8. Kapitel

Minerva McGonagall lief die Gänge des Schlosses ab. Sie wollte sich ein komplettes Bild des Fortgangs der Sicherungsarbeiten verschaffen. Fast alle Lehrer hatten sich nach ihrer eindringlichen Rede sofort bereit erklärt, nach Kräften mit zu helfen. Nur Professor Trelawney weigerte sich, weiterhin mit Firenze die Wahrsageklassen zu teilen. Sie wollte im Schloss bleiben, die dunkle Zukunft für alle entschlüsseln und an ihren Memoiren schreiben, die sie dann später unter dem Titel „Der Leidensweg einer begabten Seherin" veröffentlichen würde. Die Schulleiterin beschloss, für den Moment mit den Schutzwällen, die um Hogwarts gelegt worden waren, zufrieden zu sein. Das Kollegium befand sich für einen kleinen Imbiss in der großen Halle, die Tische waren von den Elfen hübsch dekoriert worden, die Stimmung war hoffnungsvoll. Das gemeinsame Ziel ließ sie die sonst üblichen Querelen vergessen, jede helfende Hand war nützlich und wurde gebraucht.

Minerva spürte plötzlich ihre Müdigkeit. Sie wollte sich eine Ruhepause erlauben und ging in ihr Büro. Sie nahm am Schreibtisch Platz und lehnte sich in den Stuhl zurück. Diese Minuten würden nur ihr gehören. Sie ließ ihren Blick die Wände entlang wandern. Ihr Herz schlug schneller. Erstaunen zeichnete sich in ihren Zügen ab. Die alten Schulleiter schliefen nicht, sie waren alle wach und nickten ihr anerkennend zu. Eine große Hexe sagte aus ihrem Rahmen heraus: „Exzellente Arbeit!" Die anderen fingen an zu applaudieren.

"Bitte, bitte, meine Herrschaften!", sagte die Direktorin etwas unangenehm berührt. „Ich habe nur meine Aufgaben wahrgenommen."

"Sie weiß es noch gar nicht."

"Das sieht fast so aus."

"Dann sollten wir sie informieren."

Das Getuschel nahm zu. Minerva McGonagall blickte zögernd und auch alarmiert in die Runde.

"Würden Sie bitte jetzt Ihrer Pflicht nachkommen und mir helfen? Worum geht es?"

"Nun, werte Kollegin", sagte Professor Dippet, der Vorgänger Dumbeldores, „Ohne Sie würden wir jetzt hier drin Du-weißt-schon-wen ertragen müssen. Sie haben seinen ersten Versuch, Hogwarts zu übernehmen, vereitelt."

Die Schulleiterin schluckte. So bald hatte sie diese Realität nicht wahr haben wollen. Und sie hatte nichts davon mitbekommen. Sie würde mehr und bessere Informationen brauchen.

"Woher wissen Sie das?"

"Wir sind ein bisschen spazieren gegangen, und hören so dies und das."

"Im Ministerium zum Beispiel."

Professor Dippet ergriff wieder das Wort: „Du-weiß-schon-wer hat Sie unterschätzt. Er hatte nicht genügend Kräfte aufgeboten, dachte, er könnte hier einfach so hereinspazieren. Eine Handvoll Todesser hatte er ausgeschickt, damit sie für ihn den roten Teppich ausrollen. Er hatte sich verrechnet."

"Weiter so, Minerva!", die Schulleiterin erschreckte fast über Dumbledores Stimme, doch sie spürte auch die Freude über sein Lob. Albus Dumbledore lächelte ihr aus seinem Bild zu. „Und komme ein bisschen häufiger zu uns, dann können wir dir mehr erzählen."

Die müde Hexe entspannte sich und nickte mit dem Kopf: „Ich bin jetzt hier und höre zu."

Phineas Nigellus setzte eine wichtige Miene auf und sagt betont gelangweilt: „Der auserwählte Junge ist in den Grimmauldplatz Nr. 12 eingezogen. Nicht dass ich von meinem Bild aus viel sehen könnte, aber er redet im Schlaf wirres Zeug, er will sie alle erledigen."

"Im Ministerium ist man besorgt über das nahezu öffentliche Auftreten der Todesser, sie benehmen sich wie die neuen Herren. Es werden gehäufte Aktivitäten auch in Hogsmeade beobachtet. Du-weißt-schon-wer soll es besonders auf Hogwarts abgesehen haben. Scrimgeour gleicht einem Nervenbündel."

