Kapitel 4

Chiaki öffnete erst ein, dann das andere Auge und blinzelte erst ein paar Mal, bevor er wieder vollständig in der Realität angekommen war. Wie lange hatte er geschlafen? Ein Blick auf den Digitalwecker, der neben ihm auf dem Nachtschrank stand, beantwortete ihm diese Frage. Es war kurz vor neun. Morgens, versteht sich.

Er drehte sich wieder auf die andere Seite und versuchte noch ein wenig weiterzuschlafen. Irgendwie war er total erledigt. Allerdings hatte er nicht mit dem Duft frisch gebackener Brötchen gerechnet, der ihm plötzlich in die Nase stieg. Schlagartig war Chiaki wach und die restliche Müdigkeit zum Großteil aus seinen Gliedern gewichen. Erst jetzt merkte er, dass sich sein Magen vor Hunger schon schmerzlich bemerkbar machte und ging, der Geruchsspur folgend, in Richtung Küche.

Dort angekommen sah er seinen Lehrer am Ofen herumwerkeln, in den er gerade ein paar Croissants hinein schob, nachdem er die Brötchen aus diesem entfernt hatte. Als Hijiri sich umdrehte, entdeckte er Chiaki und zuckte erste einmal heftig zusammen. Theatralisch fasste er sich ans Herz.

„Junge, hast du mich erschreckt! Kannst du dich nicht bemerkbar machen?"

„Sie sahen gerade so beschäftigt aus. Da wollte ich nicht stören. Nicht, dass Sie vor Schreck noch Bekanntschaft mit dem Glühenden Inneren des Ofens gemacht hätten."

Hijiri schmunzelte leicht, bis ihm ein Gedanke kam.

„Was machst du eigentlich hier? Du gehörst ins Bett! Das hab ich dir gestern schon versucht klar zu machen."

„Ich hatte halt Angst zu verhungern. Schließlich wollten Sie gestern noch einmal vorbeikommen, um mir etwas zu essen zu bringen. Da Sie das aber nicht gemacht haben, bin ich eben heute selbst gekommen, um mir etwas zu holen."

Der Ältere sah ihn erst perplex an, musst dann aber doch schmunzeln.

„Du hast gestern so fest geschlafen, dass ich dich nicht aufwecken wollte. Dafür habe ich heute Morgen extra mehr gemacht."

Er deutete auf die Brötchen auf dem Tisch vor und die Croissants im Ofen hinter sich. Der Jüngere machte bei der Masse große Augen. Da standen doch sage und schreibe zwei riesige gefüllte Brotkörbe!

„Was denken Sie denn, wie viel ich esse? Das reicht ja für zehn Personen!"

„Auf der Packung stand für jeweils drei. Und wie ich an deinem Magen höre, hast du eh Hunger wie ein Wolf."

Wie auf Kommando knurrte Chiakis Bauch ein weiteres Mal. Mist, das war aber auch zu peinlich! Er sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, um dieser unangenehmen Situation zu entfliehen, fand aber auf Anhieb keine. Außerdem hatte er doch ganz schön Appetit. Darum versuchte er sein Schamgefühl einfach zu ignorieren und setzte sich auf einen der Stühle an den Küchentisch. Sein Lehrer sah ihn skeptisch an.

„Leg dich lieber wieder ins Bett. Mit deiner Verletzung ist nicht zu spaßen. Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen."

„Jetzt bin ich schon mal hier, dann bleibe ich auch. Außerdem habe ich keine Lust den ganzen Tag faul herumzuliegen. Da wird man ja irre!"

„Das kann ich verstehen, aber du solltest dich wirklich schonen. Ich fahr dich nach dem Frühstück wieder nach Hause."

Chiaki schreckte kurz zusammen. Nein, er wollte nicht zurück. Irgendwo anders hin, aber bloß nicht wieder zurück! Wer weiß, was dort wieder mit ihr passieren würde. Gut, er konnte es sich schon denken. Und das waren weiß Gott keine schönen Aussichten. Aber er konnte von seinem Lehrer nicht verlangen, dass er ihn hier wohnen ließ. Schließlich war es schon echt nett von ihm gewesen, dass er sich überhaupt um ihn gekümmert hatte. Da musste er ihm nicht noch weiter zur Last fallen. Obwohl, einen Ausweg gab es noch.

„Herr Shikaido? Könnten Sie mich vielleicht in ein Krankenhaus bringen? Es kann sich nämlich keiner um mich kümmern. Mein Vater arbeitet ja den ganzen Tag. Da wäre es wohl besser, wenn ich mich dort auskuriere."

Sein Gegenüber sah ihn misstrauisch an.

„Du willst nicht zurück, was? Das habe ich schon vermutet. Aber wenn das so ist, warum sagst du es dann nicht einfach? Ich denke, wir werden schon eine Lösung finden. Notfalls bleibst du einfach hier, bis es dir wieder besser geht. Und danach sehen wir weiter."

Chiaki sah den Älteren mit großen Augen an. Konnte der Gedanken lesen oder was?

