Kapitel 4

Eine Welt aus schillernden Farben umgab sie, erstickte sie sie. Verzweifelt rang sie nach Luft. Die Farben verspotteten sie. Sie musste nach oben. Doch die Farben drängten sich aneinander, so weit sie sehen konnte. Wo war die Oberfläche?

Sie trat um sich, drehte sich in der Schwerelosigkeit. Alles sah gleich aus. Sie schrie, aber kein Ton drang aus ihrem Mund. Plötzlich stieg sie auf. Etwas trug sie. Ihr Kopf durchbrach die Oberfläche.

Nazgwen keuchte und riss die Augen auf. Es war dunkel.

Nur langsam traten Umrisse hervor. Nazgwen stellte fest, dass sie auf irgendetwas lag. Es war hart – Holz, ein Brett. Nein, eine Bank. Erst als sie versuchte, sich aufzurichten, bemerkte sie, dass ihre Hände hinter ihrem Rücken gefesselt waren. Fest. Sie spürte ihre Hände kaum.

Endlich konnte Nazgwen Einzelheiten erkennen. Sie befand sich in einem kleinen Zimmer. Die Wände schienen aus Stein zu sein, ein Fenster gab es nicht, nur eine hölzerne Tür.

Mit einigen Schwierigkeiten setzte Nazgwen sich auf und sah sich um. Außer der Bank gab es hier nur einen niedrigen Tisch mit einer gefüllten Schüssel darauf.

Nazgwen spüre, wie trocken ihr Hals war. Sie brauchte Wasser. Als sie aufstand, schoss ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf. Vorsichtig befühlte Nazgwen ihre linke Schulter. Sie war mit einem sauberen Stoff verbunden. Wer hatte das getan? Der Elb?

Sie wankte auf den Tisch zu, sank auf die Knie und trank das lauwarme Wasser aus der Schüssel wie ein Tier.

Als sie ihren Durst halbwegs gestillt hatte, kehrte sie zur Bank zurück, setzte sich und lehnte den Kopf gegen die kühle Wand. Sie dachte nicht einmal an Flucht. Selbst wenn die Tür offen sein sollte, wäre sie nicht einmal in der Lage, die Klinke herunterzudrücken.

Ihr Kopf schmerzte, als würde ständig ein Hammer auf ihn niederfahren. Sie musste gestürzt sein, als sie ohnmächtig geworden war. Vielleicht war sie auf einem Stein gelandet.

Stimmen drangen an ihr Ohr. Sie kamen näher.

Nazgwen horchte angestrengt. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Tür, sie öffnete sich knarrend. Zwei Männer traten ein. Den einen erkannte sie sofort – Elessar. Den zweiten, einen Menschen mit brauen Haaren und sanften Augen, eine Fackel in der Hand, kannte sie nicht.

Elessar trat auf sie zu. „Du bist also endlich aufgewacht."

„Gut beobachtet", murmelte Nazgwen müde. Dann riss sie sich zusammen. Nur keine Schwäche zeigen. „Wo bin ich hier?"

Der andere Mann sprach. „Ich bin Faramir, Fürst von Ithilien, und Ihr seid in meinem Haus."

Abwartend musterte Nazgwen ihn. „Und warum bin ich in Eurem Haus? Ich habe euch nichts getan."

„Aber seinem König", erwiderte Elessar gelassen. „Ich würde vorschlagen, du beantwortest mir jetzt einige Fragen."

Nazgwen lächelte schwach. „Ich glaube nicht."

Elessar ignorierte ihren Einwand. „Wie ist überhaupt dein Name? Woher kommst du?"

„Ich komme aus Mordor."

Er verzog ärgerlich sein Gesicht. „Wo bist du geboren?"

„Oh, das meinst du", sagte Nazgwen überheblich. „Im Düsterwald – nein, er nennt sich jetzt wohl Eryn Lasgalen."

Elessar runzelte die Stirn. „Und dein Name?"

„Nazgwen. Wenn du allerdings wieder meinen Geburtsnamen meinst – früher hieß ich Silmarwen. Eine der sieben Töchter von Aegnor. Im Düsterwald bin ich wohl eine kleine... Berühmtheit."

Er sah ihr nachdenklich ins Gesicht. „Ich habe nie von dir gehört."

Sie lächelte schief. „Da hast du viel verpasst."

„Wie bist du nach Mordor gekommen?"

„Aus verschlungenen Pfaden."

„Das reicht nicht."

„Das ist mir vollkommen gleichgültig."

Elessar beugte sich vor. „Ich frage freundlich. Noch."

Nazgwen schwieg.

„Hast du ernsthaft geglaubt, du könntest Gondor mit dreitausend Orks herausfordern?"

„Eher nicht."

Elessar seufzte.

Plötzlich sah Nazgwen ihn eindringlich an. „Hast du jemals von einem Amulett aus Minas Morgul gehört, kleiner König?" Ihre grauen Augen blitzten.

Elessar erstarrte. Seine Augen maßen sie überrascht. „Woher weißt du davon?"