"Severus Snape ist in sein eigenes Haus eingezogen. Die Auroren kommen nicht einmal in die Nähe des Gebäudes. Er hat es mit mächtigen unbekannten Schutzzaubern umgeben. Sie verstehen es nicht. Außerdem hat er Fawkes. Er scheint ihn gefangen zu haben."

„In St Mungo´s häufen sich Fluchverletzungen und Gedächtnisverluste."

"Der Tagesprophet ist angewiesen, nicht mehr als zwei Morde durch Todesser pro Tag zu publizieren. Scrimgeour fürchtet eine Massenpanik."

"Die Werwölfe haben sich in einem Schreiben ans Ministerium offiziell zu Du-weißt-schon-wem bekannt. Sie würden nur ihn als ihren Lord anerkennen und seinen Befehlen folgen. Das Pergament war mit Menschenblut beschrieben."

"Minerva, du wirst bald Besuch bekommen.", sagte Dumbledore, „Arthur Weasley ist mit Fred, George, Ron und Ginny zu dir unterwegs. Nymphadora Tonks und Hermine Granger sind auch dabei. Du bekommst noch mehr Unterstützung. Ich könnte mir weiterhin vorstellen, dass du neben der Schule auch den Orden leiten könntest. Minerva, sie wollen dich und sie brauchen dich. Führe alle zusammen. Nur gemeinsam könnt ihr bestehen. Und noch etwas, bitte komme zu meinem Portrait."

Die Schulleiterin erhob sich unter dem empörten Getuschel der Bilder. Dumbledore sagte leise: "Minerva, ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Harry Potter deine Hilfe benötigt. Er braucht jemanden, der stark genug ist, Lord Voldemort zu trotzen. Und jemanden, der genug Autorität hat, ihm selbst den Weg zu weisen. Er darf nicht in die Einsamkeit und in die dunklen Künste abrutschen."

Mit schleppenden Schritten ging die Direktorin zum Schreibtisch zurück und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Das war keine erholsame Pause gewesen. Sie fühlte sich mit Arbeit und Verantwortung überladen. Wie hatte Albus das nur durchgehalten? Es klopfte an der Tür. Schlagartig versanken die ehemaligen Leiter Hogwarts in tiefen Schlaf.

"Herein!"

Die schwere Eichenholztür öffnete sich und Hagrid führte die halbe Weasleyfamilie und ihre angekündigten Freunde ins Büro.

"Verzeihen Sie Professor McGonagall, aber ich dachte, diese Leute könnte ich direkt zu Ihnen bringen, Sie würden sich vielleicht freuen, sie zu sehen, jetzt, in diesen schwierigen Zeiten.", Hagrid fuhr sich mit der Hand durch den Bart und blickte unsicher auf die strenge Direktorin, „nun ja, dann gehe ich wohl mal wieder…"

"Danke, Hagrid. Es ist in Ordnung. Würden Sie bei den Elfen nach dem Rechten sehen?"

"Ja, sehr wohl, gnädige Frau, ich gehe sofort hin, bin schon unterwegs."

Hagrid hob, sichtlich stolz über diesen Auftrag, den Kopf und verließ den Raum. Minerva McGonagall wandte sich der kleinen Invasion zu, die ihr Büro erobert hatte.

"Nun, ich bin zwar überrascht, aber ich freue mich, euch alle wohlauf zu sehen. Was ist der Grund eures Besuches?"

Nach einigen unsicheren Blicken, ergriff Hermine das Wort.

"Professor McGonagall. Wir würden Ihnen gerne helfen, wenn man das so nennen darf. Wir haben uns entschlossen, Ihren Kampf gegen Lord Voldemort zu unterstützen, denn nur gemeinsam sind wir stark. Mrs. Tonks möchte sich um die", sie stockte kurz und blickte auf den Boden, fasste sich dann aber und fuhr fort, „nun ja, freigewordenen Stelle des Lehrers für Verteidigung gegen die Dunklen Künste bewerben. Fred und George bieten jede denkbare Zuarbeit von „Weasleys Wizard Wheezes" an, sie haben gewisse Erfahrung darin, unerwünschte Personen auf ihre Art aus dem Schloss zu vertreiben. Ron, Ginny und ich möchten als Schüler wieder zurückkehren. Wir hoffen, dass dann auch andere sich trauen, zurück zu kommen."

