1.Kapitel: Kann ick ihnen helfen?
Es war ein sonniger Septembertag, als Lisa Plenske in die S-Bahn stieg, um zur Warschauer Straße zu fahren. Von dort aus müsste sie noch ein Stück laufen, um zum Sender zu kommen. Gegen 10 stand sie in der Lobby und sah sich um. Sie trug einen schwarzen, knielangen Rock, der nach unten weiter wurde und einen schwarzen Cordblazer über einem engen, roten T-Shirt. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Lisa rückte sich ihre Brille gerade und ging auf den Pförtner zu.
"Kann ick ihnen helfen?" fragte dieser sie halbwegs freundlich.
"Guten Tag. Mein Name ist Lisa Plenske. Ich bin Geschäftsführerin von Kerima Moda." Sie überreichte ihm eine Visitenkarte. "Ich bin auf der Suche nach Rokko Kowalski."
"Kowalski. Ick weeß nich, ob der heute hier is'. Aber ick kann ja ma' durchklingeln."
"Nein! Also, ich würde viel lieber gleich zu ihm gehen. Es ist eine Art Überraschung."
Der Pförtner musterte sie von oben bis unten.
"Bitte?" flehte Lisa ihn mit großen Augen an.
"Na denn jeh'n se ma rin. 3.Stock rechts."
"Vielen Dank." Lisa lächelte ihn an und ging zum Fahrstuhl.
Während der Fahrstuhl nach oben fuhr, schossen ihr Tausende von Gedanken durch den Kopf. Ob sie sich doch lieber hätte anmelden lassen sollen. Ob ein Anruf nicht besser gewesen wäre. Ob er überhaupt noch mit ihr reden würde. Nervös strich sie ihren Rock glatt. Dann war sie auch schon oben und verließ leicht zitternd den Fahrstuhl.
"Du bist die Chefin von Kerima", schoss es ihr durch den Kopf. "Reiß dich gefälligst zusammen, Lisa Plenske!"
Sie wandte sich nach rechts um und lief an einigen Türen vorbei, bevor sie Rokkos Namen auf einem Schildchen entdeckt. "R. Kowalski - Public Marketing". Sie atmete tief ein und wollte gerade anklopfen, als plötzlich jemand hinter ihr stand.
"H..Hallo" kam es etwas gebrochen von hinten.
Lisa drehte sich langsam um und sah direkt in Rokkos dunkle Augen. Er versuchte ein Lächeln und sah sie fragend an.
"Herr Kowalski! Hallo. Ich..em...ich war auf der Suche nach Ihnen." Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, doch er ignorierte die Geste.
"Ja, dann haben Sie mich ja gefunden. Kommen Sie doch rein." Er griff an ihr vorbei nach der Türklinke, öffnete die Tür, stieß sie auf, und deutete ihr, hinein zu gehen. Lisa ging ihm voran in sein Büro und stand nun etwas verloren in dem weiträumigen, hellen Zimmer.
"Bitte", er zeigte auf die kleine Sitzecke schräg gegenüber des Schreibtisches, "setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen eine Kaffee anbieten."
"Nein, danke. Herr Kowalski, ich.. ich muss mit Ihnen reden."
Er setzte sich gegenüber von ihr auf einen Sessel.
"Was gibt es denn?"
Lisa räusperte sich, bevor sie zu sprechen begann. "Herr Kowalski, ich möchte Sie bitten, zu Kerima zurück zu kommen."
Er sah sie lange an und sagte nichts. Lisa wusste nicht, wohin sie sehen sollte, blickte ihm in die Augen, dann wieder weg, sah sich seinen Schreibtisch an, sah ihn wieder an. Dann versuchte sie es erneut.
"Die neue Kollektion ist toll, aber wir haben niemanden, der sie auch nur halbwegs angemessen vermarkten könnte. Hugo hat alle bisherigen Marketingleiter in den Wahnsinn getrieben. Jeder hat uns bisher nach spätestens einem Monat verlassen oder wurde von Hugo hinausgejagt. Herr Kowalski, Kerima braucht Sie."
