3.
Kapitel
Die alte Straße des kleinen verschlafenen
Ortes war menschenleer. An den Häusern waren die meisten
Fensterläden verschlossen, die Bewohner schliefen noch.
Vereinzelte Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg über die
Straße und kletterten die Fassaden hinauf. In den Bäumen,
die den Weg säumten, begrüßten die Vögel den
kommenden Tag mit ihrem Lied. Sie hießen ebenfalls den jungen
Mann willkommen, der langsam an den Gebäuden vorbei schritt und
alle genau betrachtete. Oft rückte er sich die runde Brille auf
seiner Nase zurecht oder fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen
kurzen Haare, die in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden. Vor
einem älteren heruntergekommenen Haus hielt er an. Sein Blick
wanderte über die Außenmauern bis zum zerstörten
Dach, dann holte er tief Luft, lehnte sich Halt suchend gegen einen
Baum und starrte weiter unverwandt auf die Fassade. Dieses Haus
schien vor vielen Jahren einem Blitzeinschlag zum Opfer gefallen zu
sein. Stücke einer Mauer fehlten, im verwilderten Garten lagen
einzelne Steine, auch Brandspuren waren noch zu erkennen. Er war sich
sicher. In diesem Haus war er geboren worden und hatte die erste Zeit
seines Lebens verbracht. Godrics Hollow musste eine Idylle gewesen
sein, er stellte sich seine Eltern vor, wie sie ihn durch die Zimmer
trugen oder im Garten im Kinderwagen schaukelten und ihm Lieder ins
Ohr summten. Er schloss die Augen und lauschte dem Gesang in den
Bäumen.
Ein grüner Blitz erstrahlte vor seinen Augen, er zuckte zusammen und rutschte den Stamm entlang auf den Boden. Die Erinnerung überwältigte ihn. Schon als kleines Kind war er immer wieder von diesem gleißenden grünen Licht in seinen Träumen geweckt worden. Er hatte gelernt, ihm auszuweichen, vor ihm zu fliehen, es war ihm sogar einmal gelungen, dem grünen Strahl Stand zu halten, als dieser vor zwei Jahren auf ihn selbst gerichtet worden war. Vorgestern erst hatte er ihn wieder sehen müssen. Versteinert und verhüllt war er Zeuge des Mordes an Dumbledore geworden. Der grüne Blitz traf den Schulleiter, dem Harry Potter Treue geschworen hatte, aus der Hand des Mannes, der ebenfalls für die Zerstörung seines Elternhauses verantwortlich war, Severus Snape. Avada Kedavra waren die furchtbaren Worte gewesen, die er von der verhassten Stimme gehört hatte, und er wollte sie nie vergessen. Wogen von Wut schüttelten seinen Körper und wandelten sich in kalten Hass. Gefühle drängten aus seinem Innern an die Oberfläche und wurden zu Gedanken und er wollte, dass sie Realität würden. Er sprach die Worte laut, weil er sie hören wollte, als ob er ihnen damit mehr Kraft verleihen könnte.
„Snape, ich schwöre dir, dass ich dich töte, wenn ich dich das nächste Mal sehe. Du schuldest mir dein Leben, du und dein verruchter Meister Lord Voldemort. Ich schwöre dir, dass ich nicht eher ruhe, bis ihr tot seid, du und Voldemort. Du elender Abschaum!"
Er spürte die Tränen, die geweint werden wollten, aber er konnte sie nicht zulassen. Seine Augen blieben trocken, sein Gesicht unbewegt. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, instinktiv ergriff er seinen Zauberstab. Doch die Vögel in den Zweigen zwitscherten unbeirrt ihre Lieder, die Straße blieb menschenleer, nur die Äste des Baumes raschelten leise im leichten Sommerwind. Er ließ seine Hand sinken. Dann zog er sich wieder hoch und überquerte die Straße. Er schritt durch den Garten und öffnete vorsichtig die verfallene Haustür. Zwischen hohen Staubschichten und mehreren Lagen Spinnweben konnte er in manchen Räumen noch Teile des Mobiliars erkennen. Es war nicht viel, was geblieben war. Hinter einem eingefallenen Küchenschrank fand Harry einen alten Kessel, für den wohl kein Muggel mehr Verwendung gefunden hatte. Er beschloss, ihn mitzunehmen. In einer Schublade entdeckte er ein zerbrochenes Bild seiner Eltern. Durch die Risse im Glas winkten sie ihm zu. Er presste seine Lippen zusammen und legte das Foto in den Kessel. Es folgten noch die Scherben einer Sammeltasse und ein kleines hölzernes, halb verrottetes Kästchen, das sich nicht öffnen ließ und von den Muggeln wohl deshalb zurückgelassen worden war. Er würde später ein paar Öffnungszauber probieren. Schließlich senkte er den Kopf und zuckte mit den Schultern. Bis auf die schmerzende Erinnerung an seine Eltern hatte er entgegen seiner Hoffnung nichts von Bedeutung gefunden.
Von draußen konnte der junge Mann allmählich die erwachenden Dorfbewohner hören. Fensterläden wurden klappernd geöffnet, Schritte ertönten auf dem Steinpflaster und Gespräche zur nächsten Haustür wurden begonnen. Er beschloss, dass er fürs Erste genug gesehen hatte, er würde zu einem späteren Zeitpunkt wieder kommen. Er wollte nicht erblickt und schon gar nicht erkannt werden. Seine Finger umfassten den Griff des Kessels fester, dann trat er einen Schritt nach vorne, wirbelte um die eigene Achse und war verschwunden. Ebenfalls verschwand die schwarze Gestalt, die an den Baum gegenüber vom Haus gelehnt, die ganze Szene beobachtet hatte. Sie wirkte, als hätte sie schon lange dort gestanden, unbemerkt von Harry Potter, den Dorfbewohnern und den Vögeln, die ihr Lied für den beginnenden Tag fortsetzten.
