Zwei Tage und eine Nacht hatte Nazgwen der zierlichen Stute keine Ruhepause gegönnt. Sie durfte nicht annehmen, dass niemand ihr folgen würde. Sie durfte sich ihre Freiheit jetzt nicht sofort wieder nehmen lassen.
Nach dem ersten Tag hatte Nazgwen die Straße zum Morannon erreicht. Dort blieb sie, alle weiteren Vorsichtsvorkehrungen außer Acht lassend. Sie hatte ihrem Pferd so viel zugemutet, dass ein vielleicht ihr nachgesendeter Bote sie nicht hätte überholen und einen bewaffneten Empfang bereiten konnte.
Jetzt aber war die Stute vollkommen erschöpft. Nazgwen nahm an, dass sie überhaupt keine Gewaltritte gewöhnt war und verfluchte sich dafür, kein kräftigeres, ausdauernderes Tier gestohlen zu haben. Dennoch brauchte auch sie eine Pause. Seit dem Angriff auf Minas Morgul hatte sie nichts mehr gegessen.
Gegen Abend erreichte Nazgwen ein Wirtshaus an der Straße. Einen Moment lang überlegte sie. Natürlich war es nicht besonders klug, als Verfolgte in einem Gasthaus abzusteigen, andererseits benötigte sie wirklich dringend etwas zu essen. Sie würde nur eine Mahlzeit zu sich nehmen und dann weiterreiten.
Ein zahnloser Alter nahm ihr die Stute ab. Nachdem sie ihm ein paar Münzen gegeben hatte, führte er die Stute in einen dunklen Stall neben dem Gasthaus.
Als sie die Tür zur Wirtstube öffnete, rümpfte sie angewidert die Nase. Hier stank es ärger als in Orkhöhlen, nach Schweiß, Bier und verbrauchter Luft.
Noch war die Stube recht leer. Fünf Männer, ihrem Aussehen nach Händler, saßen gemeinsam an einem Tisch und würfelten. Ein Betrunkener saß halb bewusstlos in einer Ecke.
Eine junge, blonde Bedienstete stellte gerade eine Runde Bier auf den Tisch der Händler, als Nazgwen eintrat.
Misstrauisch musterte sie ihre spitze Ohren.
Nazgwen ließ sich an einem Tisch möglichst weit weg von der Tür nieder und bestellte bei dem widerwillig angetänzelten Mädchen Brot und Fleisch.
„Könnt Ihr denn überhaupt bezahlen?" fragte das Mädchen mit einem schiefen Blick.
Nazgwen warf ihr einen bösen Blick zu. Erschrocken verschwand es und kehrte nach einer ganzen Weile mit der Mahlzeit wieder.
Argwöhnisch untersuchte Nazgwen das Fleisch und befand es für genießbar. Tatsächlich schmeckte es nach nichts, sättigte aber zumindest.
Nachdem sie satt war, winkte sie das Mädchen wieder zu sich und forderte ein Bier. Das Gesöff schmeckte noch widerlicher, als sie es in Erinnerung hatte, dämpfte aber auch auf angenehme Weise die Gedanken in ihrem Kopf.
Langsam füllte sich die Gaststube und der Gestank wurde schlimmer. Mehrere Männer holten ihre Pfeifen heraus und rauchte genüsslich. Als zwei ungewaschene Männer, ihrem Geruch nach Pferdehändler, immer wieder zu Nazgwen hinübersahen und sie mit abschätzigen Blicken maßen, beschloss sie, es wäre an der Zeit zu gehen.
Sie winkte der Bediensteten zu, um zu zahlen, aber das Mädchen schien genug mit den anderen Gästen zu tun zu haben.
Ungeduldig stützte Nazgwen ihren Kopf in die Hände und betrachtete gelangweilt die rauchige Stube. Plötzlich zuckte sie zusammen. Jemand war gerade eingetreten und sie erkannte ihn sofort. Legolas. Er war ihr also doch gefolgt.
