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part V w i r e

{Tsukiyono}

Die Welt um mich herum war nicht mehr dieselbe. Aber was hatte ich denn anderes erwartet? Zum ersten mal in meinem Leben war ich richtig glücklich, noch in die Schule zu gehen. So hatte ich wenigstens noch etwas Zeit, um mir wegen dem Junkie/Prodigy etwas auszudenken. Meine Gnadenfrist. Meine ganz persönliche Gnadenfrist...

Ich hatte nicht gefrühstückt, als ich schließlich meine Tasche packte und aus der Hintertür des Blumengartens preschte. Im Prinzip war ich heute sehr früh dran und hätte noch gemütlich frühstücken können. Aber ich gab alles darum, Aya nicht in die Augen sehen zu müssen. Oder Yohji! Mein Magen drehte sich um, als ich an Kenken dachte... Kenken... Bei ihm war es noch etwas ganz anderes gewesen, mit Prodigy zu... Ich schluckte. Sobald ich seine schokoladenbraunen Augen wieder im Geiste vor mir sah, ging es mir noch schlechter. Hatte ich Weiß nicht belügen wollen – bei Kenken brach es mir beinahe das Herz. Ich beschloss, ihm, wie den anderen, aus dem Weg zu gehen und nach der Schule erst einmal in das schulische PC-Kabinett zu gehen.

Stunden vergingen. Hatte ich sonst auch nie mitgemacht in der Schule, heute war es noch extremer. Einige Jungen in meiner Klasse schenkten mir leicht überraschte Blicke, wenn ich wütende Kommentare abließ, und einige der Mädchen schienen sich gar nicht mal mehr zu getrauen mich anzusprechen oder mich auch nur anzusehen. So blieb es alles in allem ein sehr leiser Vormittag und auch später änderte sich meine miserable Laune nicht.

Endlich war ich wieder allein. Allein zwischen Zahlen, Zeichen und Sprachen, die niemand sprach und niemals jemand sprechen würde, endlich wieder alleine in einer Datenflut, die nur ich beherrschen konnte, endlich wieder... vergessen.

one step closer

Ich wusste nicht genau, was ich da eigentlich tat Ich hackte mich in eine Reihe von Privatcomputern ein und spionierte, ohne richtig dabei zu sein. Ich injizierte Viren, löschte Daten und schrieb ganze Software um.

Stunden vergingen.

Ich hatte mich bereits in einen neuen PC eingehackt und sah mir gerade die höchst interessante, meist selbstgeschriebene Software an, überlegte ob ich sie mir klauen sollte und bemerkte neben bei einige nicht schlechte Hacker-Warnsysteme, die mir aber nichts antun konnten.

Wer oder was auch immer der Benutzer des Xantia 2000 war, er musste entweder selbst ein Hacker sein... oder ein Netz-Cop. In beiden Fällen fand ich es jedenfalls höchst interessant und spannend, mir soviel wie möglich zu klauen. Nach einer Weile, ich war gerade auf Kosten des anderen ins Internet gegangen, musste er mich entdeckt haben. Eine letzte Warnung blinkte hysterisch auf:

::forbidden area:: ::system interrupted::

Dann kickte mich das System raus, noch ehe ich etwas unternehmen konnte und plötzlich umhüllte mich Schwärze. Ich war vor Schreck mit dem Stuhl umgefallen und stand gerade so schnell e s ging wieder auf. Ich sah mich um. Ich war alleine im PC-Kabinett gewesen.

Schwärze. Ich sah nicht einmal mehr die Hand vor Augen... Mein Atem ging heftiger. Wie hatte der Kerl es geschafft, nicht nur mich, sondern auch den Strom flachzulegen?? Es vergingen einige Minuten, meine Augen hatten sich noch immer nicht an die Dunkelheit gewöhnt, die in solch kompakter Form über mich hereingebrochen war, dass mir die Augen noch immer schmerzten. Ich sah mich um, so gut es ging. Zum Glück hatten mir meine jahrelang trainierten Reflexe beigebracht, auch in völliger Schwärze nicht die Orientierung zu verlieren und ich vermutete mich ungefähr zwei Meter von dem Platz entfernt, auf dem ich gesessen und gehackt hatte. Plötzlich schoss es mir durch den Kopf, dass bei einem normalen Stromausfall sofort auf die Notstromaggregate umgestellt werden müsste...

Ich wartete. Irgendwann müssten sich meine Augen doch an diese Dunkelheit gewöhnt haben, oder? Gab es denn etwa eine Dunkelheit, an die man sich niemals gewöhnen konnte?? Mir kam der Gedanke, mich an der Wand entlang bis zur Tür zu tasten. Vorsichtig lief ich rückwärts, streckte meine Hand dorthin aus, wo eigentlich die rauer Beton der Wand hätte sein sollte, statt dessen schlossen sich aber meine Hände um...

