ich nicht ertrinken wollte. Ich schwamm so gut ich konnte und schaffte gerade mal ein schwaches Hundepaddeln. Ich dachte, ich wäre an der Oberfläche und öffnete den Mund, aber Wasser füllte ihn. Ich kämpfte und schlug um mich und brach schließlich durch die richtige Oberfläche. Ich hustete so stark, dass ich mich fast übergab, wobei ich andauernd mit den Füßen trat, um über der Oberfläche zu bleiben.
Es regnete stärker. Die Wellen um mich herum waren hoch. Blitze zuckten und einen Moment lang konnte ich Land sehen – das dunkle Kliff entfernte sich von mir, während die Strömung an mir zerrte. Meine Arme brannten und froren zur gleichen Zeit. Das Gewicht der Ketten zog mich nach unten. Etwas berührte meinen Arm und in meinen Gedanken flammte das Wort HAI auf. Ich war immerhin mit einem verletzten und entzündeten Rücken ins Meer gesprungen. Ich kniff die Augen zusammen. Es war kein Hai, nicht einmal ein Tier. Es war eine Plastiktüte.
Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel und ich sah, dass Abfall auf dem Wasser um mich herum trieb. Gegenstände klebten an meinen Armen und meinem Gesicht. Eine weitere Welle drückte mich unter Wasser und als ich endlich durch die Oberfläche stieß war der Rand meines Sichtfeldes rot. Ein weiteres Stück Abfall stieß gegen meinen Arm. Ich packte es. Es war ein langer Zylinder, unten breit und oben mit einem Verschluss. Ein weiterer Blitz flammte auf und ich sah die Flasche an. Das Etikett war noch drauf. Die Buchstaben waren Russisch oder so etwas, aber das Logo, der rote und der blaue Halbkreis mit der weißen Linie in der Mitte sahen genauso aus, wie im Supermarkt am Ende der Straße der Dursleys. Es war eine leere, zwei-Liter-Flasche Pepsi. Weil der Verschluss noch dran war gab sie mir guten Auftrieb. Dem Himmel sei Dank, dass nicht alle Menschen an Recycling glauben. Eine weitere Flasche trieb vorbei. Ich packte sie – noch eine russische Pepsi – und danach noch eine. In genau diesem Moment schwor ich, dass ich nie wieder eine andere Marke kaufen würde. Ich würde nicht einmal Wasser kaufen. Nur noch Pepsi für den Rest meines Lebens. Ich würde mit Pepsi duschen. Mit den Armen voller Flaschen schloss ich die Augen und ließ mich vom Wasser treiben.
Ein Licht schien in mein Gesicht. Ich war nicht wirklich eingeschlafen, aber ich war irgendwie ein wenig starr geworden. Es war noch immer Nacht und es regnete, aber die Wellen waren niedriger. Ein Mann stand ein paar Meter entfernt auf dem Wasser. Ich sah dunkle Kleidung und ein blasses Gesicht. Mein Herz blieb in meiner Brust stehen. Ich würde nicht zulassen, dass sie mich wieder erwischten. Ich ließ eine der Flaschen los.
Das Wasser schloss sich über meinem Kopf und ich begann zu schwimmen. Ein Haken packte mich unter dem Arm und zog mich zur Oberfläche. Ich schrie unverständlich und trat mit den Beinen, aber ich konnte mich nicht befreien. Hände packten mich und ich wurde aus dem Wasser gezogen. Ich kämpfte verbitterter und eine sehr dicke Person setzte sich auf mich. Nun nicht mehr in der Lage, mich zu bewegen, sah ich mich um.
Anstatt von Todessern war ich von Männern in tropfenden Ponchos umgeben. Ich war auf der Planke eines ziemlich großen Schiffes. Der Mann, der auf mir saß, sagte etwas zu mir. Ich denke, dass er vielleicht Italienisch gesprochen hat.
„Englisch?", fragte ich, wobei mir das Atmen schwer fiel.
