Nick setzte Grace vor Joshs Haus ab. Er verabschiedete sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er hatte jedes Mal Angst, wenn er nicht mit ihr zusammen war.
Als er endlich weg fuhr, wartete Grace noch fünf Minuten und ging zur nächsten Bushaltestelle.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, also rief sie Josh an. Sie musste unbedingt mit ihm reden.
Josh ging erst nach dem sechsten Klingeln an sein Handy. Als er sich endlich meldete meckerte Grace ihn an: „Brauchst du immer so lange um an dein Telefon zu gehen?"
Josh wusste sofort, wer da war. „Nett auch dich zu sprechen, Miss Stokes."
Grace atmete tief durch. Es war nicht gerade höflich gewesen ihn in so einem Ton zu begrüßen.
„Entschuldige, Josh. Es ist nur, dass ich meinen Dad belogen habe und ich zu einem Mann fahre, von dem ich nicht mal weiß, ob er mit mir redet.", erwiderte Grace schon in einem viel ruhigeren Ton.
„Schon gut, Gracie. Soll ich nicht doch mitkommen?", fragte Josh.
Grace schüttelte den Kopf, erst danach fiel ihr auf, dass Josh das gar nicht sehen konnte. „Nein, ich mach das schon."
„Okay.", antwortete Josh leise. „Sag bescheid, wenn du Hilfe brauchst."
Grace erwiderte: „Danke." Dann legte sie auf. Jetzt war sie breit den nächsten Schritt zu tun. Sie war gespannt, wo er sie hinführen würde.
Die Zugfahrt nach Henderson dauerte eine Ewigkeit. Grace versuchte sich zu beruhigen, doch je näher sie ihrem Ziel kam, desto aufgeregter wurde sie.
Die Tatsache, dass Josh ihr den Rücken zu Hause freihalten würde ließ sie wenigstens ein bisschen zu Ruhe kommen.
Sie hatte ihren Aufenthalt in Henderson sehr genau geplant. Sie hatte schon letzte Wochen ein Zimmer in einem Hotel gebucht und sich den Weg zur Universität genau herausgesucht. Es konnte gar nichts mehr schief gehen.
Aber natürlich glaubte sie erst daran, wenn alles so klappen würde, wie sie es geplant hatte. Sie war die Tochter zweier Wissenschaftler, also erwartete sie alles. Und glaubte etwas erst, wenn sie es gesehen hatte.
Der Zug hielt und sie schnappte sich den nächsten Bus zum Hotel. Sie checkte schnell ein und ordnete ihre Sachen. Sie hatte drei Tage, um etwas über ihre Mutter herauszufinden. Heute Abend würde sie die Universität besuchen.
Zu diesem Zweck hatte sie ihre schönsten Kleidungsstücke herausgesucht. Nur wusste sie nicht, was sie mit ihren Haaren machen sollte. Sie hasste ihre Locken. Es gefiel ihr nicht, dass sie so durcheinander waren.
Sie wusste nicht, dass ihre Mutter immer dasselbe Problem gehabt hatte. Den Nachmittag verbrachte sie damit, sich die Stadt anzusehen. Es war schön hier. Sie kaufte ein Geschenk für Josh.
Als es dunkel wurde, ging sie zur Universität. Josh hatte vor vier Tagen den Stundenplan für sie in Erfahrung gebracht. Grissom hatte in zehn Minuten ein Seminar. Sie wollte ihn danach abfangen.
In der Universität war ziemlich leer. Nur in den Gängen waren ein paar Studenten. Grace fühlte sich wohl in diesen Hallen. Sie hatte nur etwas Angst, weil sie nicht wusste, was gleich passieren würde.
Sie brauchte eine Weile, bis sie den richtigen Raum gefunden hatte.
Grace betrat leise den Hörsaal. Als sie den Professor erblickte, kam ein Schwall von Erinnerungen. Sie hatte irgendwie Angst vor ihnen. Als sie dir Tür hinter sich schloss und schnell auf einen der Stühle platz nahm, drang die Stimme des Professors an ihr Ohr.
„…also, auch wenn, wir uns mit dem Wie beschäftigen, dürfen Sie niemals vergessen, dass das Warum, in den Augen der Täter, die wichtigste Rolle spielt."
