Nazgwen zwang sich, stocksteif zu stehen, keine Regung zu zeigen, als die ersten Schreie aus Minas Morgul zu ihrem Hinterhalt herüberklangen.
Sie wusste, würde sie auch nur die gerinsgte Emotion zeigen, würden auch ihre zwanzig Orks ihre Fassung nicht wahren. Sobald die Menschen dann zurückkommen würden, würden die Orks ihre Artgenossen rächen, blind für jegliche Taktik.
Kühl starrte Nazgwen geradeaus.
Das hasserfüllte Brüllen der sterbenden Orks wehte herüber. Von Zeit zu Zeit erklangen Todesschreie der Menschen. Die Kämpfer gönnten einander nichts. Die mächtige Woge des Hasses der Orks traf auf die Überlegenheit und Ausgeruhtheit der Menschen. Sie flachte ab, doch die ausgedünnten Reihen der Orks wehrten sich verbissen, töteten, schlachteten, ohne auf ihre eigenen Verluste zu achten. Noch während sie starben, rissen sie andere mit in den Tod.
Nazgwens ausgeprägter Zeitsinn ließ sie im Stich. In einem unbegrenzten Elbenleben kam der Schlacht kaum ein kurzer Moment zu, aber ihr erschien das Warten wie eine Ewigkeit.
Sie spürte in ihren Gefährten den puren Hass aufsteigen. In Minas Morgul starben Verwandte der zusammengeschmolzenen Horden. Fast alle Orks, die der Ringkrieg verschont hatte, waren eng miteinander verwandt. Jetzt starben große Teile dieser Familien, und bald würde der Rest sterben und kaum ein Ork würde überleben.
Die Menschen würden leiden müssen. Nazgwen umschloss den Griff ihres Langschwertes so hart, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wenn sie erst das Amulett hatte, würde sie die Menschen unter ihre Herrschaft zwingen. Sie würden büßen.
Irgendwann verklangen die Schreie aus Minas Morgul. Eine Zeit lang war es still, und die Stille drückte Nazgwen auf die Ohren.
Plötzlich sah sie auf, und auch die Orks hatten es gehört. Die Menschen kehrten zurück.
Die ersten Reihen passierten den Hinterhalt bald, und die Orks zitterten vor Mordlust. Dennoch hielt Nazgwen sie zurück. Elessar hielt sich am Ende seiner Leute. Sie durften sich vorher nicht entdecken lassen. Reihe hinter Reihe zogen die Menschen vorbei.
Dann das Ende. Elessar, dort war er. Er ritt auf einem kräftigen braunen Pferd, um sich herum seine Heerführer. Direkt neben ihm saß ein Elb auf einem ungezäumten Pferd.
Nazgwen hatte ihn noch nie gesehen, aber sie wusste, wer er war. Legolas, der Sohn Thanduils vom Düsterwald. Als einziger der Elben aktiv am Ringkrieg beteiligt – jedenfalls auf der Seite der Menschen, dachte Nazgwen grimmig. Er hatte begonnen, in den Wäldern Ithiliens eine Elbenkolonie aufzubauen, davon hatte sie gehört.
„Macht euch bereit", flüsterte sie.
Zwanzig schwarze Bögen spannten sich.
„Schießt!"
Zwanzig schwarze Pfeile schossen von den Sehnen, zischten durch die Luft. Nicht alle fanden ihr Ziel, aber viele bohrten sich in Menschenkörper und gruben ihre Widerhaken in Menschenfleisch.
Mit ohrenbetäubendem Gebrüll stürzten die Orks hervor.
Nazgwen war überrascht, wie schnell die Menschen reagierten. Die Krieger an der Spitze wendeten und der Schockmoment hielt kaum an. Legolas Thranduillion legte Pfeile auf die Sehne seines Bogens und schoss.
Elessar selbst zwang sein Pferd zwischen die Orks und zog sein Schwert.
Nazgwen lächelte schmal. Nein, Elessar sollte sich besser nicht um Orks kümmern. Lieber um sie.
Sie sprang aus ihrem Versteck hervor, riss einem sterbenden Menschen seine Lanze aus den kraftlosen Händen und stieß sie in den Leib des Pferdes Elessars. Es bäumte sich schrill wiehernd auf und brach zuckend zusammen.
Elessar stand schnell auf und drehte sich zu seinem neuen Gegner um. Nazgwen sah, wie er überrascht den Mund öffnete, als er erkannte, dass sie eine Elbin war.