„Oh, ich kannte einmal neun Ringgeister, vielleicht hast du von ihnen gehört..."

Er schien etwas erwidern zu wollen, aber ein kurzes Klopfen an der Tür hinderte ihn.

„Wer ist da?"

Legolas trat ein und die Falten in Elessars Gesicht glätteten sich. Der Elb musterte Nazgwen prüfend, dann wandte er sich an Elessar. „Hast du sie zum Sprechen gebracht?"

Nazgwen lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge, aber sie zog es vor, den Mund zu halten.

Knapp wiederholte Elessar ihre unzureichenden Antworten. „Weißt du etwas über ihre Geschichte?" fragte er schließlich. „Sagt der Name Silmarwen dir etwas?"

Legolas schwieg eine Weile. „Lasst mich einen Moment mit ihr alleine, Aragorn, Herr Faramir."

Faramir sah ihn zweifelnd an, aber Elessar nickte. Wortlos verließen die beiden Männer den kärglichen Raum.

Zum ersten Mal zeigte sich eine leise Regung im Gesicht des Elben. Wut. „Ich kenne die Geschichte von Aegnor. Er hatte sieben Töchter, und keine machte ihn glücklich. Eine starb bei der Geburt ihres Kindes, zwei wurden von umherstreifenden Orks ermordet. Eine vierte verließ sein Haus und kehrte nie zurück. Die Jüngste tötete ihn und die zwei übrigen Töchter im Schlaf."

Nazgwen erwiderte nichts.

„Du hast mir gesagt, du hast niemanden getötet. Dabei hast du deine eigene Familie auf dem Gewissen."

„Das ist wahr."

Unverblümte Verachtung zeigte sich auf Legolas´ Gesicht und entstellte seine schönen Züge. „Du bist eine feige Mörderin."

Nazgwen schloss die Augen. „Glaubst du?"

„Dafür verdienst du den Tod."

„Das mag sein. Aber ich werde nicht sterben."

Sie hörte, wie Legolas dicht vor die Bank trat. „Sieh mich an."

Sie reagierte nicht.

Er packte ihr Kinn und hob es an. „Sieh mich an!"

Langsam öffnete sie ihre Augen. In denen Legolas´ loderte der Hass. „Warum glaubst du, dass du nicht sterben wirst?"

„Niemand ist fähig, mich zu ermorden."

„Ich könnte dich hier und jetzt töten."

„Aber du tust es nicht." Plötzlich sah sie ihm direkt in die Augen. „Und weißt du auch, warum? Weil du nicht akzeptierst, dass eine von deinem Volk so verdorben ist, wie ich dir erscheine. Du glaubst es nicht. Du glaubst, da wäre etwas... Gutes in mir. Immer noch. Obwohl du weißt, dass ich meine Familie getötet habe."

Legolas ließ ihr Kinn los und wich zurück.

„Du bist selbst ein Mörder."

„Ich?" fragte er überrascht. „Wie kommst du auf den abwegigen Gedanken?"

„Nicht? Du hast im Ringkrieg keinen einzigen Ork getötet? Du erstaunst mich."

Er sah kopfschüttelnd auf sie nieder. „Das ist etwas vollkommen anderes. Sie haben keine Gefühle. Orks sind unsere Gegner. Wir mussten sie töten."

„Und ihr wart ihre Gegner, und sie mussten euch töten", antwortete Nazgwen leise. „Das verstehst du nicht, oder?"

„Nein. Wer hat dir den Sinn verdreht... Sauron hat bei dir wohl viel bewirkt."

„Ich bin so. Er konnte mich nicht verändern."

Eine Weile sah er sie mit unverhülltem Abscheu an, dann wandte er sich um und verließ das Zimmer. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Müde schloss sie ihre Augen. Sie brauchte mehr Schlaf.

Als Nazgwen wieder erwachte, ging es ihr besser. Ihre Schulter pochte immer noch, dafür waren ihren Kopfschmerzen verschwunden und sie fühlte sich frischer.

Wieder recht sicher auf den Beinen stand sie auf und trank die Wasserschüssel fast leer. Plötzlich lächelte sie, drehte sich um und fegte mit ihren zusammengebundenen Händen die Schüssel vom Tisch.

Sie zersprang in tausend Stücke. Nazgwen suchte sich eins, das ausreichend groß war. Mit einiger Mühe hob sie die Scherbe auf und schnitt sich dabei ins Handgelenk. Sie verzog das Gesicht. Wenigstens war die Scherbe scharf genug. Sie klemmte sie zwischen zwei Bretter der Bank, mit der Schneideseite nach oben. Dann kniete sie sich auf die Bank, legte die Fesseln über die Scherbe und begann, ihre Hände vor und zurück zu bewegen. Es funktionierte.

Nach etwa zehn Minuten hatte Nazgwen den Strick durchtrennt. Sie streifte ihn mühsam ab und rieb ihre tauben Hände gegeneinander. Langsam kehrte das Gefühl zurück.

Sie stand auf und suchte sich eine weitere scharfe Scherbe. Vorsichtig presste sie ein Ohr gegen die hölzerne Tür. Draußen ging jemand vorbei.