... den weichen Stoff einer menschlichen Schuluniform. Ich erschrak bis ins Mark. Hinter mir... Ich hatte sofort wieder losgelassen, nachdem ich noch die Wärme eines Menschen gespürt hatte, der knapp zwei Schritte lautlos und alle Spuren seiner Gegenwart verwischend schon mindestens seit zehn Minuten hinter mir gestanden hatte. Ich wich zurück und meine Augen bohrten sich in die Finsternis vor mir.

Irgendetwas sagte mir mit tödlicher Sicherheit, dass dieser Junge(?) nicht auf meine Schule ging und hier absolut nichts verloren hatte. Ich verhielt mich so leise es ging, versuchte endlich das Dunkel um mich herum mit Augen zu durchdringen, aber stattdessen sah ich nur schwarze Schemen auf dunkelgrauem Grund...

Plötzlich schrak ich erneut zusammen. Der Junge... er war noch nicht da gewesen, als ich ins PC-Kabinett gegangen bin. Und er war auch nicht in den folgenden Stunden erschienen, so viel hätte ich sicherlich noch mitbekommen... Also musste er erst nach dem Stromausfall herein gekommen sein... Die Tür befand sich auf der anderen Seite... Er musste durch den halben Raum geschlichen sein, ganz dicht an mir vorbei... und hatte sich dann... zwei kleine Schritte... hinter mich gestellt?! Was ergab das für einen Sinn, wenn nicht den, dass es tödlich enden sollte??

Ich schluckte. Gerade heute... gerade heute!!

Ich machte mir keine Gedanken, wer der Kerl nun sein könnte. Wahrscheinlich gehörte er zu Schwarz oder einer anderen Killergemeinschaft, der Weiß ein Dorn im Auge war. Auf jeden fall schien er ein perfekt ausgebildeter Killer sein, denn noch immer bemerkte ich nichts von seiner Anwesenheit, obwohl ich nun wusste, dass er her irgendwo sein musste. Welches gefürchtete Killerorgan besaß solch perfekte Killer?? Schwarz, schoss es mir durch den Kopf. Schwarz, Schwarz und... Schwarz. In der Hoffnung, mich vielleicht doch getäuscht zu haben, ging ich halb in die Knie und bereitete mich auf einen Angriff vor, aus dem Augenwinkel die Umgebung absuchend.

Du siehst nicht gut in der Dunkelheit, nicht wahr?, hauchte etwas in mein linkes Augen. Noch ehe ich einen Angriff meinerseits starten konnte, schleuderte mich eine unsichtbare Kraft durch den Raum. Ich krachte mit der Schulter gegen die gläserne Tür, die sofort zerbrach.

Glassplitter regneten auf mich hernieder.

Ich stand nicht wieder auf. Es war nicht allein der Schlag gewesen, es war vor allem die Stimme gewesen und die Art des Schlages. Ich stöhnte mental. Konnte das... konnte das sein?? War das... Prodigy??

Du machst schon schlapp? Nach deinem Hackeinsatz hatte ich mehr erwartet. Du bist der erste, der so weit kam. Ja, es war exakt seine Stimme. Natürlich. Schwarz' Hacker. Die kleine, schwarze Ratte. Prodigy.

Ich wagte noch immer nichts zu sagen. Hatte er mich erkannt? Wusste er, wer ich war? Ich bemerkte ein leichtes, aber anschwellendes Schwindelgefühl, dass sicherlich nicht durch Hunger oder zu wenig Flüssigkeit verursacht wurde. Mit bösen Vorahnungen hob ich einen Arm und tastete damit vorsichtig entlang meines Rückens. Ich schluckte. Der Schmerz war keine Einbildung gewesen. Die Splitter, die noch immer fest mit dem Türrahmen verankert waren, spickten nun alle kunstgerecht in meinen Rücken. Ich konnte das Blut um mich herum fühlen...

Die plötzliche Erkenntnis, dass ich hier sterben würde, in unendlicher Dunkelheit, eins der vielen Hundert Opfer von Schwarz... es ging an mir vorbei. Und dann ausgerechnet von einem Kerl, dessen Lippen ich noch immer auf den meinen spüre, dessen Arme noch immer um meinen Körper geschlungen waren und dessen mitternachtsblaue Augen mir jeglichen Schlaf raubten... Hätte ich nicht Tränen in den Augen gehabt, hätte ich wahrscheinlich gelacht, über so viel ironisches Schicksal.

Tut es weh?, fragte die klare, kalte Stimme direkt über mir. Noch nicht genug, nicht wahr? Es reicht noch nicht...