Sein Schlusswort wurde vom Geräusch der Klingel untermauert. Grace war aufgeregt und überlegte schon, ob sie nicht lieber wieder gehen sollte.
Doch sie wollte nicht. Sie hatte es so weit geschafft. Und sie würde jetzt bestimmt nicht aufgeben.
Sie wartet bis alle Stundenten aus dem Saal verschwunden waren. Der Professor suchte noch seine Sachen zusammen. Er bemerkte sie gar nicht.
Grace ging langsam zum Pult. Erst jetzt konnte sie die Sachen auf der Tafel erkennen. Es waren Dinge, die ihr Vater ihr schon vor einiger Zeit beigebracht hatte. Analyse von Blutspritzern.
Sie blieb einen Moment ruhig neben dem Pult stehen. Sie musste sich erst sammeln.
Sie räusperte sich. „Dr. Gilbert Grissom, kann ich Sie einen Moment sprechen?", fragte sie schüchtern.
Endlich blickte der Professor auf. „Wenn es um die Semesterarbeit geht, Sprechstunde ist dienstags und donnerstags zwischen drei und sechs."
Grace schüttelte mit dem Kopf, dabei tanzten ihre Locken hin und her. „Nein, deswegen bin ich nicht hier."
Dr. Grissom nahm seine Aktentasche. „Weswegen dann?"
Grace atmete erneut tief durch, bevor sie sagte: „Ich bin Grace Stokes und ich…"
Dr. Grissom unterbrach sie. „Saras Tochter."
Grace blickte ihn an. Sie hatte tatsächlich den richtigen Menschen gefunden. Ihre Kehle wurde trocken. „Ja, ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen… über…meine Mom."
„Weiß dein Vater, dass du hier bist?", fragte Dr. Grissom und fing an zum Ausgang zu gehen.
Grace folgte ihm. „Nein, das muss er auch nicht. Beantworten Sie mir meine Fragen?"
Dr. Grissom drehte sich zu ihr um. „Nein, du solltest die Vergangenheit ruhen lassen."
„Ich kann nicht. Es ist meine Vergangenheit.", antwortete Grace und blieb stehen. Sie konnte nicht weitergehen.
Der Professor drehte sich wieder um und ging zur Tür. Er war schon fast angekommen, als er hörte wie Grace sagte: „Ich kann mich noch an Sie erinnern."
Dr. Grissom blieb abrupt stehen und drehte sich wieder um. Grace fuhr fort: „In der Nacht, als meine Mom starb, war Dad nicht da und Sie haben mich die ganze Zeit auf dem Arm gehabt. Ich weiß noch, wie Sie mir übers Haar gestrichen haben, als ich nicht aufgehört habe zu weinen. Sie flüsterten Dein Daddy kommt gleich, mein Engel´."
„Du hast immer gesagt Mommy kommt doch gleich wieder, Grissom, oder? Sie muss mir doch noch Der Zauberer von Oz zu Ende vorlesen.", erzählte Grissom.
Grace weinte. Sie griff in ihre Tasche und holte das Buch heraus. Es war die Originalausgabe. Das Lesezeichen war noch an derselben Stelle, wo ihre Mutter aufgehört hatte zu lesen. Grace hatte es nie zu Ende gelesen.
„Ich denke, wir sollten uns unterhalten. Ich lade dich auf einen Kaffee ein.", sagte Grissom und ging wieder einen Schritt auf sie zu.
Grace wischte sich die Tränen weg. „Okay."
„Ach, und nenn mich einfach Grissom, das hast du immer getan." Grissom lächelte sie an. Ihm fiel auf, wie viel sie mit ihrer Mutter gemeinsam hatte.
Grace deutete auf einen Teil der Tafel, an dem Fotos hingen. „Ähm, Grissom, hast du das gemacht?"
„Nein, das war einer meiner Studenten. Ich muss es noch nachgucken.", sagte er.
Grace nickte. Sie zeigte auf das letzte Foto an der Tafel. „Gut, denn das da sind keine Hochgeschwindigkeitsspritzer."
Grissom musste lächeln. Sie hatte wirklich viel von ihrer Mutter.
„Darf ich dich etwas Persönliches fragen?" Grace saß Grissom in einem kleinen Café gegenüber und wartete auf ihre Bestellung.