Die Schulleiterin war sprachlos, sie konnte ihre Rührung kaum verbergen. So schnell hatten sich ihre Bemühungen herumgesprochen, so viel Hoffnung und Engagement war geweckt worden. Ja, es war ein Anfang, klein, aber verheißungsvoll. Sicher hatte Albus Dumbledore aus der vielfachen Hilfe, die auch er erfahren hatte, seine Kraft erhalten.

"Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich danke euch allen. Normalerweise würde ich euch jetzt auf die vielen Gefahren eures Angebots hinweisen, aber ihr kennt sie selbst und wir brauchen jeden. Mrs. Tonks, ich begrüße Sie im Kollegium. Fred und George, ich hoffe, ich darf euch noch so nennen", die Zwillinge grinsten sich erst gegenseitig, dann die Direktorin an und nickten, „bleibt vorerst im Schloss und beratet mich bei den verschiedenen Möglichkeiten für Schutzzauber. Eurer Kreativität sind ja bekanntlich kaum Grenzen gesetzt. Und was euch angeht, Hermine, Ron und Ginny, ich freue mich darauf, euch wieder zu unterrichten, aber euch dürfte kaum entgangen sein, dass zurzeit Sommerferien wären. Die Schule kann erst zum 1. September wieder eröffnet werden."

"Wir wissen es", entgegnete Ginny, „aber wir möchten trotzdem bleiben. Wir können anderen zeigen, dass man in Hogwarts sicher wohnen kann."

"Und wir würden gerne die Schulbibliothek für private Forschungen nutzen", ergänzte Hermine.

Minerva schaute zweifelnd auf das Mädchen. Konnte ihre intelligenteste Schülerin nicht mehr ohne Bücher leben? Doch dann fiel ihr Blick auf Dumbledore, der sie durchdringend ansah und mit dem Kopf nickte.

"Gut, ihr könnt bleiben. Es ist eine Ausnahmesituation. Voraussetzung ist, dass eure Eltern einverstanden sind, Arthur?

"Ja, Minerva wir sind dafür. Auch Hermines Eltern haben eingewilligt, dass ihre Tochter unterrichtsergänzende Studien in den Ferien betreiben darf", er lächelte unsicher, „Und Minerva, ich würde dich gerne kurz unter vier Augen sprechen."

Die Hexe nickte bestätigend und kurze Zeit später stand Arthur Weasley alleine vor ihrem Schreibtisch.

"Minerva, Molly und ich möchten dich auch im Namen von Tonks und Bill bitten, die Leitung des Ordens zu übernehmen. Du warst die Vertraute Dumbledores. Du hast den Kampf gegen Du-weißt-schon-wen aufgenommen und uns wieder Zuversicht gegeben. Wir stehen zu dir. Berufe eine Versammlung ein. Bitte."

"Gut, Arthur, ich werde es tun. Ich danke dir und euch allen. Eure Hoffnung ist meine Hoffnung. Du wirst noch heute meine Nachricht erhalten. Grüße Molly von mir."

Sie streckte Mr. Weasley die Hand entgegen. Der Mann ergriff sie und ihr Händedruck bestätigte beiden, dass sie zusammenarbeiten würden. Danach verließ der Zauberer den Raum und Minerva McGonagall war endlich alleine. Ruhe durchflutete das Zimmer. Sie war überwältigt, so viel Verantwortung ruhte nun auf ihren Schultern, aber auch so viel Hoffnung guter Menschen. Würde sie solchen Aufgaben gerecht werden können? Ihre ehrliche Selbsteinschätzung ließ sie zweifeln.

"Minerva." Dumbledores Stimme klang leise aus seinem Rahmen, „Man wächst an seinen Aufgaben. Du hast viel Talent und Erfahrung, und was du nicht kannst, können andere, die deinen Anordnungen folgen werden. Traue es dir selbst zu. Du wirst vielfältige Hilfe bekommen. Die Gemeinschaft der Zauberer, die Lord Voldemort die Stirn bieten wollen, braucht eine Führung. Stärke du ihre Gemeinschaft, dann wird sie dich stützen. Und noch etwas, auf mich kannst du auch zählen."

Die Schulleiterin erhob sich. Halb zu Dumbledore, halb zu sich selbst sprach sie: „Ich werde alles tun, was in meiner Kraft steht, um Lord Voldemort zu bekämpfen. Ich werde alle Zauberer guten Willens unterstützen und den Orden zusammenrufen. Ich werde Hogwarts verteidigen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue."

Albus Dumbledore lächelte. Er hatte seine Nachfolgerin und Lord Voldemort eine neue machtvolle Gegnerin gefunden.