6. Kapitel

Harry Potter saß auf seinem Bett in seinem Zimmer im Lingusterweg. Die Sonne schien durch das geschlossene Fenster auf sein Kopfkissen. Mücken sausten durch den kleinen Raum und versuchten in immer kürzeren Abständen, auf Harrys nacktem Oberkörper zu landen. Nun verbrachte er schon den zweiten Tag hier. Die Dursleys hatten sich geweigert, auch nur ein Wort von ihm anzuhören. Sie hatten ihm zu verstehen gegeben, dass er hinter der verschlossenen Tür seines Zimmers geduldet würde genau bis zu seinem 17. Geburtstag und keinen Tag länger. Gegen Abend würde Tante Petunia ihm die Essensreste aller Mahlzeiten bringen. Sie würde die Schüssel durch einen kleinen Türspalt schieben, ohne ihren Neffen anzusehen. Harry wusste, dass seine Tante in einem Kalender jeden Tag durchstrich, der sie näher an das lange ersehnte Datum führte. Vermutlich organisierte Onkel Vernon schon eine große Party zu diesem Anlass. Er malte sich aus, wie die versammelte Verwandtschaft im Wohnzimmer Tante Petunias in mühevoller Kleinarbeit hergestellte Köstlichkeiten verzehren würde. Tante Marga würde mit übervollem Mund die Geschichten vom missratenem Jungen und seinem bald zu erwartenden unrühmlichen Ende erzählen. Onkel Vernon würde prustend lachen und Dudley noch kauend den nächsten Kuchen nachschieben. Harrys Magen knurrte. Vielleicht gab ihm auch nur der Hunger diese Phantasien ein. Die Angriffe der Mücken wurden unerträglich. Ohne nachzudenken nahm er seinen Zauberstab und zielte auf den nächsten schwarzen Punkt an der Wand. Ein kleiner Lichtblitz fixierte den Punkt, der sich fortan nicht mehr bewegte. Der Erfolg beflügelte ihn. Er feuerte wieder und ein neuer Punkt entstand an Decke. Er dachte an Tante Petunia. Feuer! Das tat gut. Onkel Vernon, Feuer! Dudley, doppeltes Feuer! Die schwarzen Flecken nahmen zu und verschafften Harry ein ungewohntes aber angenehmes Gefühl. Er war nur hier, weil Dumbledore es gewollt hatte. Feuer! Noch in dieser Nacht würde er gehen. Sein großer Koffer war längst gepackt. Feuer! Dann endlich könnte er Voldemort jagen. Er würde jedem, der zweifelte, beweisen, dass er der Auserwählte war. Er würde jeden Todesser bekämpfen und besonders einen. Harry ließ sich auf das Bett fallen und durchlebte verschiedene Duellszenen, aus denen er als strahlender Sieger hervorging. Seine Lichtblitze töteten die schwarz gekleideten Todesser, die dunkle Flecken auf dem Boden hinterließen.

Als Harry erwachte, herrschte bereits dämmrige Beleuchtung in seinem Raum. Die Sonne war untergegangen. Ein kleiner Teller mit einigen nicht nennenswerten Krümeln stand hinter seiner Zimmertür. Dudley musste sich vorgenommen haben, eher zu platzen als Harry auch nur einen Bissen übrig zu lassen. Der Junge beschloss, dass er seine Pflicht gegenüber Dumbledore erfüllt hatte. Alles war besser als diese Gefangenschaft. Er rollte sein Kopfkissen zusammen und legte die Bettdecke darüber. Es sah so aus, als würde darunter jemand schlafen. Wenigstens sollten die Dursleys noch ein paar Tage lang glauben, dass sie Harry aushalten müssten, bevor sie ihn des Hauses verweisen konnten. Schadenfreude zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab, als er sich ihre Wut vorstellte, wenn sie merkten, dass sie getäuscht worden waren. Er nahm seinen Zauberstab in die linke Hand, seine Koffer in die rechte und konzentrierte sich. Wohin sollte er gehen? Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Hogwarts kam nicht in Frage, der Fuchsbau auch nicht. In den Ruinen seines Elternhauses konnte er nicht wohnen. Da kam ihm der rettende Gedanke. Ihm gehörte noch der Grimmauldplatz Nr. 12. Er trat einen Schritt nach vorne und spürte das unangenehme Gefühl, durch eine dunkle Röhre gepresst zu werden. Sekunden später hörte er ohrenbetäubenden Lärm.

"Dreckiges Gesindel! Du hast mein Haus besudelt. Verschwinde, du Nestbeschmutzer..."

Er war in der Eingangshalle des Hauses gelandet. Das Bild von Mrs. Black war aus seinem Schlaf geweckt worden und beschimpfte Harry weiterhin in der übelsten Weise. Dieser verschwand so schnell er konnte und stieg eine Treppe höher, ließ seinen Koffer stehen und setzte sich an den großen hölzernen Tisch. Noch einige Zeit lang konnte er die schrille Stimme der alten Frau hören, bevor wieder Ruhe einkehrte. Nun erst begann er sich zu wundern, wieso er überhaupt hier hereingekommen war. War der Schutzzauber Dumbledores mit dessen Tod aufgehoben worden? Wurde dieses Haus überhaupt noch vom Orden des Phönix benutzt? Doch dann gewann sein Hunger die Überhand und er durchsuchte das Gebäude nach Essbarem. Glücklicherweise fand er einige Vorräte, die noch von Sirius Black angelegt worden sein mussten. Mit vollem Magen ging es ihm besser. Nun endlich konnte er tun, was er wollte. Und er wollte nur eines: Rache. Rache für den Tod seiner Eltern, Rache für die Ermordung Dumbledores. Wenn es schon sein Schicksal war, gegen Lord Voldemort und seine Anhänger anzutreten, dann wollte er so viele wie möglich von ihnen mitnehmen. Die Gedanken tobten in seinem Kopf. Er konnte kämpfen, er hatte es bewiesen. Er war der Beste gewesen in Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Er hatte Dumbledores Armee ausgebildet. Er hatte Lord Voldmorts Mordversuch überlebt. Aber er musste noch besser werden. Er würde die Horcruxe nicht kampflos bekommen. Es gab keinen Dumbledore mehr, der ihm den Weg frei schlug. Verfluchter Snape! Sollte er doch an seiner eigenen schwarzen Magie zu Grunde gehen! Harry wurde es heiß. Das war der nächste Schritt. Er brauchte sein Zaubertränkebuch wieder. Er würde den Halbblutprinzen mit seinen eigenen Waffen schlagen. Er musste Hogwarts noch einen Besuch abstatten und dabei das Buch unauffällig mitnehmen. Vielleicht würde er in dem alten Schloss auch Anhaltspunkte finden, wo er mit seiner Suche nach den Horcruxen beginnen konnte. Schließlich ging er in den kleinen Raum, in dem er schon früher geschlafen hatte und legte sich auf das Bett. Erinnerungen an Hogwarts jagten ihm durch den Kopf. In den frühen Morgenstunden schließlich umfing ihn unruhiger Schlaf.