Suchend sah er sich um, aber vorerst entdeckte er sie nicht. Nervös wartete Nazgwen, bis er sich von der Tür entfernt hatte und am Ausschank mit dem bulligen Wirt sprach.
Rasch stand sie auf und ging zur Tür.
„Halt!" kreischte eine schrille Stimme. Das Mädchen. „Haltet sie auf! Diebin!"
Die Leute drehten sich zu ihr um, auch Legolas. Er lächelte wölfisch, als er sie erkannte. Mit einigen schnellen Schritten war er neben ihr und packte sie am Arm
„Guten Abend, Silmarwen", sagte er spöttisch. „Ich hoffe, du hattest eine gute Reise?"
Nazgwen riss sich los und hätte es vielleicht durch die Tür geschafft. Aber das Mädchen stand ihr im Weg. „Von wegen, du kannst bezahlen!" rief sie anklagend. „So kommst du nicht davon!"
Legolas sah sie unbewegt an. „Wir bleiben noch."
Das Mädchen starrte ihn verblüfft an. „Oh", murmelte sie ergriffen. „Natürlich."
Legolas zog Nazgwen zurück zu ihrem Tisch. Als Nazgwen sich umwandte, sah sie, wie das Mädchen Legolas mit einem verzückten Gesichtsausdruck nachblickte.
„Hast du immer so eine Wirkung auf Menschenmädchen?" fragte Nazgwen spöttisch.
Er drückte sie auf ihren Stuhl nieder und setzte sich ebenfalls. „Ich wusste, dass du nicht weit kommen würdest."
Nazgwen hob die Augenbrauen. „Kluger Bursche."
Wie zufällig spielten ihre Finger mit dem Griff des Dolches. Legolas blieb es nicht verborgen. „Schlag dir das aus dem Kopf. Ich bin dir überlegen."
Nazgwen lachte böse auf. „Wirklich? Das sollten wir besser überprüfen."
Er schwieg.
„Na, schön", lenkte Nazgwen ein und lächelte verbindlich. „Was würde eine vornehme Elbin jetzt sagen? Vielleicht – Welch Zufall, dass wir uns hier treffen! Oder seid Ihr mir etwa gefolgt, Herr Legolas? Doch warum?"
„Ich glaube, diese Frage kannst du dir selbst beantworten."
„Ja, in der Tat. Wie heldenhaft von Euch, diese Verantwortung auf eure Schultern zu nehmen. Nun sagt mir, was habt Ihr jetzt vor?"
Legolas verzog keine Miene. „Ich bringe dich nach Eryn Lasgalen, damit du dort deine gerechte Strafe erhälst."
„Die da wäre?"
„Das wird der Rat entscheiden."
Nazgwen zuckte die Schultern. „Wunderbar. Machen wir also eine Reise nach Hause. Selbstverständlich komme ich ohne Einwände mit."
„Glaub mir, ich werde verhindern, dass du fliehst."
„Aber gewiss."
Die Bedienstete trat an den Tisch und unterbrach den Austausch von Feindseligkeiten. „Sie soll jetzt zahlen!" verlangte sie an Legolas gewandt.
Mit finsterem Blick warf Nazgwen einige Silbermünzen auf den Tisch, die das Mädchen hastig einsteckte.
„Habt Ihr noch ein Zimmer frei, für eine Nacht?" fragte Legolas das Mädchen.
Ein rosa Schimmer legte sich über deren Wangen. „Be... bestimmt", antwortete sie mit zitternder Stimme. „Ja, bestimmt."
Nazgwen lachte wieder. „Bist du denn so müde, Legolas? Nun, dann werde ich eben schon mal vorreiten."
„Nein, das wirst du nicht."
„Wirklich nicht?"
„Nein. Du wirst ebenfalls hier übernachten."
