Niemand bewachte gerne die Ostseite von Minas Morgul. Die halbzerstörte Straße, die vom Fuße der Festung tief nach Mordor hinein führte, lag in den Schatten der Berge. Die Schlucht, in der Minas Morgul lag, war nur wenig breiter als die Festung selbst. Jetzt noch, Jahre nach dem Sturz Saurons, hatten die Wachposten ständig das Gefühl, jemand beobachte sie von den Bergen tausend Meter über ihnen.
Heute täuschte sie diese Ahnung nicht.
Algund wandte den Blick verhalten schaudernd von den Gipfeln des Ephel Duath. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Wasserflasche und strich sich über seinen schütternen Bart. Sein Gefährte Galdor lachte. „Erwartest du immer noch jeden Moment die Geflügelten Schatten?" spottete er.
Algund antwortete nicht. Galdor war jung und hatte die Nazgul nie mit eigenen Augen gesehen. Wie alle der nach dem Ringkrieg Geborenen hatte er zwar die Folgen des Krieges erlebt, aber sich nie seine wirkliche Entsetzlichkeit erfahren. Keiner der jungen Menschen konnte sich die Hoffnungslosigkeit und den Tod, die Schmerzen und die Schreie des Krieges vorstellen. So begegneten sie den Erzählungen der Älteren mit Ungläubigkeit und manche, wie Galdor, sogar mit Spott.
Algund hingegen hatte seine Freunde sterben sehen und auf den Schlachtfeldern die allgegenwärtige Furcht vor dem Tod erlebt. Das Kreischen der Nazgul hatten auch ihm die Hoffnung geraubt, aber der Weiße Zauberer hatte sie ihm zurückgegeben. Andere hatten sich vor wahnsinniger Angst in ihre eigenen Schwerter gestürzt. Algund kannte den Krieg.
Galdor stellte sich mitten auf die Straße und breitete die Arme aus. „Nazgul!" schrie er höhnisch in den nächtlichen Himmel. „Nazgul!"
Algund drehte ihm den Rücken zu und ließ sich auf einem Felsblock nieder. Einerseits war er froh, dass die Jüngeren in Frieden aufwachsen durften, andererseits sehnte er sich danach, Galdor und den anderen jungen Spöttern begreifbar zu machen, was die Nazgul bedeuteten.
„Nazgul!" brüllte Galdor wieder und Algund zuckte zusammen.
„Ihr seid nicht da, was? Ihr seid nur eine alte Geschichte, und trotzdem fürchten die Alten euch!"
Algund schüttelte niedergeschlagen den Kopf und nahm einen weiteren Schluck Wasser.
Plötzlich hörte er ein Zischen, ein erschrockenes Keuchen und den dumpfen Aufprall eines Körpers. Er sprang auf und fuhr herum.
Galdor lag regunglos auf der Straße. Als Algund auf ihn zurannte, sah er den Pfeil, der in Galdors Brust stak. Und er erkannte ihn. Ein Orkpfeil.
Erinnerungen an vergangene Schlachten, an verlorene Gefährten stürzten auf ihn ein. Aber Algund hatte vergessen, wie man in einer solchen Situation reagiert. Er blieb starr stehen und hörte das zweite Zischen. Er spürte die Wucht des Pfeils, als er in seine Brust eindrang. Er sah den schwarzgefiederten Schaft. Und er war nicht einmal überrascht. Der Krieg verschonte niemanden, den er jemals in seinen Klauen gehabt hatte.
Zwölf Orks kletterten die Hänge des Ephel Duath hinab. Sie verschwendeten keinen Blick an die zwei Menschenleichen, sondern hasteten auf die Festung zu. Weitere Gruppen folgten ihnen.
Für einen kurzen Moment dachte Nazgwen an die Zeiten, in denen eine Straße voll von kriegerischen Orks allgegenwärtig gewesen war. Nur eine Weile lang hätten die dreitausend Orks, die Minas Morgul entblößten und einnahmen, in die Zeit vor zwanzig Jahren gepasst.