Grissom war es unangenehm persönliche Fragen zu beantworten, doch als er in Graces Augen sah, nickte er. Er konnte diesen Augen einfach nichts abschlagen. Es waren Saras.
„Warum hast du das CSI verlassen?"
Grissom kam sofort ein Satz, den er Gracies Mutter vor so vielen Jahren gesagt hatte, in den Kopf: Wir begegnen täglich Menschen am schlimmsten Tag ihres Lebens.
Er sagte ihr die Wahrheit, die hatte sie verdient.
„Als CSI stehst du manchmal vor der unangenehmen Situation den Menschen zu sagen, dass sie den einzigen Menschen verloren haben, der ihnen etwas bedeutet."
Die Kellnerin kam und brachte das Essen. Als sie wieder weg war, fuhr Grissom fort: „In der Nacht, als deine Mutter starb und dein Vater im Flugzeug saß, hatte ich nur einen Gedanken, wie sage ich es ihm?"
Grace blickte ihn an. Sie hatte nie gewusst, warum ihr Vater zu diesem Zeitpunkt nicht da gewesen war. Sie beschloss, dass es jetzt der richtige Zeitpunkt war es in Erfahrung zu bringen.
„Wo wollte Dad hin?", ihre Stimme war ein einziges Flüstern.
Grissom runzelte die Stirn. „Dein Dad kam von einer Konferenz in Washington wieder. Deine Mom war auf dem Weg zum Flughafen, als sie starb."
Grace schluckte schwer. Das hatte sie nicht gewusst. Sie brauchte einen Augenblick um ihre Gedanken zu ordnen, dann fiel ihr wieder ein, dass Grissom noch nicht auf ihre Frage geantwortet hatte. Warum hatte er aufgehört.
Grissom sah ihr ins Gesicht. Er wusste, dass sie immer noch wissen wollte, warum er aufgehört hatte. Also sagte er: „Dein Dad kam im Krankenhaus an. Es hatte Stunden gedauert. Du warst auf meinem Arm eingeschlafen und Catherine kümmerte sich um die Formalitäten. Als Nick dann vor mir stand und fragte, was passiert sei, wusste ich nicht, was ich antworten sollte."
Grace spielte nervös mit ihren Ringen an der Hand. Sie war gespannt, was Grissom ihrem Dad gesagt hatte.
Ohne das Grace fragen musste, was geschehen war, sagte Grissom: „Ich konnte ihm nicht sagen, dass der Mensch, den er am Meisten auf der Welt liebte gestorben war, weil irgend so ein betrunkener Teenager eine Spritztour mit dem Auto seines Vater gemacht hat."
Er bekam Tränen in den Augen und als er Grace anblickte, konnte er sehen, dass es ihr genauso erging. Er fuhr trotzdem fort: „Also sagte ich gar nichts. Mir fehlten einfach die Worten."
Es war für einige Momente still am Tisch. Niemand wagte es ein Wort zu sagen. Doch dann war Graces Neugier größer. „Wie hat er es erfahren?"
„Catherine hat es ihm gesagt.", seine Stimme war kaum zu hören.
Wieder war es still. Grace nahm ein Happen von ihrem Essen, obwohl sie keinen Hunger hatte, aber sie musste sich irgendwie beschäftigen. Nach einer Weile sagte sie: „Weißt du, was das wirklich Tragische an der ganzen Sache ist?"
Grissom blickte sie an. Er wusste nicht, was er sagen sollte, also schüttelte er nur seinen Kopf.
„Das mein Dad niemals die Gelegenheit hatte sich von Mom zu verabschieden."
Grissom runzelte die Stirn. „Aber deine Mom hat deinem Vater eine Brief geschrieben, als sie im Sterben lag."
„Was ist das?", fragte Nick. Er konnte Gracie nicht loslassen. Sie war jetzt alles, was ihm noch geblieben war.
„Ein Brief. Sara hat ihn mir geben. Sie wollte dir noch so viel sagen."
Nick strich kurz über das Haar seiner Tochter, bevor er den Brief entgegen nahm.
„Sie hat versucht zu kämpfen, aber sie konnte nicht mehr.", sagte Grissom leise. Er bewunderte insgeheim, wie Sara versucht hatte am Leben zu bleiben… für Nick.
„Danke."
Grace sah ihn erstaunt an. Das hatte sie nicht gewusst.