Er sagte noch etwas auf Italienisch. Es hörte sich wie eine Frage an. Ich hoffte, dass er fragte, ob er aufstehen sollte, also nickte ich. Er stand auf und stellte mich auf die Füße. Andere Hände packten mich und man brachte mich an Deck. Die Menschen redeten und deuteten auf mich. Ich konnte sie nicht verstehen, aber offenbar waren meine gefesselten Hände sehr interessant. Eine Decke wurde um mich gewickelt und ich wurde ziemlich fest an einem seltsamen Kran vorbei in eine Kabine geschoben. Sie war vollgestopft mit Ausrüstung und leuchtendem Sonar und Radar. Ich wurde in eine Ecke bugsiert. Einer der Männer leuchtete mit einer Taschenlampe in mein Gesicht. Er stellte mir Fragen, aber alles was ich als Antwort geben konnte war: „Englisch, ich spreche nur Englisch." Er ging davon und ich schlief eine Weile.
Ich wachte auf, weil jemand meine Schulter schüttelte. Der Mann, der auf mir gesessen hatte, war zurück. Er hielt mir eine Tasse aus Plastik, gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit, hin. Sie roch wie Kaffee. Ich mag keinen Kaffee, aber ich würgte ihn trotzdem hinunter. Er war so voller Koffein, dass mein Arm zitterte. Der Mann lächelte und sagte wieder etwas. Er ging davon und kam eine Minute später mit einer Tupperware Schüssel voller Suppe zurück. Ich würgte auch sie hinunter, bevor er die Schüssel losgelassen hatte.
(Die Todesser sind nicht sehr verantwortungsvoll wenn es darum geht, ihre Gefangenen zu füttern. Ich bin sicher, dass keiner von ihnen je einen Goldfisch hatte, der länger als einen Tag überlebt hat.)
Der Mann lachte und tätschelte meinen Kopf. Er verließ den Raum und kam mit einer riesigen Zange zurück. Er versuchte, meinen Fesseln zu durchschneiden, aber die Zange verbog sich einfach, als er zudrückte. Die Todesser hatten sie offenbar mit Magie verstärkt. Nach etwa zehn Minuten gab er schulterzuckend auf.
Ein anderer Mann, von dem ich annahm, dass er der Kapitän war, schrie in ein Mikrophon. Nachdem er ungefähr eine halbe Stunde lang geschrien hatte, winkte er mich herüber und Mr. Suppe half mir auf.
„Englisch? Hallo?", sagte eine Stimme mit einem leichten britischen Akzent.
„Gott sei Dank! Mein Name ist Harry Potter. Ich wurde vor vier Tagen bei einem Fußballspiel in Schottland entführt. Ich will wieder nach Hause!"
„Beruhig dich, mein Sohn. Mein Name ist John Crisfield und ich arbeite bei Interpol. Wo in England wohnst du?"
Ich gab ihm die Adresse der Dursleys, erklärte aber, dass sie mich vielleicht noch nicht als vermisst erklärt hatten, weil ich bei meinen Freunden in Ottery St. Catchpole auf Urlaub gewesen war. Ich hätte ihm gesagt, dass er meine Freunde anrufen sollte, aber die Weasleys hatten kein Telephon und ich konnte mich nicht an Hermines Nummer erinnern. Er sagte, er würde meine Informationen überprüfen und wie durch ein Wunder gab es bei den Muggeln noch eine Datei von mir. Ich erzählte ihm, dass ich während dem Spiel zur Toilette gegangen war, wo mich jemand gepackt und meinen Kopf gegen die Wand geschlagen hatte. Ich sagte ihm auch, dass sie mich unter Drogen gesetzt hatten, deshalb hatte ich nicht den blassesten Schimmer, wie ich im Tyrrhenischen Meer gelandet war (er informierte mich, dass ich dort war).
„In Ordnung, mein Sohn, wir schicken ein Boot, das dich von diesen Fischern befreien wird. Ich werde dich mit ein paar Polizisten treffen, wenn du im Hafen ankommst und dann werden wir daran arbeiten, dich nach Hause zu bringen."
