Ok, nach endlosen Zeiten mal wieder ein Chap.

Ganz herzlichen Dank bei Elva, hat mich sehr gefreut, dass dich schon das erste Kapitel begeistert hat :D


Kapitel 1

Eine junge Hure

Es war ein Morgen wie jeder andere in der kleinen Stadt Tahirona, die in das Herrschaftsgebiet des Königs von Gondor, eines der größten und wichtigsten Königreiche Mittelerdes fiel.

Die Bewohner, hauptsächlich Menschen, schrieben – sofern sie schreiben konnten, und das war leider nur bei einem Fünftel der Bevölkerung der Fall – das Jahr 27 im vierten Zeitalter. Die Ringkriege waren vorbei. Es gab kaum noch Orküberfälle, es drangen keine das Land verdunkelnden Schreckensnachrichten mehr in die Stadt und vor vielen Jahren war der frühere Herrscher zu Besuch gekommen.

Es hatte einen prunkvollen Staatsempfang zu Ehren König Aragorns, Isildurs Erben und seit langer Zeit ersten Königs von Gondor gegeben. Er hatte im Haus des Statthalters gewohnt. Aber kurz darauf hatte es einen Skandal gegeben: Eine Bande Orks hatte es mit Hilfe einiger abtrünniger Knechte geschafft, in das Schloss einzudringen. Hätte es nicht ein Dienstmädchen gegeben, die ihre neugierige Nase in alle Angelegenheiten gesteckt und sie belauscht hatte, wäre der König am nächsten Morgen tot gewesen. Die Einzelheiten waren vertuscht worden, der Name des Dienstmädchens war geheim geblieben und nicht einmal die Knechte waren öffentlich hingerichtet worden. Der König war mit seinem Gefolge bald abgereist, nachdem dieses noch die umliegenden Wälder durchkämmt und alle Orks, derer sie habhaft wurden, getötet hatten. Seitdem hatte sich niemand mehr aus Minas Tirith wirklich um diese Stadt gekümmert.

Selbst jetzt noch, 15 Jahre später, wurde die Geschichte den Kindern erzählt und die wildesten Gerüchte drehten immer noch ihre Runden in der Stadt. In Tahirona hatte sich kaum etwas geändert und mehr als drei Viertel der Stadtbevölkerung war arm, zwei Viertel lebten in der Gosse. Jedes vierte weibliche Wesen – die alten Weiblein und die Kinder mitgezählt – war eine Hure. Jetzt war Aragorn tot, seine Frau stand auch schon mit einem Bein im Grab und der Sohn der beiden, Eldarion, war seit 6 Jahren König. In Tahirona merkte man allerdings nichts von dem Machtwechsel.

Die Sonne war gerade am Untergehen und es war schon mehr dämmrig als hell. Eine Frau, die aussah als wäre sie 80, obwohl sie höchstens 40 Jahre alt war, stand in der Tür einer elenden kleinen Holzhütte am Rande der Stadt. Ihre Augen waren grün-braun-blau. Sie sahen seltsam aus, nicht gefleckt, sondern ein Drittel der Iris war braun, eines blau und der Rest grün. Sie sahen aus wie Windräder. Ihre schulterlangen, wilden schwarzen Locken wurden bereits von grauen und weißen Strähnen durchzogen und ließen sie mit ihrer sehr dunklen Haut wie eine Zigeunerin aussehen. Sie sah sich um, einen Ausdruck von Sorge auf ihrem fast faltenlosen Gesicht. Endlich erblickten ihre Augen ein Mädchen von etwa 13 Jahren, das verschmutzt und erschöpft in einem mehr als gewagten, eher schon unzüchtigen Kleid dahertaumelte.

Ihr Kleid sah aus, als hätte sie sich ein knappes Handtuch, das gerade von den Brüsten bis zu etwa 5 cm die Oberschenkel entlang reichte, umgewickelt. Dieser Teil war undurchsichtig. An den dichten Stoff hatte es oben noch, am Ende etwa 10 cm lange, Trompetenärmel aus durchsichtigem Schleier genäht. Unten wurde das Kleidchen ebenfalls durch einen weiten Rock von derselben Konsestanz ergänzt. Alles war wenige Nuancen dunkler als Scharlachrot und stach garantiert aus der Masse heraus.

Obwohl das Mädchen schmutzig und müde war, hatte es dafür gesorgt, dass jenes Kleid keine nicht mehr zu entfernenden Flecken hatte. Denn dieses Gewand war für sie die Überlebensversicherung.