Doch Nazgwen zögerte nicht. Sie riss ihr Schwert aus seiner Scheide und griff ihn scharf an. Elessar blockte ihn immer noch verblüfft ab, dann verfinsterte sich sein Gesicht und er verwandte seine Gedanken auf den Kampf.
Nazgwen wich einen kleinen Schritt zurück und führte einen Schlag gegen seine Beine. Er wehrte ihn ab und griff an, Nazgwen wirbelte aus der Reichweite seines Schwertes und schlitzte im nächsten Moment seinen Unterarm auf. Doch der Schnitt war nicht tief genug, um ihm ernsthaft zu schaden.
Wieder wich Nazgwen seinen Schlägen aus, stieß ihr eigenes Schwert nach vorne, aber sie landete keinen weiteren wichtigen Treffer. Sie musste diesen Kampf schnell zuende bringen. Elessar würde nicht lange brauchen, um zu merken, dass sie nicht stärker war als er, nur schneller. Es gelang ihr immer wieder, seinem Schwert zu entkommen und einen raschen Gegenangriff zu starten.
Doch auch Elessar erhöhte sein Tempo. Einem Hieb konnte Nazgwen gerade noch ausweichen, aber im nächsten Moment sah sie sein Schwert in der aufgehenden Sonne blitzen und spürte einen reißenden Schmerz in ihrem rechten Oberarm explodieren.
Sie hatte gelernt, Wunden zu ignorieren, sie erschreckte eher die plötzliche Folge seiner Schläge. Sie verlor wertvolle Sekunden. Jetzt war es Elessar, der unentwegt angriff und ihr kaum Zeit ließ, auszuweichen. Ein weiterer Schlag durchbohrte ihre linke Schulter.
Nazgwen taumelte, trat auf die Hand eines Toten, ob Mensch oder Ork, vermochte sie nicht zu sagen. Während sie versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten, schlug Elessar ihr ihre Waffe aus der Hand. Sie fluchte, als ihr Schwert aus ihrer Reichweite auf den Boden fiel.
Dann drückte der blutige Stahl von Elessars Schwert an ihre Kehle.
Entsetzt stellte sie fest, dass kein Ork mehr aufrecht stand. Der Kampf hatte zu lange gedauert. Sie hatte verloren.
„Wer bist du?" fragte Elessar scharf.
Nazgwen lachte heiser. „Deine Mörderin."
Sie wusste, sie überhaupt nicht in der Lage, jemandem zu drohen. Sie hatte verloren, verdammt!
Elessar musterte sie nachdenklich. Er sah lediglich eine verdreckte, in einen schwarzen Umhang gehüllte Elbin mit bitteren grauen Augen und zwei langen Narben, die sich von den Augenwinkeln mit zu den Wangenknochen zogen.
„Was hat eine Elbin mit Orks zu schaffen?"
Plötzlich ertönte ein gellender Schmerzensschrei. Für einen Moment ließ Elessar sein Schwert sinken. Auch Nazgwen fuhr herum. Auf dem Boden lag ein Ork, eine Hand erhoben. Er hielt einen Dolch. Kharshur. Er hatte einem der Männer den gesamten Arm aufgeschlitzt.
„Flieh, verflucht!" brüllte er, bevor ein Elbenpfeil ihn traf. Röchelnd brach er zusammen.
Nazgwen war schneller als die anderen. Sie stieß einen Mann beiseite und hastete von der Straße. Ihr Gedanken rasten. Wohin sollte sie fliehen? Minas Morgul war unmöglich, die Treppe nach Cirith Ungol lächerlich gefährlich und in Richtung Osgiliath erwarteten sie auch keine besseren Voraussetzungen. Ihre einzige Chance lag in den zerklüfteten Spalten des Ephel Duath, dort, wo sie und die Orks gewartete hatten.
Sie stürzte sich zwischen die Felsbrocken und rannte. Ein Pfeil zischte über sie hinweg, ein zweiter traf beinahe ihre Schulter. Dann kam keiner mehr.
Für Sekunden hörte sie nur ihre hastigen Laufschritte. Sie hatte keine Zeit, sich über ihre Lautstärke Gedanken zu machen. Jetzt zählte nur Schnelligkeit.
Sie war eine Elbin, auch wenn sie verletzt war, sie war wendiger und schneller als Elessars Menschen. Sie war kleiner und flinker. Sie würde sogar Legolas abhängen können.