Ich hielt die Augen geschlossen, denn auch wenn ich noch immer nichts sehen konnte, seinen Anblick während ich starb, wollte ich mir dann doch ersparen... Ich antworte noch immer nicht, nur ein leises unterdrücktes Stöhnen kam über meine Lippen. Die Glassplitter steckten sicherlich tief in meinem Körper, viel zu tief, um noch auf Rettung zu hoffen.

Steh auf.

Ich stöhnte unter Schmerzen. Aufstehen?! Wollte er mich auch noch an der Wand entlang zu Boden sinken sehen? Wie sich meine Augen verdrehten? Meine Seele in die Hölle entfloh? Wollte er mein letztes Zucken fühlen?? Das Geräusch, als die langen, scharfen, unglaublich spitzen Glassplitter aus meinem Körper gezogen wurden und gleichzeitig die Wunden noch weiter schnitten, brachte mich beinahe um den Verstand. Mein Rücken brannte. Ich spürte eine unglaubliche Hitzewelle, wusste im selben Moment, dass es mein eigenes Blut war, was in Strömen, Bächen, meinen Rücken hinablief.

Ich stand, beinahe gerade, vor der Wand.

Sieh mich an., zischte die Stimme kalt und schneidend. Ich gehorchte langsam und sah direkt vor mich. Plötzlich sah ich ihn. Sein Gesicht schwebte kaum 20 Zentimeter vor meinem in der Luft, er sah mich direkt an. Ich konnte sehen, wie sich seine Augen vor Schreck weiteten. Er hatte also tatsächlich nicht gewusst, wen er da killte. Es war ihm egal gewesen.

your voice chased away all the sanity in me

Er schwieg, sah mich noch immer mit ungläubig aufgerissenen Augen an.

... verschwamm vor meinen Augen und meine Beine schienen unter mir nachzugeben... ...so fühlt sich also sterben an, dachte ich qualvoll....

Bevor ich endgültig zusammenbrechen konnte, fing mich eine unsichtbare Kraft auf...

Mein Bewusstsein tauchte nun unwiderruflich in vollkommene Schwärze ein...

part VI snow blindness

{N}

Meine Augen hingen noch immer wie hypnotisiert an seinem Gesicht fest, welches nun merkwürdig schlaff und müde, ja – schlafend wirkte. Konnte das sein? Oder hatten mir meine Sinne erneut einen Streich gespielt, wie so oft in der letzten Zeit? War dies... wirklich... wirklich... Bombay? Mein Herz klopfe und ich fühlte mich, als würde ich jeden Moment explodieren.

Ich ließ ihn aus meinem telekinetischen Griff langsam auf den Boden sinken, achtete darauf, dass er nicht in den Scherben lag und lehnte mich neben ihn an die Wand. Waren wir also wieder in dieser Konstellation zusammen.

Ich hatte mir geschworen, ihn nie wieder zu sehen.

Und ich drehte beinahe durch.

Alles was ich wusste, war, dass ich ihn eben vor dem sicheren Tod gerettet hatte.

Warum??

[this is my last resort]

Ich war plötzlich sehr müde. Schwach beugte ich mich erneut über Bombay, drehte ihn umständlich auf die Brust und begutachtete seine Wunden auf dem Rücken.

Ich konnte kaum etwas sehen, soviel Blut war bereits aus den sicherlich sehr, sehr tiefen Wunden gekommen. Ich konnte nur beten, dass sich keine Glassplitterrückstände in den Wunden befanden...

Ich zog die einzige Waffe, die ich immer bei mir trug, aus meiner Tasche. Das kleine, silbern glänzende Messer, wäre auf jedem Fall etwas für Farfarello, dachte ich.

Vorsichtig hob ich Bombays T-Shirt an einer Seite etwas an und schob das Messer zwischen Stoff und Haut. Langsam, vorsichtig, schnitt ich sein T-Shirt auf, immer darauf bedacht, ihm nicht noch mehr Wunden zuzufügen.

Als sein Rücken nun unbedeckt und blutend vor mir lag, versuchte ich laienhaft, aus seinem T-Shirt Kompressen zu schneiden und drückte sie vorsichtig auf die Wunden. Der helle Stoff sog sich sofort voll mit Blut, aber es war die einzige Möglichkeit, ihm irgendwie zu helfen. Vorsichtig legte ich zwei Finger an seine Halsschlagader und prüfte den Puls.

Schwach, dachte ich, sehr schwach. Aber immerhin lebte er noch. Ich stand auf, sah zweifelnd auf ihn nieder. Was sollte ich jetzt tun? Würde er hier bleiben, war er in drei, spätestens vier Stunden tot, mit nach Hause nehmen hätte dasselbe Resultat. Nur etwas mehr von Umweltfaktoren wie Farfarello beeinflusst.

I've tried so hard to tell myself that you're gone

and though you're still with me

I've been alone all along

Immerhin war es hell hier.

Mein Blick wanderte gedankenverloren über das riesige Baugelände.