„Woher..."

„Woher ich weiß, dass du nicht nach Hause willst?"

Der Jüngere nickte gespannt.

„Na hör mal. So wie du dich in Widersprüche verstrickst, ist das doch keine Meisterleistung. Erst sagst du, dass du auf keinen Fall ins Krankenhaus möchtest, und dann änderst du deine Meinung schlagartig, als es heißt, dass du nach Hause sollst. Außerdem kann ich dich verstehen. Wenn meine Vermutungen über die Herkunft deiner Blessuren stimmen, dann würde ich an deiner Stelle auch nicht zurück wollen."

Der Blonde sah seinen Lehrer dankbar an. Ganz lag dieser zwar nicht richtig, aber er musste ihm ja auch nicht alles auf die Nase binden. Er hatte erst einmal erreicht was er wollte.

„Ich kann also wirklich hier bleiben?"

„Also eine Woche auf jeden Fall. Bis dahin muss der Verband noch dran bleiben. Am Freitag bring ich dich dann zum Arzt. Dann bist du von diesem Teufelsding erlöst. Leider kann ich dich nicht auf ewig hier behalten. Dafür bin ich leider nicht ausgerüstet."

„Das müssen Sie auch gar nicht! Ich komme dann schon irgendwo anders unter. Wo haben Sie eigentlich letzte Nacht geschlafen. Ich habe ja Ihr Bett besetzt."

„Auf der Couch. Wie gesagt, für solche Fälle bin ich nicht gerüstet."

Chiaki sah seinen Lehrer geschockt an. Da bereitete er dem Anderen schon so viel Stress und beanspruchte ihn in vielerlei Hinsicht und dann schlief dieser auch noch wegen ihm auf der Couch, die garantiert nicht sehr bequem war. Er begann sich immer unwohler in seiner Haut zu fühlen und schrumpfte weiter auf seinem Stuhl zusammen, bis nur noch ein kleines Häufchen Elend übrig blieb.

„Hey, Chiaki. Das muss dir nicht unangenehm sein. Schließlich bist du sozusagen mein Gast. Und der Gast ist König, wie es so schön heißt."

„Aber das hätten Sie doch nicht machen brauchen."

„Ich weiß. Aber ich wollte es nun mal so. Und damit eines klar ist: Die nächsten Tage gehört das Bett dir. Keine Widerrede! Und bitte sag Hijiri zu mir. Wir wohnen jetzt eine Woche zusammen, da musst du mich nicht unbedingt siezen. Privat höre ich lieber ‚du'. Sonst komme ich mir so alt vor."

„Das sind sie ja schließlich auch."

„Pass auf was du sagst, Bürschchen! Ich bin erst 26 und noch höchst fidel! Ich kann es dir gerne beweisen, wenn du willst."

„Nee, lass mal. Schließlich will ich ja nicht, dass du zusammenbrichst."

Mit einem Satz war Hijiri bei dem Jüngeren und hob ihn vom Stuhl. Einen Arm hatte er um dessen Schultern, den anderen unter seine Kniekehlen geschoben und trug ihn so ins Wohnzimmer. Dort angekommen setzte er ihn auf dem Sofa wieder ab und stellte sich mit in die Hüfte gestemmten Armen vor ihm auf.

Alles was Chiaki bei der Aktion herausbrachte, war ein erschrockenes Aufquietschen, als er sich auf einmal auf den Armen seines Lehrers wieder fand. Reflexartig schlang er seine Arme um dessen Nacken und hielt sich so noch als zusätzliche Sicherung an ihm fest. Erst, als er wieder heruntergelassen wurde, löste er sich von ihm. Hijiri lächelte ihn schief an.

„So so, kaum bietet man dir das ‚du' an, wirst du frech. Ich hoffe, ich konnte dir beweisen, dass ich keinesfalls alt und verkalkt bin, sondern es immer noch mit euch jungen Wilden aufnehmen kann."

Chiaki brachte nur ein Nicken zustande. Er war noch immer etwas von dieser Tat eben verwirrt. Vor allem aber, wegen dem Kribbeln in seinem Bauch, das er gespürt hatte, als er sich so nahe an den Anderen geklammert hatte. So ganz konnte er seine Gefühle nicht verstehen. Es war ihm irgendwie nicht unangenehm gewesen, dabei hatte er schon weiß Gott genug durchgemacht, als dass er einfach so jemandem vertrauen könnte. Aber bei Hijiri war das irgendwie etwas Anderes.

Er schluckte einmal kräftig, um den Kloß wieder aus seinem Hals loszuwerden. Dann setzte er ein freches Grinsen auf.

„Okay, ich glaube dir… vorerst. Aber um mich vollends zu überzeugen, musst du dir schon etwas mehr einfallen lassen, als eine sture Gewichtsübung. Das kann ja sogar mein Opa." Hijiri grinste zurück und stiefelte wieder in die Küche, um nun endlich das Frühstück vorzubereiten. Auf dem weg ließ er noch ein: „Wie du meinst. Wenn die Zeit reif ist, werde ich es dir gerne beweisen", verlauten, ehe er sich an die Arbeit machte.

