2.Kapitel: Rückkehr des polnischen Boxers
Opa Bernd konnte einspringen. Aber nicht gleich am Morgen, weil er noch einen wichtigen Arzttermin hatte. Also nahm Lisa Lena erst mal mit zu Kerima. Am Morgen stand Lisa mit dem Tragesitz, in dem Lena saß, und behängt mit ihrer Tasche, sowie einer riesigen rosa Tasche voll mit Windeln, Spielzeug, Breigläschen und Fläschchen vor dem Fahrstuhl und versuchte verzweifelt den Knopf zu drücken, um den Fahrstuhl zu rufen. Doch da drückte auch schon jemand auf den Knopf.
"Gute Morgen, Frau Plenske", begrüßte sie Rokko fröhlich. Er war gerade mit seinem City Roller angekommen und hatte diesen beim Pförtner abgegeben.
"Rokko! Also, Herr Kowalski, guten Morgen!" Sie lächelte ihn etwas verlegen an.
Rokko blickte neugierig in den Tragesitz.
"Und das ist?"
"Lena, meine Tochter."
"Und schon so wunderschön wie ihre Mama", sagte Rokko leise, während er das kleine Mädchen anlächelte.
Rokko nahm ihr die Kleine ab und gemeinsam fuhren sie nach oben. Am Catering kochte Helga Plenske schon Kaffee und schmierte Brote für die Belegschaft.
"Ach, Guten Morgen, Herr Kowalski!" strahlte sie Lisas Begleiter freundlich an. "Und meine beiden Mädchen, euch auch einen guten Morgen. Geben Sie mir doch mal mein Krümelchen, Herr Kowalski."
Helga strahlte über das ganze Gesicht, ganz die stolze Oma.
"Guten Morgen, Frau Plenske", begrüßte sie Rokko freundlich und überreichte ihr den Tragesitz. Er nahm sich die Tasse Kaffee, die Helga ihm hingestellt hatte - in seiner angestammten Tasse, ganz so, wie er den Kaffee am liebsten mochte.
"Morgen, Mama", begrüßte Lisa ihre Mutter, während diese schon damit beschäftigt war, Lena aus ihrer warmen Jacke zu befreien. "Kannst du vielleicht kurz auf Lena aufpassen?"
"Aber natürlich, Mäuschen!"
"Mama! Du sollst mich doch nicht immer Mäuschen nennen. Jedenfalls nicht in der Firma." Lisa, leicht verlegen, überreichte die rosa Tasche ihrer Mutter, gab ihrer kleinen Tochter noch schnell einen Kuss, strich ihre blonden Haare glatt und wandte sich dann wieder an Rokko, der die Szene mit einem Lächeln verfolgt hatte.
"Sind sie bereit, Herr Kowalski?" fragte sie ihn mit einem Lächeln.
"Aye, Captain!" antwortete dieser gewohnt verspielt und "salutierte" vor ihr.
"Na dann, bereit machen zum Entern", grinste Lisa.
Rokko stellte die Tasse auf dem Tresen ab und gemeinsam gingen sie zuerst zu Max, damit Rokko dort seinen neuen Arbeitsvertrag unterschreiben konnte. Max begrüßte den alten neuen Arbeitskollegen mit Handschlag und wünschte ihm alles Gute.
Danach ging es zu seinem alten Büro. Lisa öffnete die Tür.
"Willkommen zurück", sagte sie. "Sie können sich erst mal einrichten. Die erste Besprechung ist um 11 in Hugos Atelier."
"Okay. Bis dann." Rokko winkte kurz und verschwand dann in seinem Büro.
Lisa war froh, ihr altes Team fast komplett wieder beisammen zu haben. Nur David fehlte. Aber der fehlte sowieso in vielen Bereichen. Da kam es auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr an. Lisa lief zurück zum Catering, um sich um Lena zu kümmern.
"Ach, Mäuschen, der Herr Kowalski ist noch immer genauso charmant wie vor zwei Jahren. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du ihn und nicht David... also..."
"Mama! Schhhh! Das hat hier nichts zu suchen."
Lisa nahm Lena in den Arm.
"Was hat Lena eigentlich", versuchte Helga das Thema zu wechseln.
"Schnupfen. Den hat sie sich im Kindergarten eingefangen. Und nun kann sie erst wieder hin, wenn sie vollkommen gesund ist. Zum Glück kann Papa ja auf sie aufpassen."
Lisa strich ihrer kleinen besorgt über die Haare.