Sie sah ihn flehend an und sagte dann noch schnell: "Ich brauche Sie."
"Okay. Ich bin dabei", antwortete Rokko mit einem halben Grinsen. "Ich wollte hier sowieso gerade zusammen packen."
Lisa strahlte über das ganze Gesicht. "Wann können Sie bei Kerima anfangen?"
"Morgen?"
"Das wäre wunderbar!"
Rokko erhob sich lächelnd aus seinem Sessel. "Ja, dann werd ich sie jetzt hinausbegleiten. Ich muss nämlich noch ein paar Sachen fertig stellen, wenn ich schon morgen anfangen soll."
Lisa stand ebenfalls auf, ging auf Rokko zu, und wollte ihm erst die Hand reichen, entschied sich dann aber doch, ihn zu umarmen. Rokko war davon etwas überrumpelt und erwiderte nur zögerlich die Umarmung. Lisa löste sich wieder von ihm und sah ihn dann wieder an.
"Vielen, vielen Dank, Herr Kowalski."
"Nichts zu danken, Frau Plenske... ähm, Seidel." Er sah nun wieder ein bisschen traurig aus.
Auch Lisas Gesicht war nicht mehr so fröhlich wie zuvor. "Plenske. Wieder. Es hat sich ausgeseidelt."
Rokko sah sie fragend an, doch Lisa gab ihm heute keine Erklärung dafür, warum sie ihren alten Mädchennamen wieder angenommen hatte. Statt dessen verabschiedete sie sich.
"Bis morgen, Herr Kowalski. Ich freue mich, auf unsere Zusammenarbeit."
Rokko verabschiedete sich mit einem Handschlag und geleitete Lisa aus dem Büro.
"Ja, bis morgen", sagte er noch, bevor er die Tür hinter ihr schloss.
Sofort machte er sich nun daran, all seine Sachen in einen Karton zu packen, bevor er zu seinem Chef ging und um eine sofortige Kündigung bat. Zum Glück waren sie gut befreundet, so dass ihm sein Wunsch sogleich gewährt wurde. Rokkos Assistentin Juli würde ab sofort das Marketing übernehmen.
Lisa ihrerseits lief mit einem zufriedenen Lächeln wieder zum Bahnhof Warschauer Straße und stieg dort in die U-Bahn ein, um zu Kerima zu fahren. Dort erledigte sie nur noch einige dringendere Arbeiten, und berichtete Max, der noch immer als Personalchef bei Kerima war, dass sie einen neuen Marketingchef gefunden hatte. Rokko Kowalski würde zu Kerima zurückkehren. Max atmete erleichtert auf, denn mittlerweile war Kerima so verschrien, dass sich kaum noch fähige Marketingleute beworben hatten.
"Das ist ja großartig!"
"Ja, das ist es", lächelte Lisa. "Setzt du dann bitte seinen Arbeitsvertrag auf, damit er ihn gleich morgen unterschreiben kann?"
"Natürlich, Chefin", grinste Max. "Und bei dir alles klar?", fragte er sie leicht besorgt.
"Ja, klar. Es muss ja. Aber ich geh für heute nach Hause. Der Kindergarten hat gerade angerufen, dass Lena abgeholt werden muss."
"Okay, geh nach Hause. Wenn was ist, bin ich da."
"Danke, Max." Lisa lächelte und verließ sein Büro. Sie holte nur noch ihre Tasche aus dem Büro und fuhr dann schnell zum Kindergarten um Lena abzuholen. Dort wartete schon eine entrüstete Erzieherin auf sie.
"Frau Plenske, Lena ist erkältet. So können wir sie nicht hier behalten. Da steckt sie noch alle anderen an. Sie muss morgen zu Hause bleiben."
Als sie mit dem Kinderwagen nach Hause ging. seufzte Lisa. "Arbeit und Kind und kein Vater, der mir ein bisschen Arbeit hätte abnehmen können - da müssen wir jetzt durch Lena. Vielleicht kann ja Opa morgen einspringen..."
