Kapitel 1

Orks waren Dreck, Gestank und Gedränge gewöhnt, vor allem jene Veteranen, die im Ringkrieg gekämpft hatten. Kharshur war einer von ihnen. Er hatte vor Minas Tirith gewütet und dem Geisterheer entkommen können, war bei der Schlacht vor dem Morannon dabei gewesen und hatte als einer der wenigen überlebt.

Das genügte, um sich als etwas Besseres zu fühlen. Besser als die Feiglinge, die nie in einer Schlacht gekämpft hatten und nun hier in den Ruinen von Barad-Dûr mit ihren zukünftigen Heldentaten prahlten. Und besser als all die Grünschnäbel, jugendliche Orks, in den letzten Jahren von Saurons Herrschaft geboren, die glaubten, sie könnten es mit hundert Menschen aufnehmen.

Fluchend stieß Kharshur einen der Prahler beiseite. Der Ork knurrte bedrohlich, doch als er Kharshur erkannte, begnügte er sich mit einem hässlichen Fauchen und hastete davon. Kharshur war so etwas wie eine Respektperson. Er hatte mit einer Bande Veteranen in den Trümmern gewohnt, sobald die Menschen abgezogen waren, und hatte sich mit Klauen und Zähnen zum Anführer seiner Horde hochgekämpft. Siebzehn Jahre danach war der Grund aufgetaucht, weshalb es hier immer voller wurde.

Wie Nazgwen es genau gelungen war, konnte auch Kharshur sich nicht erklären. Die Elbin war auf einmal da gewesen, verdreckt, erschöpft, aber voller Autorität, und seitdem waren jeden Tag mehr und mehr Orks eingetroffen. Ein paar hatte Nazgwen sofort wieder fortgeschickt. Sie hatten weitere Horden beschafft, Wargherden gefangen und halbwegs gezähmt und sogar zwei Trolle zum Mitkommen überreden können. Die hatten allerdings nach wenigen Tagen gleich wieder ihr Leben lassen müssen, weil sie ihre Blutgier nicht unter Kontrolle bringen konnten.

Ja, Nazgwen war es gelungen, eine Armee aus dem Boden zu stampfen. Zwar hätten sich die dreitausend Orks zwanzig Jahre zuvor höchstens als kleine Kompanie ansehen dürfen, aber in einer Zeit, in der es kaum mehr Orks gab, waren dreitausend eine geradezu unerhörte Menge.

Kharshur erreichte die ungefähre Mitte des Trümmerfeldes. Hier hielt sich der neunköpfige Hauptstab auf, bestehend aus den wichtigsten alteingesessenen Orks und einigen gerissenen Neuankömmlingen.

Nazgwen fiel unter ihnen nicht einmal besonders auf. Sie war kleiner als die meisten und hatte weder Reißzähne noch Klauen, dafür trug sie dieselben schwarzen schmutzigen Umhänge und Hosen wie die anderen. Nur auf eine der schweren Rüstungen hatte sich verzichtet.

„Kharshur, die Sonne ist schon längst aufgegangen, du bist zu spät", sagte Nazgwen, als sie ihn erkannte. Ihre Stimme war dunkel, aber überraschend kultiviert. Der Tonfall hätte genauso gut in eine Hofdamenversammlung gepasst.

„Verfluchte Sonne", knurrte Kharshur. „Sei froh, dass wir uns der deinetwegen überhaupt aussetzen. Die Jungs hassen das."

Die Jungs werden es überleben", entgegnete Nazgwen.

Das schon", murmelte Kharshur leise.

Nazgwen warf ihm einen scharfen Blick zu, dann wandte sie sich ab.

Aus den Tiefen ihres Umhangs zerrte sie eine altes schäbiges Pergament hervor und breitete es auf einem flachen Felsstück aus, das früher einmal eine Zinne gewesen sein mochte.

„Da", sagte sie bestimmt und deutete auf einen Punkt auf der Karte. „Minas Morgul."

Die Orks beugten sich vor und sahen, wie Nazgwens weißer Finger nach links wanderte und ihr schwarz geräderter Fingernagel auf Minas Tirith zeigte. „Die Menschen von Minas Tirith bewachen das Morgul-Tal zwar, aber sie sind ähnlich nachlässig wie vor Jahrhunderten. Minas Tirith hat sich wieder einmal in einen geruhsamen Schlaf geflüchtet. Und Elessar stört ihn nicht."

Einer der Orks fauchte und spuckte verächtlich aus.

„Es wird uns nicht viel Mühe kosten, Minas Morgul einzunehmen."

Ein anderer Ork lachte. „Nicht, wenn die Menschen immer noch ebenso lausige Kämpfer sind wie früher!"

„Menschen ändern sich", erwiderte Nazgwen. „Aber nicht in dieser Hinsicht. Der Sieg gehört uns, wenn wir keine Übermacht gegen uns haben."

Sie schwieg und Kharshur runzelte die Stirn. Nichts, dass es besonders auffiel, da sein ganzes Gesicht ohnehin ständig faltig war. „Aber die haben wir. Die Übermacht. Gegen uns."

„Nicht in Minas Morgul", versetzte Nazgwen.

„Nicht in Minas Morgul", gab Kharshur zu, „aber danach. Der kleine König wird es merken, dass wir Morgul einen Besuch abstatten. Dann kommt er. Er hat mehr als dreitausend."

Nazgwen strich sich über ihre erstaunlich gepflegten schwarzen Haare. „Viel mehr", bestätigte sie. „Aber glücklicherweise bist du in der angenehmen Lage, einen klügeren Heerführer zu haben, als du einer wärest."

Kharshur knurrte. „Was soll das heißen?"

„Das heißt, dass der Hexenkönig etwas in Minas Morgul hinterlassen hat, von dem die Menschen nichts wissen."

„Eine Waffe?"

Nazgwen lächelte beinahe. Ihr finsteres Gesicht wurde weicher und plötzlich sah sie aus wie die Elbin, die sie war. Ihre Augen funkelten und die langen Narben, die sich auf jeder Wange von den Augenwinkeln bis zum Wangenknochen zogen, verblassten. „Vielleicht."