"Mama, kann ich vielleicht einen Pfefferminztee haben?"
"Natürlich. Ich koch dir schnell einen."
"Danke."
Dann stand sie auf und lief mit Lena auf dem Arm in ihr Büro, stellte aber fest, dass sie mit der Kleinen natürlich schlecht arbeiten konnte und entschloss sich dann dazu, mit ihr ein wenig durch die Büros zu laufen. Es gab sowieso noch ein paar Absprachen zu treffen.
Zuerst ging sie zu Max, der Lena mit einem leicht dümmlichen Grinsen und "Na, wer ist denn heute hier zu Besuch?" begrüßte. Lena lachte trotz Schnupfen ihren Onkel Max an. Sie rief "Max!" und streckte ihm ihre kleinen Ärmchen entgegen. Max nahm sie auf den Arm.
"Max, welche Stellen sind noch unbesetzt?"
"Ok, also wieder geschäftliches. Lass mich überlegen. Marketing ist besetzt. Vertrieb auch. Was fehlt ist ein zweiter Geschäftsführer, wenigstens so lange, wie du nur halbtags hier bist."
Lisa überlegte, doch ihr fiel niemand ein, der die Stelle besetzen könnte und sofort im Geschäft wäre, ohne sich lange einarbeiten zu müssen.
"Hast du überlegt, David zu bitten, wenigstens kurz auszuhelfen?"
"Ja", kam es leise von Lisa. "Eine bessere Lösung ist mir leider auch nicht eingefallen. Die Frage ist jedoch, ob er überhaupt zurückkommen wollen würde."
"Und was ist mit dir?" Max war besorgt. So still hatte er Lisa nicht mehr gesehen, seit dem Tag, an dem sie von Sylt gekommen war.
"Was soll mit mir sein?"
"Würdest du es ertragen, ihn ständig um dich zu haben?"
"Ach, Max, alles für die Firma, nicht wahr?" Lisa zwang sich zu lächeln. "Kannst du... kannst du ihn vielleicht fragen?"
Max, immer noch mit Lena auf dem Arm, kam zu ihr und legte seinen linken Arm um sie. "Ich mach's Lisa."
"Danke." Dann nahm sie ihm Lena wieder ab, die langsam unruhig wurde. "Ich werd dann mal kurz zu Hugo. Denkst du an die Besprechung um 11 im Atelier?"
"Klar. Bis dann."
"Bis dann." Lisa ging mit Lena auf dem Arm raus. Die Kleine wollte aber nicht mehr nur rumgetragen werden und forderte beständig nach unten gelassen zu werden. Also tippelte Lena jetzt an Lisas Hand in Richtung Hugos Atelier. Dort angekommen riss sich Lena von Lisas Hand los und wollte auf Hugo zustürmen, stolperte aber über ihre eigenen kleinen Beinchen und stürzte. Nicht schwer, aber schlimm genug, um Hugos Mitleid zu erhaschen.
"Mon dieu! Meine kleine Prinzessin!" Er lief schnell zu ihr und hob sie auf. Da lachte sie auch schon wieder. "Guten Morgen, Lisa," begrüßte er seine Chefin mit einem Kuss auf die Wange. "Was beschert mir eure zauberhafte Anwesenheit?"
"Morgen, Hugo. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir nachher die Besprechung wegen der Vermarktung bei dir haben."
"Ach, haben wir denn einen Marketingleiter?" fragte Hugo spitz.
"Ja, den besten, den du dir vorstellen kannst: Rokko Kowalski."
"Herr Kowalski ist zurück? Das ist in der Tat erfreulich. Dann kriegen wir vielleicht doch noch unser Happy End."
"Wie meinst du das jetzt?", fragte Lisa verdutzt.
Doch Hugo lächelte nur wissend und scheuchte sie dann auch schon wieder hinaus. "Husch, husch, raus mit euch, sonst werde ich bis zur Besprechung nicht mehr fertig."
Um halb elf begab sich Lisa mit Lena zum Catering, Lena immer noch an ihrer Hand. Helga kochte gerade Kaffee, während einige aus der Belegschaft Rokko freudig zurück begrüßten.
"Herr Kowalski ist kaum zurück und schon wieder so beliebt wie früher!" sagte Helga zu Lisa, als sie ihr den Tee reichte.