In einer Stadt wie Tahirona, im Armenviertel und mit solcher Kleidung, war es sonnenklar, woher das Mädchen kam: von der Hauptstraße. Die Junge Frau war eine Prostituierte.

„Endlich, Neniel!", rief die alte Frau erleichtert und eilte der erschöpften Hure entgegen. „Abnd Naneth!", antwortete die mit Neniel angesprochene. Ihre Stimme war überraschend tief und ein wenig heiser. „Wie war dein Tag? Hast du gut verdient? Waren sie sehr brutal? Und ich habe dir doch schon tausendmal gesagt du sollst mich Mutter nennen!", wurde sie von Eresse überschüttet. „Viel Betrieb heut'!", antwortete Neniel ohne auf den Redeschwall einzugehen.

Es war nicht ganz klar, ob das gut oder schlecht war: Je mehr Leute ihre Dienste in Anspruch nahmen, umso öfter musste sie ihren Körper hergeben. Aber das bedeutete natürlich gleichzeitig viel Verdienst.

„Das Essen ist schon fertig!", trällerte Eresse und eilte voraus. Erschöpft folgte Neniel ihr ins Haus. Sie ließ sich auf den Boden neben die winzige Kiste fallen, die den Tisch ersetzte, und leerte vorsichtig ihren Beutel aus, den sie um die Hüften getragen hatte. Mit müden Augen zog sie die Kerze näher zu sich. „Hmm... achtundzwanzg Kupfermünzn.

Sie hörte ihre Mutter seufzen. „Es gefällt mir nicht, dass du unseren Lebensunterhalt auf diese Weise verdienst!" Neniel stöhnte gequält auf. „Bitte Naneth, nich scho wieder dieses Gespräch! Alle Madl tun das. Ich mach's nich aus Spaß! Wenn du'n andern Vorschlag hast, dann verzähl ihn mir bitte. Sollt er vernünftig und möglich sein, nehm ich ihn mit Freudn an." Eresse knurrte: „Du weißt, dass ich keine Idee habe, aber es gefällt mir trotzdem nicht." „Willst verhungern? Das iss nämlich der einzige andre Weg der uns bleibt!", antwortete Neniel mit unheimlicher Ruhe während sie die Schnur löste, welche ihren langen, langen Zopf hochband. Ihre Mutter schwieg. Mit dem Anflug eines Grinsens begann Neniel ihren Zopf zu lösen. Trotz des Flechtens schlug ihr Haar keine Wellen. Während sie die Strähnen auskämmte, murmelte sie schon vor sich hin, wie sie mit den eben verdienten Münzen haushalten wollte: „Brot...sieben Münzn ...Tee...drei Münzn ...Seife...fünf Münzn ...Obst...zehn Münzn ... Wasser...sechs Münzn ...nix in die Spartass'. Damit solltn wir ne halbe Woch auskommn. Gut!"

Sie sah auf. Ihre Mutter füllte gerade einen Napf mit dem dampfenden Eintopf aus dem kleinen Kessel über dem Feuer. Schnell öffnete sie die wenigen Bänder, die das Kleid hielten und streifte es ab. Darunter war sie nackt. Stirnrunzelnd besah sie sich in dem großem Spiegel, der einzigen Investition, die sie je getätigt hatte, die ihnen nichts einbrachte und nicht notwendig war. Schnell griff sie nach dem Tuch, welches in einem Bottich mit Wasser schwamm und wusch sich notdürftig.

Neniel hatte eine dunklere Haut als normalerweise üblich – wenn auch nicht so dunkel wie die ihrer Mutter, eben schokoladenbraun (Nicht dass sie gewusst hätte, was Schokolade ist). Sie hatte gleichmäßige Gesichtszüge, eine kleine Nase, schmale Lippen und sehr dunkle, schräg gestellte Mandelaugen. Ihre noch nicht ausgewachsenen, wenn auch bereits vollen Brüste schmerzten von den groben Grabschhänden. Ihre langen und stumpfschwarzen Haare wuchsen immer noch, obwohl sie schon bis zu den Kniekehlen reichten. Sie strich sie beiseite und entblößte ein angespitztes Elbenohr und auf der anderen Seite ihres Gesichtes noch eines. Prüfend betrachtete sie ihre verhältnismäßig langen schlanken Beine, Arme und die Hände mit übermäßig langen, schlangen Fingern. Im Allgemeinen war sie eher klein, was sie von ihrer Mutter hatte und mager, was von ihrer Notlage kam.