Nazgwen riss sich zusammen und trieb ihren störrischen Warg an. Aus den Schatten von Mordor tauchte sie auf und ritt in die Festung ein wie die erfolgreiche Heerführerin, die sie einmal gewesen war. Sie hatte Nah-Harad erobert, die grausamen Wüsten überstanden, Umbar mobilisiert – aber darum ging es nicht, nicht jetzt.
Schon einmal war sie dabei gewesen, als Minas Morgul aus den Händen der Menschen gerissen wurde. Als Untergebene der Nazgul hatte sie geholfen, Mordor für die Rückkehr ihres Herrn vorzubereiten. Nun waren die Nazgul vernichtet, aber sie selbst lebte noch.
Die Scharen der Orks verteilten sich in der Festung, und als Nazgwen in die Haupthalle eintrat, war nur noch ihr neunköpfiger Hauptstab bei ihr.
Die Halle war düster, nur durch einen der schmalen Fensterschlitze fiel ein Streifen blasses Mondlicht hinein. Im Dämmerlicht wirkte es, als ob die dicken Säulen in die Unendlichkeit reichten. Am Ende der Halle stand ein grob aus schwarzem Gestein geschlagener Thron.
Nazgwen ließ sich darauf nieder. Ihre Haut leuchtete weiß gegen den dunklen Feld.
„Sucht hier und in den umliegenden Räumen nach einem roten Amulett", befahl sie. „Aber fasst es nur an seiner Kette an. Das Amulett selbst ist tödlich. Sucht!"
Minas Morgul war mehr eine Stadt als eine Festung. Vor langer Zeit, als sie noch Minas Ithil geheißen hatte, war sie so weiß gewesen wie ihre Schwesterstadt Minas Tirith, die damals den Namen Minas Arnor getragen hatte. Unter der Herrschaft der Nazgul jedoch verfärbten sich die Mauern dunkler, bis Minas Morgul im Mondlicht wie schwarzer Stahl schimmerte.
Vor der Haupthalle lag ein kahler, weiter Platz, dessen äußerste Spitze in der Mitte der Nacht auf den Mond zeigte. Die schützende Mauer um den Platz herum war größtenteils abgebröckelt, an der Ostseite ging es hundert Meter in die Tiefe, die Straße und das Tor nach Mordor lagen direkt darunter.
Zwei Jahrzehnte lang war die Festung leer gewesen bis auf Falken, die in den Türmen nisteten und Ratten, die in den Kerker herrschten. Jetzt huschten Schatten über die verlassenen Straßen und den zerstörten Häusern und gierten nach vergessenen Schätzen. Andere Orks standen auf den dem Westen zugerichteten Mauern und spähten Richtung Osgiliath und Minas Tirith.
Vor der Haupthalle lag ein kleiner Korridor, von dem links und rechts je vier Türen abgingen – ein Raum für jeden Nazgul und die Halle für ihren Anführer.
Hier suchten Nazgwens Vertraute nach dem tödlichen Schmuckstück. Selbst sie wandten ihren Blick unbehaglich von einer Sammlung vergifteter Morgul-Messer in einem Raum, von verschlungenen, blutverkrusteten Gegenständen in einem anderen. Die Nazgul mochten fort sein, das leise Gefühl ihrer Gegenwart nicht.
„Hier ist kein Amulett", sagte einer der Orks, als sie jeden Raum abgesucht hatten. „Nur Staub und Blut und Dreck."
Nazgwen war noch bleicher als gewöhnlich. Sie wusste, dass der Ork nicht log. Niemand log sie an. „Es muss hier sein", sagte sie leise. „Ich weiß es."
„Wir haben überall gesucht!" verteidigte sich der Ork.
„Es muss hier sein!" schrie Nazgwen.
Der Ork knurrte, aber er erwiderte nichts.