Jedenfalls redete sie sich das ein. Ihr ganzes Sein war beherrscht von dem Gedanken, zu entkommen. Sie musste eine zweite Chance bekommen.
Sie kannte sich hier aus. Nicht lange, und die Gesteinslandschaft würde den Wäldern Ithiliens weichen. Sie kannte den Wald gut. Dort würde sie sich verstecken. Sie hatte es schon einmal getan, als... – Nazgwen schüttelte die alten Erinnerungen ab. Sie zählten jetzt nicht. Sie zählten überhaupt nicht mehr.
Nazgwen lief den ganzen Tag. Gegen Abend hatte sie die Wälder erreicht und war schon weit eingedrungen. Elessars Männer hatten sie nicht erwischt. Sie hatte sie noch mehrere Male gehört, aber sie hatten sie nicht gesehen. Sie hatte es geschafft.
Es war lange her, dass sie hier gewesen war. Damals hatte kaum jemand hier gelebt. Heute hatte Faramir, Truchsess von Gondor hier seine Häuser, zusammen mit seiner Frau Eowyn von Rohan. Nazgwen hatte sie nie gesehen, aber einiges von ihr gehört.
Sie hatte den Hexenkönig vernichtet und damit dazu beigetragen, dass der Ringkrieg von den Menschen gewonnen wurde. Eine Frau, die sich durchgesetzt hatte, der es gelungen war, auf dem Schlachtfeld einen Erfolg zu feiern. Dafür respektierte Nazgwen sie, hasste sie aber für ihren Triumph über den Obersten der Nazgul.
Bilder einer anderen, großen blonden Frau drängten sich ihr auf. Myril. Sie hatte hier gelebt, vor so vielen Jahren. Hier war sie auch gestorben, für Nazgwen. Sie hatte nicht einmal gewusst, wer sie wirklich war. Myril hatte sie als Silmarwen, Vertriebene aus dem Düsterwald, gekannt.
Nazgwen biss sich auf die Lippen. Myril hätte sie verachtet, hätte sie gewusst, was sie schon damals getan hatte. Genug davon.
„Was soll ich tun?" flüsterte Nazgwen leise und legte eine Hand gegen die alte, rissige Rinde eines Baumes. „Ich habe verloren."
Wer hätte gedacht, dass Elessar so stark war?
„Verflucht!" schrie Nazgwen und hielt erschrocken den Atem an. Sie musste ruhig bleiben.
Langsam ließ sie sich auf den Waldboden sinken. Ihre Wunden waren nicht tief, nur ihre Schulter schmerzte stark. Sie brauchte Wasser, um die Wunden zu reinigen.
Still lauschte Nazgwen und bald vernahmen ihre scharfen Ohren das leise Plätschern eines Baches. Langsam stand sie auf und ging dem Geräusch nach, ihre Schulter so ruhig haltend wie möglich.
Bald hatte sie den schmalen Bach erreicht und kniete nieder. Das Wasser war sauber und klar, aber eiskalt. Sorgfältig wusch Nazgwen ihre Verletzungen aus, riss einen Streifen von ihrem Hemd ab, reinigte ihn so gut wie möglich und verband ihre Schulter. Sie konnte nur hoffen, dass die Wunde sich nicht entzündete. Andere Elben kannten diese Sorgen nicht, aber sie – Nazgwen schon den unerwünschten Gedanken beiseite.
Hastig spritzte sie sich das kühle Wasser ins Gesicht. Sie war zwar erschöpft, aber so schnell würde sie nicht aufgeben. Sie musste weiter gehen. Spätestens am nächsten Morgen würde man sie weiter verfolgen. Und Elessar war einer der Dúnedain gewesen, ein Waldläufer, er kannte die Wildnis.
Nazgwen stand auf. Sie würde sich stetig Richtung Norden halten. Vielleicht konnte sie Morannon erreichen, das zerstörte Schwarze Tor. Sie kannte die weit verzweigten Gänge dort, von den Orks in den Fels gegraben wie Maden in Brot.
Der Wald war still, nur manchmal waren die Rufe von Nachtvögeln zu hören.
Nazgwen wanderte lautlos zwischen den Bäumen und sann trübsinnig vor sich hin. Sie hatte ihre Chance vertan. Ihre womöglich einzige Gelegenheit. Sie hatte die letzten kampfwilligen Orks für nichts und wieder nichts geopfert. Sie war zu leichtsinnig gewesen. Sie hatte den übelsten fehler von allen begangen – sie hatte ihre Gegner unterschätzt.