Neniel entsprach ganz und gar nicht dem momentanem Schönheitsideal, das blasse, dicke (beides deutet auf Reichtum hin: bleich muss nicht arbeiten, dick viel zu essen), blondlockige und blauäugige Frauen vorschrieb. Ihre schwarzen Augen waren glanzlos durch das triste Leben und den Staub der Stadt. Früher waren sie braun gewesen, warum sie sich verdunkelt hatten, konnte sie sich nicht erklären. Aber es war ihr ziemlich egal. Ihre langen, glatten Haare waren mühsam zu pflegen und deshalb trug sie sie nie offen. Trotz ihres Aussehens lief das Geschäft nicht so schlecht. Sie hielt sich immer möglichst sauber und den Kopf aufrecht. Neniel verbarg ihre Einsamkeit; den Schmerz ihre Gewerbes; das Gefühl beschmutzt zu sein; die Schnitte, die das Leid dem sie täglich begegnete ihrer Seele versetzte und die heimliche Hoffnungslosigkeit, dass es irgendwo etwas Besseres gab. Verdrängte den Schmutz ihrer Umgebung indem sie ihre ganze Energie auf das tägliche Überleben aufwandte. Ihre Seelenqual äußerte sich nur in ihrer Schweigsamkeit. Sie sprach oft nur das Nötigste, beziehungsweise oberflächliche Floskeln. Das Mädchen verwendete die in Armenvierteln übliche schlampige Sprache nicht, weil sie nicht anders reden konnte. Ihre Mutter hatte oft versucht, ihr beizubringen ‚vernünftig' zu sprechen. Aber alle anderen in ihrem Umfeld – ihre Mutter ausgeschlossen – sprachen auch so und Neniel sah keinen Grund, warum sie sich noch mehr zum Außenseiter machen sollte, wenn es doch sowieso niemand zu würdigen wusste. Also hatte sie sich halt den Slang angewöhnt und Eresse hatte es inzwischen aufgegeben, dagegen zu protestieren.

Seufzend wandte sie sich ab und schlüpfte in ihren groben, kurzen Leinenkittel. Im Spiegel konnte sie erkennen, dass ihre Mutter bereits bei Tisch saß. Das Mädchen wandte sich um und ergriff ihre Schale. Andächtig hielten die Beiden einen Moment inne und sprachen ein kurzes, innbrünstiges Dankesgebet zu den Valar. Eine alte Sitte, auf die ihre Mutter strikt bestand. Dann schlang sie hungrig den faden, wenig appetitlichen Brei hinunter und hörte kaum, wie ihre Mutter ihr gesegnete Malzeit wünschte. Kaum hatte sie den letzten Löffel hinabgewürgt, sprang sie auch schon wieder auf. Hastig packte sie das Häufchen Münzen, barg es wieder in ihrem Beutel und rannte aus dem Haus, nur schnell, bevor die Läden schlossen. Zum Glück war es nicht mehr so kalt und es hatte auch nicht geschneit, was die Straßen immer matschig und besonders rutschig machte.

Als sie in die Hauptstraße einbog sah sie, wie die Bäckersfrau gerade die Türe ihrer Hütte schloss. Winkend hastete sie auf die Frau zu und kaufte unter deren missbilligenden und verächtlichen Blick einen Laib Brot. Die restlichen Läden schlossen erst später. Nur Obst erhielt sie keines mehr, die Äpfel – das einzige was sie sich leisten konnte waren schon ausverkauft.

Abgehetzt wandte sie sich dann wieder heimwärts. Sie musste noch ihr Kleid ausbürsten, sich baden und die Haare wieder einmal waschen, den abscheulichen Tee trinken und mit ihrer Mutter ausdiskutieren, ob sie versuchen sollte eine andere Arbeit zu finden. Letzteres war eine unsinnige Diskussion, die sie aber jeden Abend führten. Neniel hatte nie ein Handwerk gelernt, kein Mann würde eine Frau aus der Gosse heiraten und da sie jung war, verdiente sie gar nicht sooo schlecht.