„Ah... Meinst du?"
Legolas meinte, wie Nazgwen feststellen musste. Schon bald rief er das Mädchen zu sich und bat sie, ihnen das Zimmer zu zeigen.
Die Bedienstete führte sie eine schmale, knarrende Treppe in den ersten Stock. Von einem engen Flur gingen einige Zimmer ab und das Mädchen wies auf das nächstbeste.
„Da", murmelte und sah zu Boden.
„Danke", erwiderte Legolas und wartete eine Weile. „Könnt Ihr mir den Schlüssel geben?" fragte er dann.
Das Mädchen lief hellrosa an und stotterte etwas. Dann löste sie mit zitternden Fingern einen Schlüssel von einem Bund, der ihr von der Hüfte hing. Als sie ihn Legolas übergeben wollte, sah sie ihm in die Augen und ihr Gesicht färbte sich noch dunkler.
„Hier, bitte schön", stammelte sie.
„Vielen Dank", sagte Legolas liebenswürdig, als würde er ihre Verlegenheit nicht bemerken.
Das Mädchen räusperte sich. „Ich wünsche Euch eine gute Nacht", brachte sie halbwegs deutlich hervor und floh.
„Wie reizend", stellte Nazgwen fest und beobachtete mit verengten Augen, wie Legolas die Tür aufschloss.
Nachdem sie eingetreten waren, verriegelte Legolas die Tür wieder sorgfältig. Nazgwen bemühte sich, ihn nicht zu beachten und betrachtete stattdessen das Zimmer. Es war klein und nicht besonders gemütlich. Zwei schmale Betten, beide mit einer dünnen grauen Decke ausgestattet, standen einander gegenüber an zwei Wänden, zwischen ihnen stand ein Schemel mit einer Waschschüssel darauf.
„Wirklich wunderhübsch", sagte Nazgwen.
„Du bist mehr Luxus gewöhnt aus Mordor?" fragte Legolas ungerührt.
Nazgwen setzte sich auf eines der Betten. „Aber natürlich. Barad-Dûr war ganz entzückend. Jeden Tag ein warmes Bad und viermal täglich die erlesensten Speisen. Und die Gesellschaft – sie war fabelhaft."
Legolas antwortete nicht.
Nazgwen trat an das einzige Fenster und untersuchte es. Der Holzrahmen war alt und morsch und knarrte laut, als sie das Fenster öffnete.
„Was soll das denn werden?" fragte Legolas.
Mit einem milde erstaunten Gesichtsausdruck drehte Nazgwen sich um. „Ich bereite meine Flucht vor. Ich verschwinde durch das Fenster, sobald du eingeschlafen bist."
Legolas schob sie beiseite und schloss das Fenster nachdrücklich. „Ich werde nicht schlafen."
Nazgwen runzelte die Stirn. „Du reitest drei Tage und schläfst dann nicht?"
Er sah sie direkt an. „Du etwa?"
Nazgwen wandte sich wortlos ab. Sie hätte sich wohl wach halten können, wenn sie dadurch hätte fliehen können. Dieser Möglichkeit beraubt, hätte sie aber nichts lieber getan als zu schlafen. Für Legolas mochte es selbstverständlich sein, tagelang ohne Schlaf auszukommen, für Nazgwen nicht.
Stumm setzte sie sich wieder auf ihr Bett und zog ihre Stiefel aus. Dann legte sie ihren schwarzem Umhang ab und zog die dünne Decke über sich.
„Du willst tatsächlich schlafen?" fragte Legolas argwöhnisch.
„Offensichtlich."
„Warum?"
„Weil ich müde bin, Elb."
„Du hast in Herrn Faramirs Haus lange geschlafen."
„Und jetzt schlafe ich wieder", sagte Nazgwen fest. „Ich wünsche Euch eine gute Nacht", flötete sie im Tonfall des nervösen Mädchens und drehte sich zur Wand.