Lisa sah zu Rokko und lächelte ihn an. Ja, mit Rokko kam neuer Schwung in Kerima. Sie setzte Lena auf den Tresen und setzte sich dann auf den Barhocker neben Rokko, um ihren Tee zu trinken. Mit der linken Hand hielt sie Lena fest. Die kleine bekam prompt eine Flasche von ihrer stolzen Oma in die Hand gedrückt und nuckelte zufrieden daran. Da ging die Fahrstuhltür auf und Bernd Plenske stand vor ihnen.
"Ach, guck, Schnattchen, dein polnischer Boxer ist auch wieder da!" rief er aus, als er bei Lisa angekommen war und ihr einen Begrüßungskuss gab.
"Tag, Herr Plenske", begrüßte Rokko ihn.
Lisa war leicht verlegen. Rokko war ja gar nicht mehr ihr was auch immer. Schnell versuchte sie das Thema zu wechseln. "Papa, danke, dass du dich um Lena kümmerst. Hier ist mein Schlüssel. Ich bin vermutlich erst spät zu Hause. Ich hoffe, das ist okay?"
"Ach, Schnattchen, lass dir man Zeit. Ich kümmer' mich ja gern um die kleene Maus."
Lisa zog Lena schnell an und schloss sie zum Abschied fest in ihre Arme. "Mach's gut mein Lenalein, der Opa geht jetzt mit dir nach Hause."
Und schon zog Bernd mit umgehängter rosa Tasche und Lena im Tragesitz los, nachdem er sich von Helga und Lisa verabschiedet hatte.
Die Besprechung bei Hugo verlief gut, vielleicht sogar geradezu grandios. Hugo präsentierte seine Entwürfe und Ideen und Rokko machte sich Notizen. Je weiter die Besprechung voranging, desto mehr leuchteten seine Augen. Lisa bemerkte die Begeisterung sehr wohl und war froh, dass sie der Präsentation der Frühjahrskollektion ein ganzes Stück näher waren. In 6 Wochen müsste alles stehen - und zum ersten Mal war sie sich sicher, dass sie es schaffen würden.
Am Nachmittag arbeitete jeder in seinem Büro. Lisa hatte einige Telefonate mit Flagshipstores in London und Moskau zu führen und rechnete die Produktionskosten zum zweiten Mal durch. Gegen 5 klappte sie auch die letzte Mappe zu und beschloss nach Hause zu gehen. Sie zog ihren Cordblazer an und nahm ihre Tasche. Sie verließ ihr Büro und kam auf dem Weg nach draußen an Rokkos Büro vorbei. Heimlich schielte sie durch die Glastür und sah, dass er geschäftig am Schreibtisch saß und etwas skizzierte. Vorsichtig klopfte sie. Er blickte auf und bat sie mit einer Handbewegung reinzukommen. Lisa öffnete die Tür. Sie stand etwas unentschlossen in Rokkos Büro.
"Was gibt's denn?" fragte dieser fröhlich.
"Ich wollte mich nur verabschieden. Ich geh jetzt nach Hause. Lena muss bald ins Bett und ich wollte ihr wenigstens noch gute Nacht sagen." Eine kurze Pause, in der sie eine Zettel aus ihrer Tasche holte, bevor sie weitersprach: "Hier ist meine Telefonnummer und meine Adresse - falls es irgendwas wichtiges zu bereden gibt." Sie reichte ihm den Zettel und sah ein wenig verlegen zu Boden. "Danke, dass du hier bist", fügte sie schließlich noch leise hinzu.
Als er sah, dass ihr ein paar Tränen die Wangen hinunterkullerten, stand Rokko auf und umrundete seinen Schreibtisch. Er kam auf sie zu, umarmte sie fest und blickte ihr dann wieder in die Augen. "Lisa, ich könnte dich nie im Stich lassen." Dann zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte vorsichtig ihre Tränen weg. "Und nun ab nach Hause zu deiner süßen Tochter." Mit seiner rechten Hand auf ihrem Rücken geleitete er sie noch aus seinem Büro zum Fahrstuhl und verabschiedete sich dort mit einer kurzen Umarmung von ihr.
"Gute Nacht, Rokko."
"Nacht, Lisa."
Als Lisa im Fahrstuhl verschwunden war, ging Rokko zurück in sein Büro, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich daran. Er atmete tief ein und wieder aus. Er würde Lisa beiseite stehen in den nächsten Wochen. Er würde ihr ein guter Freund sein. Aber er war auch schon wieder dabei, sein Herz an Lisa zu verlieren. Wenn er daran dachte, dass Lena seine Tochter sein könnte... Aber daran wollte er heute lieber nicht denken.