Sie sah nachdenklich zu Boden, während sie die lange Gasse entlang schritt, an deren Ende ihre Hütte lag. Ihre Füße versanken knöcheltief in Morast und Unrat. Ihre Fußsohlen trugen zahllose kleine Narben, da sie sich keine Schuhe leisten konnten und in den Abfällen oft Scherben versteckt lagen. Müde und abgekämpft hielt sie vor der schiefen Hütte, die seit sie denken konnte ihr Zuhause war. Manchmal überlegte sie wie die Welt draußen aussehen mochte. Eresse erzählte ihr manchmal von ihrem Leben bevor sie nach Tahirona kam. Neniel konnte sich das gar nicht vorstellen. Sie hatte die Stadt nie verlassen. Weite grüne Wiesen, dunkle Wälder, reine Luft, klare Seen, edle Pferde und den geheimnisvollen Sternenhimmel. Das dreizehnjährige Mädchen hatte noch nie einen Baum gesehen, an einer Blume geschnuppert oder reines Wasser gefühlt. Sie kannte nur das brackige Wasser aus den öffentlichen Brunnen – welches man trotz seiner Schmutzigkeit noch bezahlen musste; das Moos, das in den Ecken wuchs; als einzige Tiere hatte sie Ratten, Mäuse sowie Ungeziefer kennen gelernt und der Himmel war immer von Rauchschwaden bedeckt. Von der Luft der Armenviertel gar nicht zu reden. Dafür hatte sie sehr früh den Ernst des Lebens kennen gelernt.

Aber sie träumte schon wieder! Die junge Frau, die eigentlich noch ein Kind war riss sich zusammen und trat ein.

Schnell schlichtete sie die Einkäufe in das einzige Regal und steckte die übrig gebliebenen Münzen in einen alten Becher. Dann griff ihr rotes Kleid, eine bereits fast haarlose Bürste und begann mit etwas Wasser die Flecken zu bearbeiten. Heute waren es glücklicherweise nicht viele. Kaum war sie fertig, drückte ihre Mutter ihr eine angeschlagene Tontasse mit einem ekelhaft riechendem Gebräu in die Hand. Neniel verzog angewidert das Gesicht. „Keine Widerrede! Das trinkst du! Wenn du dich schon nicht von diesem ‚Beruf' abbringen lässt, dann sorge ich wenigstens dafür, dass du nicht schwanger wirst!" Das Wort Beruf betone Eresse besonders herablassend. „Scho gut, scho gut", beschwichtigte Neniel die aufgebrachte Frau und trank das Gebräu in einem Zug aus. Zufrieden wandte die sich wieder der Kochecke und ihrer Tochter diskret den Rücken zu. Geschickt glättete das Mädchen noch einmal den Rock ihres Kleides und hängte über eine aufgespanntes Seil, bevor sie den Kittel abstreifte. Endlich konnte sie sich in den Zuber sitzen und all die ekligen Berührungen abwaschen. Aber zuvor seifte sie noch ihre Haare ein und spülte sie sorgfältig wieder aus. Trotz der vielen Tricks und Kniffe die ihre Mutter beherrschte, konnte auch sie nicht verhindern, dass sie sich Läuse eingefangen hatte. Im Armenviertel hatte jeder Läuse, so dass es keinen Sinn hatte, gegen die Biester zu kämpfen.

Sie ließ sich in das von ihrer Mutter vorsorglich angewärmte Wasser gleiten. Einen Moment lang alles vergessen können! Einen Moment lang war sie wunschlos glücklich.

Doch nach wenigen Minuten wurde das Wasser bereits wieder kalt. In Gedanken verfluchte das Mädchen die zugige Hütte. Ernüchtert erhob sie sich und griff nach dem rauen Leinentuch.

Eine halbe Stunde erregten Diskutierens später konnte sie sich endlich in zwei dünne Schaffelle wickeln und müde zusammenrollen. Während sie sich an ihre Mutter schmiegte, um die Kälte der Februarnacht draußen zu lassen, flüsterte sie hastig ihr Abendgebet und dankte den Valar für ihre schützende Hand.

Ein Windstoß vertrieb einen Moment lang den Rauch, der wie eine Glocke über der Stadt lag. Für ein paar Sekunden fiel ein Strahl weißen Lichtes durch die Ritzen in die Hütte und überflutete die Lagerstatt. In diesem ewig scheinendem Moment sah eine kleine Halbelbe in einem Elendsviertel in einer Stadt in Gondor in Mittelerde zum ersten Mal in ihrem jungen Leben Mondschein. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen schlief Neniel ein.


Und? Wars ein review wert?