Draco stand stumm neben seiner Mutter und schaute Lucius hinterher, der kurz darauf im Nebel verschwand. Die Umgebung veränderte sich, Draco stand im Zaubereiministerium und sah seinen Vater mit Potter kämpfen. Lucius war stärker, er würde gewinnen, dessen war sich Draco gewiss. Da tauchte plötzlich Dumbledore aus dem Nichts auf und eilte seinem Schützling zu Hilfe. Lucius unterlag den beiden… sie lachten ihn hämisch aus. Die Umgebung veränderte sich erneut und Draco sah seinen Vater in den finsteren Gemäuern Askabans leiden. Draco wollte nach ihm schreien, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er musste zusehen, wie sein Vater langsam den Verstand verlor, wie er lebend verrottete… Draco konnte nicht wegsehen, er konnte nicht weghören, er konnte nicht weg. Er litt mit seinem Vater und stumme Tränen liefen über seine Wangen. Er hasst Potter dafür! Er hasst Dumbledore dafür! Dann endlich hörte es auf und er fand sich in Hogwarts wieder. Er lag am Boden und blutete fürchterlich. Potter stand lachend neben ihm und zwirbelte seinen Zauberstab in den Händen umher. „STIRB, MALFOY, STIRB!" Er starb nicht. Plötzlich stand er auf einem hohen Turm und hatte seinen Zauberstab direkt auf Dumbledores Herz gerichtet, aber er zögerte zu lange. Dumbledore verwandelte sich in Voldemort. Er war zornig und bestrafte Draco, er quälte ihn, folterte ihn…

Draco schlug seine Augen auf. Starr blieb er einen Moment auf dem Rücken liegen und realisierte, dass er bloß geträumt hatte. Er schwitze und atmete schwer.

Wie spät war es? Er sah auf die Nachttischuhr. 6 Uhr morgens.

Langsam stand er auf und ging in sein Badezimmer, das man nur durch das Schlafzimmer erreichen konnte. Er wusch sein Gesicht mit eiskaltem Wasser, damit er wieder einen klareren Gedanken fassen konnte.

Er musterte sein blasses Spiegelbild und sah einen verstörten, zitternden Jungen von 17 Jahren. War das ein Malfoy?

Nein, hörte er Lucius' Stimme in seinem Kopf sagen, Du musst Haltung bewahren – immer!

Das versuche ich ja, aber ich kann nicht, es ist zu schwer…

Draco ging zurück ins Schlafzimmer und trat auf die große Terrasse ins noch schwache Sonnenlicht hinaus. Er atmete die kühle, frische Morgenluft tief ein, lehnte sich gegen die steinerne Brüstung und sah in den perfekten Garten von Malfoy Manor.

Jede Nacht, seitdem er von Hogwarts geflüchtet war, verfolgte ihn derselbe Traum. Voldemort, Dumbledore, Potter – er hasste sie alle und ihren zerstörerischen Krieg.

Seinen Vater aber liebte er…

Die Malfoys besaßen die Gabe nicht, ihre Gefühle andern offenbaren zu können. Draco wusste, dass sein Vater ihn genauso liebte, auch wenn er es nie ausgesprochen hatte, Draco wusste es ohne jeden Zweifel. Zwar hatte Lucius stets sehr hohe Ansprüche an seinen Sohn gestellt und ihn auch des Öfteren getadelt, wenn Draco ihn enttäuscht hatte (was leider viel zu oft der Fall gewesen war), aber er hatte ihn sein ganzes Leben lang verwöhnt und beschützt. Draco hatte immer das bekommen, was er wollte. Lucius hatte ihm und Slytherins Quidditch-Mannschaft neue Besen geschenkt und Draco somit in die Hausmannschaft gekauft. Der Hippogreif Seidenschnabel war seinetwegen hingerichtet worden. Immer wenn Draco in Schwierigkeiten geraten war, spürte er eine warme Hand auf seiner Schulter, die ihn väterlich drückte.

Jetzt war er allein und auf sich gestellt. Ihm wurde jedes Mal schlecht bei diesem Gedanken.

Lucius und Draco hatten nie über ihre Gefühle gesprochen, etwas, dass Draco jetzt gerne nachgeholt hätte, jetzt, da es zu spät war. Er würde seinen Vater, zu dem er stets aufgeblickt hatte, nie wieder sehen. Wie oft hatte Draco im vergangenen Jahr, wenn er alleine gewesen war, wegen dieser schmerzlichen Tatsache geweint.

Potter hatte seine Familie zerstört. Draco hasste Potter dafür. Er hasste ihn abgrundtief für das, was er seiner Familie angetan hatte.

Doch in seinem Innersten wusste er, dass all das Unglück seiner Familie letztendlich in Voldemorts Schuld lag. Doch ihn fürchtete Draco zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren.

Draco stand auf keiner Seite. Natürlich hatte er seine Prinzipien, die sich auch nie ändern würden; etwa, dass reines Zaubererblut durch seine Adern floss und dass Muggelgeborene in seinen Augen minderwertiger waren. Aber er wollte sich deshalb keinem schwarzen Lord unterwerfen und für ihn morden. Er wollte einfach leben und die Menschen um sich haben, die er liebte. Aber das würde ein Wunsch bleiben, solange Voldemort an der Macht war.