Sie würde nicht einmal fähig sein, sich in Minas Tirith einzuschleichen. Ihre Narben waren unverkennbar, sie würden sie sofort verraten.
Nazgwen wusste, dass sie nur sich selbst die Schuld am misslungenen Überfall geben konnte. Trotz ihrer Wut vergaß sie ihre Vorsicht nicht. Legolas konnte ihr durchaus noch auf den Fersen sein. Anders als den Menschen bereitete ihm die Dunkelheit keine Probleme.
Morgen früh würden auch Elessars Leute hier sein. Nazgwen wusste nicht, ob sie überhaupt eine Chance hatte, zu entkommen.
Sie fluchte innerlich. Sie hatte sich selbst alles zunichte gemacht.
Plötzlich knackte es, als würde jemand auf einen trockenen Ast treten.
Nazgwens Hand fuhr zu ihrem kleinen Dolch. Wachsam huschten ihre Augen umher, aber sie konnte keine Verfolger ausmachen. Sachte drehte sie sich um. Nichts.
Sie zuckte zusammen, als sie eine befehlende Stimme hörte.
„Rühr dich nicht."
Nazgwen kümmerte sich nicht um die Warnung und legte ihre Hand auf den Dolch an ihrem Gürtel. Als Antwort zischte ein schwarzgefiederter Pfeil durch die Luft, dichte an ihrem Arm vorbei. Nazgwen lächelte boshaft. Es musste der Elb sein, ausgerüstet mit Orkpfeilen. Aber er hätte nicht schießen sollen. Jetzt hatte er seinen Standort verraten.
Blitzschnell rannte sie in die Richtung, aus der er geschossen hatte. Einem zweiten Pfeil wich sie instinktiv aus. Dann sah sie ihn.
Der Elb stand neben einem schlanken Baum, einen Pfeil auf der Bogensehne. Er zielte auf ihr Herz.
„Du wirst nicht schießen", stellte Nazgwen langsam fest. „Du hast Skrupel. Ich habe niemanden getötet."
Legolas´ Gesicht war unbewegt. „Du hast den Überfall angeführt und den König von Gondor angegriffen, offensichtlich mit der Absicht, ihn zu töten. Ich habe keine Skrupel."
Nazgwen schüttelte den Kopf. „Du tötest mich nicht. Du tötest keine Frau."
„Nein?" fragte Legolas gleichmütig. „Willst du es darauf ankommen lassen?"
„Vielleicht."
Legolas antwortete nicht.
„Du bist allein. Wo ist Elessar, wo sind seine Männer? Haben sie Angst in der Nacht?"
Wieder erwiderte er nichts, aber seine blauen Augen verdunkelten sich.
„Du weißt, dass du gegen mich nicht gewinnen kannst. Ich bin besser als du."
Er rührte sich nicht, aber sprach endlich. „Du bist verwundet. Du hast keine Aussicht, einen Kampf zu gewinnen."
Nazgwen riss den Dolch hervor, zu schnell für Menschenaugen. Sie wollte ihn auf ihren Feind schleudern, aber er kam ihr zuvor. Ein Zischen, dann traf sein Pfeil ihre verwundete Schulter.
Der Dolch glitt ihr aus der Hand. Fassungslos wandte sie den Kopf und sah den Pfeil in ihrem Fleisch stecken. Sie biss die Zähne zusammen und riss ihn mit einer Bewegung heraus, trotz allem erleichtert, dass er nicht mit Widerhaken bestückt gewesen war.
Dennoch sah sie sofort ein, dass es falsch gewesen war. Dunkles, fast schwarzes Blut sickerte aus der Wunde. Nazgwen presste ihre rechte Hand auf die Schulter und es drang zwischen ihren Fingern hervor.
Fassungslos sah Nazgwen auf. Legolas hatte einen weiteren Pfeil aufgelegt. Ungerührt beobachtete er sie.
Sie verlor zu viel Blut. Erste Schwindel erfassten sie. Schwankend lehnte sie sich gegen einen rissigen Baumstamm. Ihre Welt verschwamm. Verzweifelt blinzelte sie gegen die Dunkelheit an. Sie durfte ihr Bewusstsein nicht verlieren.
Dann wurde alles schwarz.