„Verschwindet! Geht hinaus, raubt meinetwegen die restliche Stadt aus wie die anderen, oder freundet euch mit den Ratten an!" Nazgwens Stimme kippte beinahe und die Orks beeilten sich, die Halle zu verlassen. Kharshur blieb, und Nazgwen ließ ihn gewähren.
„Ohne das Amulett sitzen wir hier in der Falle", gestand sie müde. „Wir können Minas Morgul nicht verteidigen. Wir sind zu wenig, miserabel ausgerüstet und die jüngeren Orks haben sowieso keine Ahnung vom Krieg."
Kharshur schwieg. Er hatte nichts zu sagen, teilte aber Nazgwens Meinung, besonders die über die lächerlichen Grünschnäbel.
„Es war hier. Glaub mir, das Amulett war hier. Ich habe es damals selbst gesehen... Der Hexenmeister hat es gehabt. Jemand muss es weggenommen haben!"
Kharshur pulte mit einem gelblichen Fingernagel zwischen seinen Reißzähnen herum. „Und wer?" fragte er undeutlich.
Nazgwen lachte zornig auf. „Was fragst du mich das? Woher soll ich das wissen?"
Kharshur zuckte die Schultern und versuchte, hilfreich zu sein. „Hierher kommen keine gewöhnlichen Diebe. Keine Menschen und keine Dreckselben."
Nazgwen wies ihn nicht darauf hin, dass sie selbst eine Elbin war. Vermutlich hatte er es vergessen. Man sah es ihr sowieso nicht an.
„Elessar", murmelte Nazgwen. „Aber woher sollte er davon wissen?"
Kharshur grunzte abfällig. „Oder der Zauberer."
Nazgwen schüttelte den Kopf. „Er ist weg. In den Westen gesegelt, zusammen mit den meisten Elben."
„Vielleicht hat er es mitgenommen?"
„Nein. Das Amulett gehört nicht in den Westen, und Mithrandir weiß das. Er könnte es vesteckt haben. Oder er hat es Elessar gegeben. Oder dessen Elbenfrau. Nein, eher Elessar. Er hat es selbst gesagt. Die Zeit der Elben ist vorbei." Nazgwen ließ sich wieder auf dem Thron nieder, dieses Mal bedrückt und überhaupt nicht beeindruckend.
„Dann müssen wir es ihm eben abnehmen", stellte Kharshur fest. Wie die meisten Orks war er ziemlich praktisch veranlagt.
„Ja, vielleicht gibt er es mir, wenn ich ihn höflich darum bitte", bestätigte Nazgwen sarkastisch. Da sich ihre Stimmlage dabei nicht änderte, fiel Kharshur ihre Ironie nicht weiter auf.
„Er wird bestimmt mitkommen, wenn seine Leute uns morgen angreifen."
„Richtig, das wäre wirklich eine einmalige Gelegenheit, mit ihm ein ernsthaftes Gespräch zu führen."
„Also, dann schnappen wir ihn uns und ich bringe ihn zum Reden."
„Genialer Einfall. Wahrscheinlich kommt er sogar freiwillig mit."
„Na also!"
„Möglicherweise setzt er dir dann auch noch ein leckeres, bluttriefendes Essen in seiner Halle vor."
„In seiner Halle?" wiederholte Kharshur verblüfft. „Wieso denn in seiner Halle?"
Nazgwen stöhnte genervt und Kharshur begriff, dass sie nichts ernst gemeint hatte. Trotzdem war er nicht bereit, einfach so seine kluge Idee fallen zu lassen.
„Das war mein voller Ernst!" fauchte er beleidigt.
„Umso schlimmer."
Kharshur knurrte frustriert. Er hasste Nazgwens sarkastische Phasen. Meistens war sie sachlich und kühl, und genauso kühl pflegte sie jeden zu bestrafen, der ihre Zeit verschwendete. Damit konnte Kharshur gut leben, daran war er gewöhnt. Sobald sie allerdings anfing, mit ihm ein aufrichtiges Gespräch zu führen, konnte Kharshur sich denken, dass er wieder einmal ihren beißenden Sarkasmus nicht bemerkt hatte. Nazgwen hatte einmal behauptet, sie wäre nur spöttisch, wenn sie ihren Gegenüber entweder für ebenbürtig oder für unsagbar dumm hielt.