„Danke, Sir", sagte ich und hörte mich dabei sehr heiser an.
Ich schlief wieder eine Weile. Ich wurde wach um zu sehen, dass wir neben einem viel größeren Schiff waren. Die Fischer hoben mich in einen seltsamen kleinen Korb, der an einem Kran hing, der mich auf das größere Schiff brachte. Ich winkte den Fischern zu (so gut es mit meinen gefesselten Armen ging) und rief ihnen: „Danke!" zu, während ich befördert wurde. Die Männer, die mir aus dem Korb halfen, waren nicht britisch. Ich bin noch immer nicht sicher, woher sie kamen. Immerhin konnten ein paar von ihnen Englisch, denn als sie die Decke hoben sagte einer von ihnen: „Heile Mutter Jesu!" Sie brachten mich in das Büro des Arztes an Bord und ich musste mich auf den Untersuchungstisch setzen. Ein paar Leute kamen herein und versuchten, die Ketten zu lösen, doch sie hatten genauso wenig Glück wie die Fischer. Der Arzt (zumindest denke ich, dass er ein Arzt war) gab mir ein paar Injektionen und begann, stechende Cremen auf meinen Rücken zu reiben. Er murmelte leise etwas und tätschelte irgendwie meine Schulter. Ich wollte gerade fragen, was er denn meinte, als er etwas zwischen meinen Schulterblättern herauszog. Er sagte etwas, das sich sehr zufrieden anhörte und hielt den blutigen Gegenstand so, dass ich ihn auch sehen konnte. Ich dachte gerade, dass er aussah wie eine Stricknadel, als der Raum zur Seite kippte und ich zu Boden fiel.
Ich wachte wieder auf als wir in einen Hafen einfuhren. Ich schaffte es, ohne Hilfe aufs Deck zu humpeln. Die Sonne ging auf und ich konnte die Küste in der Ferne sehen. Zumindest konnte ich etwas verschwommenes Braunes sehen, das unter etwas großem Blauen und über etwas Blauem war. Ich bin ziemlich sicher, dass es die Küste war. Ich sah auch ein paar blinkende, rote Lichter, von denen ich annahm, dass es wahrscheinlich Rettungswagen oder Polizeiautos waren. Die Crew setzte mich wieder in den Korb und unter mir sah ich ein kleineres Boot. Ich nehme an, dass das große Schiff nicht in den Hafen einfahren konnte. Der Korb wurde nach unten gelassen und ich seufzte erleichtert auf.
Das hätte ich wirklich nicht tun sollen.
Unter mir streckten die Leute die Arme aus um sicher zu gehen, dass ich auf dem Deck und nicht im Wasser landete. Einer von ihnen winkte.
„Hallo Harry, ich bin John Crisfield", sagte ein verschwommener Mann mit einer bekannten Stimme.
Ich lehnte mich über den Rand des Korbes und wollte antworten. Plötzlich fühlte ich mich, als wäre ich in der Faust einer sehr großen Person gefangen. Ich wurde aus dem Korb in die Luft gehoben und die Boote wurde zu kleinen Punkten unter mir. Ich freute mich nicht auf die Landung.
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A/N: Ich denke, dass es keine angemessene Entschuldigung für die lange Wartezeit gibt. Außer ich lasst es durchgehen, dass ich wegen der anhaltenden Hitze nur mitten in der Nacht schreiben kann und dabei immer fast einschlafe.
Jedenfalls war's das jetzt mal für's Erste, weil wir jetzt die englische Version eingeholt haben und nur der liebe Gott (oder besser gesagt Marz) weiß, wie es weitergeht. Also bin ich schon genauso gespannt auf das nächste Kapitel wie ihr. Das heißt aber leider auch, dass ich keine Ahnung habe, wann der nächste Teil fertig ist.
Ich denke, somit beantwortet sich auch die immer öfter auftauchende Frage, wann Sirius wieder vorkommen wird: ich weiß es selbst noch nicht.