Nach einer Weile kehrte er mit einem voll beladenen Tablett wieder und machte es sich neben Chiaki bequem. Dieser griff auch sogleich nach einem der Brötchen, beschmierte es mit Marmelade und biss herzhaft hinein. Sein Lehrer tat es ihm gleich. Zwei Brötchen später machte Chiaki erst einmal eine Pause, um etwas zu trinken und das Essen ein wenig sacken zu lassen. Er schielte zu Hijiri herüber, was dieser auch prompt bemerkte und ihn fragend ansah.

„Warum kümmerst du dich eigentlich so um mich? Und warum bist du so nett zu mir? In der Schule hatte ich immer den Eindruck, als könntest du mich absolut nicht ausstehen."

„Ich mache mir nun mal Sorgen um dich. Außerdem habe ich dir doch versprochen, dass ich dir helfen werde. Und ich gebe zu, dass ich mich in der Schule anders verhalte, als privat. Anders kann man sich nun mal schlecht durchsetzen. Mit der ‚Ich-bin-der-nette-Lehrer-von-nebenan' Nummer kommt man heute nun mal nicht mehr soweit. Das habe ich während meiner Zeit als Referendar vor zwei Jahren gelernt."

„Aha."

Chiaki setzte sein Frühstück wieder fort und Hijiri folgte seinem Beispiel. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und für eine kurze Zeit herrschte außer ein paar Essgeräuschen absolute Stille. Vor allem der Jüngere schien leicht abgedriftet zu sein. Er starrte vor sich hin und schaufelte die Brötchen nur so in sich rein, ohne wirklich zu merken, was er da tat. Er hatte Hijiri anscheinend vollkommen falsch eingeschätzt. Er war kein arrogantes Arschloch, so wie er sich im Unterricht manchmal, zumindest ihm gegenüber verhielt, sondern eigentlich ein ganz netter Kerl. Sogar ein ziemlich netter. Wenn er sich mal durch den Kopf gehen ließ, was er schon alles für ihn gatan hatte. Er hatte ihm Nachhilfe angeboten, sich um ihn gesorgt, als ihn sein Vater vor der Schule geschlagen hatte und nun erlaubte er ihm sogar, kurzzeitig bei ihm zu wohnen.

Hijiri hatte die geistige Abwesenheit des Jüngeren bemerkt, ließ ihn allerdings erst einmal in Ruhe. Nach einiger Zeit, indem er darauf gewartet hatte, dass Chiaki wieder aus seiner Gedankenwelt zurückkehrte, damit er abräumen konnte, und er keine Regung des Anderen feststellen konnte, fasste er ihn sanft an der Schulter und schüttelte ihn leicht.

„Hey, Chiaki? Jemand zu Hause? Ich würde gerne die Reste unseres Frühstücks beseitigen. Allerdings müsstest du mir dazu den Teller und deine Tasse geben, die du noch in der Hand hältst."

Angesprochener sah kurz etwas verwirrt auf, nickte dann aber und gab sein Geschirr dem Älteren. Dieser wollte gerade wieder alles in die Küche zurückbringen, als er von Chiakis Hand an seinem Hemdärmel daran gehindert wurde. Etwas verwirrt blickte er auf diesen herunter.

Chiaki selbst musste sich erst einmal sammeln. Das, was er vorhatte, hatte er schon jahrelang nicht mehr getan. Schon gar nicht, bei einem noch ziemlich Unbekannten. Warum sollte er auch. Dafür gab es auch nur wenige Gründe, warum er es hätte tun sollen. Er überwand sich schließlich doch, sah seinem Lehrer allerdings nicht in die Augen.

„Danke, Hijiri. Für alles."

Dieser lächelte Chiaki nur lieb und verständnisvoll an. Er konnte sich schon denken, wie schwer es dem Jungen fiel, sich bei ihm für etwas zu bedanken. Von Haus aus gab es da sicherlich nicht viel, wofür er das tun könnte. Außerdem war er eher ein Einzelgänger, sodass für ihn zwischenmenschlicher Kontakt wohl auch nicht so selbstverständlich war. Also war das schon so etwas wie ein kleiner Vertrauensbeweis an ihn. Und irgendwie war er stolz darauf, dass der Kleine ihm vertraute.

„Ist schon gut. Mach ich doch gerne. Und jetzt leg dich am besten wieder hin. Du siehst noch ziemlich mitgenommen aus."

Chiaki nickte nur. Er fühlte sich wirklich noch etwas schlapp. Während sich Hijiri auf den Weg in die Küche machte, ging er also wieder ins Schlafzimmer und kroch ins Bett. Kaum hatte er sich eingekuschelt, fiel er auch schon in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Und noch mal ein herzliches Dankeschön an meine beiden Reviewer black- Heart und Traumschatten. knuddel

Auf bald

Eure hoppel

„Das Leben ist das, was uns zustößt,

während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben."
Henry Miller (1891-1980)