„Wir könnten uns mit einer kleinen Horde der Jungs am Weg verstecken, warten, bis die Menschen kommen, und uns dann Elessar schnappen", beharrte er trotzig.
„Ich bin beeindruckt. Eine ungeübte Horde Orks ist Elessars frischen Männern schließlich hoch überlegen."
Kharshur beschloss, zu schweigen. Sollte Nazgwen sich doch alleine einen Plan überlegen.
Sie stieg langsam vom Thron herunter, als hätte sie bemerkt, dass der Herrschersitz einem brillanteren Strategen zustünde. Grübelnd durchquerte sie die Halle und sah aus einem schmalen Fensterschlitz auf die Straße in den Westen hinab. Eine halbe Wegstunde Richtung Osgiliath glitten die Felswände des Ephel Duath beiseite und überließen es zerklüfteten Gesteinsfelden, den Weg zu säumen.
Sicher könnte sich eine Truppe Orks dort verstecken und Elessar überfallen – aber das hatte überhaupt keinen Sinn.
„Sie müssen sich erst abkämpfen", murmelte Nazgwen, stieß sich vom Fenster hab und zeigte entschlossen mit einem weißen Finger auf Kharshur.
„Ich brauche zwanzig Orks. Keine altersschwachen Veteranen und keine Grünschnäbel. Zwanzig Orks wie dich."
Hätten Orks eine ausgefeilte Mimik besessen, hätte Kharshur geschmeichelt ausgesehen.
„Wir verstecken uns in den Steinfeldern, bevor Elessar kommt. Er greift Minas Morgul an und seine Männer sind erschöpft, wenn sie wieder heraus kommen. Sie rechnen nicht mehr mit einem Überfall. Dann schlagen wir zu, ich greife Elessar persönlich an. Damit haben wir sie."
Kharshur kratzte sich nachdenklich hinter seinem spitzen, ausgefransten Ohr. „Dabei gehen fast alle Jungs drauf."
„Ja. Wenn nicht sogar alle."
Er schnaufte. „Was sein muss, muss sein."
Nazgwen verbarg ihre Erleichterung. „Welch kluger Ausspruch."
Kharshur hatte keine großen Schwierigkeiten, neunzehn einigermaßen geeignete Freiwillige auszuwählen. Andere beauftragte er damit, sämtlichen Orks in der Festung einzuschärfen, ihre Haut beim Angriff so teuer wie möglich zu verkaufen.
Die Ermunterung war nicht nötig.
Als Nazgwen und die zwanzig Auserwählten in der Morgendämmerung die verschlungenen Straßen von Minas Morgul hinabgingen, sahen sie in jedem narbigen, hässlichen Orkgesicht den Hass geschrieben.
Den natürlichen, angeborenen Hass auf Menschen. Menschen hatten sie besiegt, sie gejagt und vernichtet wie Vieh. Ein leichter Nieselregen begann zu fallen. An diesem nassen Morgen würden auch sie vernichten – ein letztes Mal. Es gab kein Entkommen für die Orks in Minas Morgul. Und ihr ganzer Willen war darauf ausgerichtet, auch den Menschen keines zu erlauben.
Die schweren Tore schlossen sich hinter Nazgwen. Schweigend gingen ihre zwanzig Ork mit ihr die schwarze Straße entlang.
Sie passierten den steilen Pfad, der hinauf nach Cirith Ungol führte. Vor zwanzig Jahren waren der Halbling und sein Diener hier hinauf gestiegen. So viel hatte damals von so wenig abgehangen...
Aber Nazgwen hatte dem Ringkrieg nicht in Mordor beigewohnt. Sie war draußen gewesen, weit weg in den Wüsten von Harad. Zu weit weg, als dass sie dem Dunklen Herrscher noch hätte helfen können.