Nazgwen konnte nur hoffen, dass es nicht Legolas war. Dann schrie sie schrill auf. „Hilfe!"

Die Schritte stoppten. „Hilfe!" schrie sie erneut und röchelte, als würde sie ersticken.

Sie ließ sich mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fallen, sorgfältig darauf bedacht, auf keiner Scherbe zu landen. Als sie den Schlüssel im Schloss hörte, stand sie lautlos wieder auf und stellte sich neben die Tür.

Sie öffnete sich langsam. Ein Mann sah argwöhnisch ins Zimmer. Das Licht vom Gang reichte für seine Augen nicht aus, so dass er ganz eintrat und die Helligkeit ihn etwas sehen ließ.

Misstrauisch suchten seine Augen den Körper, den er gerade fallen gehört hatte, aber da war nichts.

Nazgwen trat hervor und schlitzte die Kehle des Mannes auf. Der Schnitt war tief. Der Mann keuchte entsetzt auf, als warmes rotes Blut hervorsprudelte. Er krächzte hilflos und schwankte.

Nazgwen musste nur warten. Bald stürzte der Mann zu Boden und die umherliegenden Scherben schnitten in sein Gesicht und seine Hände.

„Gut gemacht, mein Lieber", murmelte Nazgwen. Sie ließ ihre provisorische Waffe los und kniete sich neben den Mann. Er war tot.

Eilig öffnete Nazgwen seinen Waffengürtel und legte ihn sich selbst um den Leib. Ein kurzes Schwert und ein Messer. Später würde sie die Waffen genauer untersuchen. Jetzt musste sie sich auf ihre Flucht konzentrieren.

Sie schob ihre Hand in die Taschen des blutverschmierten Umhangs ihres Opfers und fand bald einen kleinen Schlüsselbund. Ihre Hand stieß dabei gegen einen kleinen Beutel in einer Innentasche. Es klirrte. Nazgwen öffnete den Beutel. Darin befanden sich einige Münzen von geringem Wert. Sie steckte sie ein – der Tote würde das Geld kaum mehr brauchen.

Rasch verließ sie das Zimmer und schloss es ab, danach sah sie sich prüfend um. Der Gang hatte nur auf der linken Seite mehrere Türen, die wahrscheinlich ähnliche Zimmer führten wie ihres. Auf der anderen Seite schützte ein niedriges Geländer Vorbeigehende vor einem Sturz nach unten. Nazgwen sah hinab. Ein Innenhof, zehn Schritte lang und breit. Auf der Seite, die ihr gegenüber lag, befand sich ein offenes Tor, das den Blick auf den Wald freigab. Außer zwei Wächtern, die es bewachten, war niemand zu sehen. Die beiden sahen nach draußen.

„Also schön", flüsterte Nazgwen, stieg über das Geländer und sprang. Lautlos landete sie auf den Füßen. Die Wächter hatten sie nicht bemerkt.

Jetzt lag das Tor in die Freiheit genau vor hier. Aber ohne ein Reittier würde sie nicht weit kommen, zumal sie nicht einmal wusste, wo in Ithilien sie war.

Doch direkt hinter ihr führte eine halb offene Tür in einen Raum, aus dem es nach Pferden und Leder roch. Vorsorglich zog Nazgwen das Messer und schob sich in den Stall.

Er umfasste zehn Boxen, aber nur in dreien standen Pferde. Ein schlankes, feuriges Pferd erkannte Nazgwen als das Tier von Legolas.

In der hintersten Ecke führte ein Stallbursche gerade eine kleine ungesattelte Stute in die Box. Er hatte sie nicht gesehen.

„He!" rief Nazgwen leise.

Der Junge fuhr herum und Nazgwens geschleuderter Dolch traf ihn mit voller Wucht in die Brust. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, bevor er zusammenbrach. Nazgwen eilte auf ihn zu und riss das Messer aus seinem Körper. Er stöhnte gepeinigt.

Die Stute tänzelte nervös. Nazgwen packte sie an der Mähne und flüsterte beruhigende Elbenworte. Sie führte das Pferd an die Stalltür und schwang sich auf seinen Rücken.

Behutsam zog sie das Schwert des toten Mannes aus der Scheide.

Dann trieb sie der Stute die Hacken in die Seiten. Sie preschte auf das Tor zum Wald zu, die beiden Männer hörten das Klappern der Hufen auf dem steinernen Boden.

Einer sprang instinktiv aus dem Weg, der andere aber streckte Nazgwen seine Lanze entgegen. Sie beugte sich auf dem Pferderücken vor, schlug seine Waffe beiseite und die Stute trampelte halb über ihn.

Sie rasten durch das Tor hindurch, nach draußen, in die Freiheit – einen sandigen Weg entlang. Er führte nach Norden.

Nazgwen lachte höhnisch. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Es war ihr gelungen, zu fliehen! Sie war frei! Lachend gab sie die Stute die Sporen.

Sie wusste noch nicht, wie sehr sie sich irrte.