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Am nächsten Morgen überbrachte die große Adlereule der Malfoys Draco einen Brief von Hogwarts. Er wusste beim besten Willen nicht, was darin stehen könnte. Wohl kaum eine Liste mit den neuen Schulbüchern, dafür war es noch viel zu früh. Er hatte ohnehin nicht vorgehabt, jemals wieder nach Hogwarts zurück zu kehren, nicht nach dem, was geschehen war. Mit einem unguten Gefühl im Magen öffnete er den Brief:

Sehr geehrter Mr. Malfoy,
Aufgrund des Todesfalles unseres Schulleiters, Albus Dumbledore, bleibt Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei, auf unbekannte Zeit geschlossen. Das Zaubereiministerium hat Hogwarts zu keinem sicheren Ort mehr für junge Hexen und Zauberer erklärt.
Ich bitte um Ihr Verständnis und wünsche Ihnen auf Ihrem weiteren Weg alles Gute. Über eine allfällige Wiedereröffnung werde ich Sie umgehend in Kenntnis setzen.

Mit freundlichen Grüßen

Minerva McGonagall
Stellvertretende Schulleiterin

Hogwarts gab es also nicht mehr – zumindest vorübergehend. Er, Draco Malfoy, war schuld daran. Hätte er nicht –

Nein, er wollte sich keine Vorwürfe mehr machen. Er hatte keine Kraft mehr, er hatte es satt.

Eines stand jedoch fest; er würde Hogwarts sehr vermissen, denn er hatte dort (abgesehen vom letzten Jahr) eine schöne und unbekümmerte Zeit verbracht.

Nach dem Frühstück beschloss er, im unterirdischen Hallenbad des Anwesens (da es draußen regnete) ein paar Längen zu schwimmen. Bevor er in das glitzernde, warme Wasser tauchte, musterte er die Narbe, die sich quer über seinen Oberkörper zog. Sie würde für immer bleiben und ihn stets an das Gefühl erinnern, dem Tod direkt ins Auge zu blicken.

Während er schwamm, drehten sich seine Gedanken komischerweise um ein Mädchen. Jenes nämlich, das er vor zwei Tagen getroffen hatte. Er fragte sich, wer sie eigentlich war, woher sie kam, weshalb er sie nie in Hogwarts gesehen hatte und ob es nicht eine Dummheit gewesen war, ihr so viel von seinem Auftrag zu erzählen.

Draco hatte in letzter Zeit öfters an Nyah gedacht, als ihm lieb war. Sie war so mysteriös und geheimnisvoll… und so schön.

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Auch dieser Tag verging, ohne dass noch etwas Interessantes passiert wäre. Erst am darauf folgenden Morgen hatte Narzissa ihrem Sohn eine wichtige Mitteilung zu machen. Sie saßen gemeinsam beim Frühstück, als sie sagte: „Meine Schwester Bellatrix wird heute zum Dinner kommen."

„Ach?", erwiderte Draco überrascht und hob die Augenbraue, genau wie Lucius es immer getan hatte.

Narzissa wandte den Blick rasch auf ihren Teller und schluckte; wie sehr ihr Sohn sie doch an den jungen Lucius erinnerte, in den sie sich einst verliebt hatte.

„Und was ist der Grund für ihren Besuch?", wollte Draco wissen.

„Sie bringt ihre Nichte mit." (Draco, der gerade ein Glas Karambolasaft an seinen Mund führte, hielt mitten in der Bewegung Inne.) „Mit uns ist sie allerdings nicht verwandt, aber ich freue mich, sie kennen zu lernen. Sie wird vorübergehend bei uns wohnen."

Jetzt verschluckte sich Draco. Bei uns wohnen! Er hustete und würgte.

Seine Mutter sah ihn besorgt an. „Ist alles in Ordnung mit dir, Draco?"

„Ja.", krächzte Draco mühevoll. „Ist ihr Name etwa Nyah?"

„Ja so heißt sie. Kennst du sie denn schon?"

Draco erholte sich allmählich und konnte wieder atmen. „Wir sind uns neulich im Pedigreed über den Weg gelaufen."

„Oh, ich hoffe, ihr habt euch gut verstanden. Ich persönlich habe nichts gegen etwas mehr Leben in diesem Haus. Es ist so leer geworden seit…"

Beide starrten betrübt auf ihre Teller und schwiegen, denn keiner wollte im Moment über dieses schmerzliche Thema sprechen.

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Der Abend rückte näher und Draco zog einen seiner besten Umhänge an. Die Tatsache, dass Nyah Lestrange in Malfoy Manor einzog, beschäftigte ihn so sehr, dass es ihn gänzlich von seinen andern trüben Gedanken ablenkte. Weder seine Mutter noch er wussten genau, weshalb sie bei ihnen wohnen wollte. Sie würden es jedoch bald von ihr erfahren.

Seltsamerweise legte Draco diesmal sehr großen Wert auf sein Aussehen, aber er konnte sich dieses Bedürfnis selbst nicht erklären; es war einfach da.

Draco hörte die große Uhr unten in der Eingangshalle Sieben schlagen; kurz darauf klingelte es an der Tür.

Hastig eilte er aus seinem Zimmer und stieg die große Treppe in die Eingangshalle hinunter. Dort standen bereits drei dunkel gekleidete Gestalten: Narzissa, Bellatrix – und Nyah.

Ihre Blicke trafen sich – Nyah feixte, Dracos Miene blieb steinern. Aber in ihm ging etwas vor sich, dass er sich nicht erklären konnte.