Der Platz war seiner nicht würdig und viel lieber hätte ich ihn an einen anderen Ort gebracht, aber das war jetzt unmöglich.

Du bleibst erst mal hier..., murmelte ich zu ihm, obwohl er mich nicht hören konnte.

Omi lag auf dem staubigen Fußboden, die Augen geschlossen und nur sehr leicht atmend. Ich wusste nicht, ob er überleben würde, ich wusste nicht einmal, ob er die Nacht überleben würde...

Ich hatte es immerhin versucht... versucht...

Ich schluckte. Wieso sollte ich ihn eigentlich retten wollen? Er hatte in meinen Dateien spioniert und es war gut möglich, dass er etwas wichtiges entdeckt hatte. Außerdem war er Weiß. Und er wusste eindeutig viel zu viel über mich und war mir viel zu nahe gekommen... viel zu... nah...

Ich verscheuchte die Gedanken und beschloss, am nächsten Tag noch einmal vorbei zu schauen – sollte Bombay noch leben, dann wäre alles wieder in Ordnung und sollte er doch tot sein...

Ich musterte die zusammengekrümmte Gestalt des Jungen.

... wen interessiert's, ob es nun ein Kätzchen mehr oder weniger gab?? Es existierten sowieso viel zu viele...

Ich drehte mich noch einmal um, bevor ich ihn verließ. Es war kein besonders schöner, dafür aber ein vergleichsweise sicherer Platz. Ich hatte ihn in einem baufälligen Plattenbau versteckt, in dem alle Wände herausgebrochen wurden waren und nur noch ein Gerippe aus Säulen und Mauerresten vorhanden war. Omi lag in der obersten Etage.

Die siebte.

Ich hatte ihn das ganze verdreckte Treppenhaus hinauf getragen.

Aber hier war er erst einmal sicher.

Hier würde er überleben

insofern er nicht bereits gestorben war...

Ich rannte die Stufen hinunter, rannte weiter, bis das Gebäude hinter mir verschwand und von anderen Häusern verdeckt wurde. Ich rannte immer weiter, bis wieder in die belebteren Viertel Tôkyô's...

Ich hielt nicht an, versuchte im Laufen auch alles andere zu vergessen...

hinter mir zu lassen...

~*~*~*~

Die Stunden vergingen langsam, zäh rinnend.

Ich versuchte mich zu konzentrieren, alle Informationen, die Crawford für heute Nacht brauchte, zu bekommen... Aber auch wenn mir sonst diese kalte Welt aus Formeln und Hieroglyphen eine Art Wärme für mein erfrorenes Inneres gegeben hatte... nun erdrückte sie mich, beengte mich, fesselte mich und zwängte mich zurück in die Maske, die mir wahrscheinlich einmal gepasst hatte. Meine Hände bewegten sich langsam über das Keyboard, es fiel mir schwer, auch nur einzelne Buttons zu betätigen und ich benötigte mehr als zwei Anläufe, um mich in das Internationale Sicherheitssystem zu hacken, was ich zuvor im Schlaf beherrscht hatte.

I life my live by the moon

Ich befand mich genau dort, was ich früher als meinen Himmel, mein ganz persönliches Paradies bezeichnet hatte. Genau dort.

---I'm running, I'm running, catch up with me life---

Es hatte ungewöhnlich lange gedauert, alle Informationen für Schwarz aus dem Internet zu ziehen, aber irgendwann hatte ich es dann doch geschafft. Ich fühlte mich müde, unglaublich zerschlagen und das einzige, was ich noch wollte war endlich allein zu sein.

Ich taumelte von Crawfords Zimmer zurück in meins, schloss die Tür hinter mir und versiegelte sie mit letzter Kraft. Dann glitt ich entlang des glatten Holzes langsam zu Boden. Ich wollte vergessen, endlich wieder ich selber sein, endlich wieder an etwas anderes denken können... Endlich wieder zurück... in meine Lüge. denn auch wenn meine Welt eine Lüge gewesen war, es war alles Tausend mal besser als... das hier...

Ich hatte Kopfschmerzen und mein Körper sagte mir unmissverständlich, dass ich Drogen benötigte... Wenn ich jetzt nachgeben würde, würde ich auch dem Drang nachgeben, zurück zu der Baustelle, zurück zu Bombay zu gehen.

Und etwas Schrecklicheres/Schöneres konnte ich mir im Moment nicht vorstellen.

Ich schlug die Arme über meinem Kopf zusammen, verbarg mein Gesicht in meinen Händen und versuchte, das Denken abzuschalten, welches mittlerweile ein ganz eigenständiges System geworden zu sein schien...

Mir war schwindlig.

Warum?? WARUM?!

Der Gedanke an Bombay...

you chased away all the sanity in me

to be continued

bombay