11. Kapitel

Mit aller Kraft wollte er nach Hogwarts. Aber er hatte keine Idee, wie er dort hin gelangen könnte. Harry Potter war durch das dunkle Haus Sirius Blacks gelaufen, er hatte die restlichen Essensvorräte vertilgt, er hatte die zeternde Mrs. Black in ihrem Bilderrahmen angeschrieen, aber er hatte keinen Einfall gehabt, wie er die Schutzwälle des Schlosses überwinden könnte. Er stampfte die Treppe hoch, ging in seinen Schlafraum, schlug die Tür hinter sich zu und ließ sich auf sein Bett fallen.

"Zu meinen Zeiten zog man sich wenigstens noch die Schuhe aus, bevor man sich zur Ruhe begab. Aber die Jugend von heute kennt keine Manieren mehr."

Harry schaute verwirrt um sich. Diese Stimme kannte er, wenn er nur wüsste, woher. Dann entdeckte er den würdigen älteren Herren mit den schmalen Lippen, der ihn aus dem einzigen Gemälde dieses Zimmers verächtlich anblickte. Er erinnerte sich, in diesem Raum hatte er die Stimme gehört und es war dieser Zauberer gewesen, der ihm eine Nachricht von Dumbledore überbracht hatte. Es war Phineas Nigellus, einer der unsympathischen Vorfahren Sirius Blacks, der es bis zum Schulleiter in Hogwarts gebracht hatte. Er entgegnete:

"Wenn Sie sich über gutes Benehmen unterhalten wollen, tun Sie es am besten mit Mrs. Black in der Halle unten, sie weiß viel darüber."

"Nun werd mal nicht frech, Bürschchen, ich wäre nicht hier, wenn mich nicht die Schulleiterin von Hogwarts herbeordert hätte."

Bei diesen Worten setzte Harry sich schlagartig in seinem Bett auf. Hatte Professor McGonagall die Leitung von Hogwarts übernommen, wusste sie von ihm, hatte Dumbledore mit ihr gesprochen?

"Was sollen Sie mir sagen?"

Phineas Nigellus strich sich langsam über seinen Oberlippenbart, faltete dann seine Hände und sah Harry an, als wäre er ein Ekel erregendes Insekt.

"Professor McGonagall lässt Ihnen mitteilen, dass Sie sie in Hogwarts aufsuchen sollen. Wenn Sie innerhalb der nächsten zehn Minuten Ihren Kamin benutzen und als Ziel Schulleiterbüro angeben, kommen Sie direkt zu ihr."

"Und wie mache ich das? Wo gibt es in diesem Haus Flohpuder?"

"Mein Auftrag ist erfüllt, und wenn es nach mir gegangen wäre…"

Die restlichen Worte konnte Harry nicht mehr verstehen, denn Phineas hatte seinen Rahmen bereits wieder verlassen. Der Junge sprang auf, rannte die Treppe hinunter und hörte kaum die geifernde alte Dame als er die Halle durchquerte. Er wühlte in dem großen Kleiderschrank, öffnete alle Küchenschubladen und schob sich unter die Sitzbänke. Er fand keine Spur des begehrten Puders. Dann hastete er wieder die Stufen hinauf und stellte sich vor den Kamin. Er musste in den nächsten Minuten hier verschwinden. Auf der Ablage über der Kaminöffnung stand eine kleine Dose. Harry ergriff sie, nahm den Deckel ab und sah wirklich Reste von Flohpuder. Das musste reichen. Er drehte sich um, rannte in seinen Raum, schnappte seinen Koffer und eilte zum Kamin zurück. Er stieg hinein, warf alles Flohpuder auf den Boden und war in auflodernden grünen Flammen verschwunden. Nur Sekunden später rollte er auf den Boden eines großen Büros. Er sah auf ein Paar Füße und dann an einem Mantel entlang nach oben bis er auf ein bekanntes Gesicht blickte. Professor McGonagall stand genau vor ihm.

"Harry Potter", sie musterte ihn mit einer Mischung aus Ärger und Besorgnis in ihrem Gesichtsausdruck, dann reichte sie ihm ihre Hand, „nun stehen Sie erst mal auf. Sie sind ja völlig verschmutzt!"

Der junge Mann ließ sich nach oben ziehen und klopfte sich anschließend Staub und Ruß von Hose und T-Shirt. Dann stellte er seinen Koffer neben den Kamin des Büros der Direktorin und wandte sich ihr wieder zu.

"Professor McGonagall, Sie wollten mich sprechen."

"Ja, das wollte ich und ich bin überrascht, wie schnell Sie zu mir gekommen sind. Natürlich freue ich mich darüber, dass es beim ersten Versuch funktioniert hat. Ich kann die Flohverbindung nicht ständig geöffnet halten, eine Schutzmaßnahme. Bitte setzen Sie sich und nehmen Sie sich ein Plätzchen."

Harry erinnerte sich gut, dass hier jeder Widerstand zwecklos war, so nahm er Platz und wählte einen kleinen Keks aus der Schale, die die Hexe ihm hinhielt. Noch nie hatten ihm diese Plätzchen so gut geschmeckt. Er beschloss, diesmal noch ein Zweites zu essen. Die Schulleiterin begab sich hinter ihren Schreibtisch.

"Mr. Potter, es sind zwar zur Zeit Ferien, doch ich bin darüber informiert, dass Ihre Verwandtschaft Sie nur bis zu Ihrem 17. Geburtstag in ihrem Haus wohnen lässt, der ja in einigen Tagen stattfindet, da wollte ich Ihnen anbieten, dass Sie in Hogwarts…"

"Danke, ich komme zurecht, wenn Sie das meinen, ich brauche keine Betreuung."

"Mr. Potter, verstehen Sie mich bitte richtig, ich will nicht Ihr Händchen halten, ich biete Ihnen eine Schlafgelegenheit und eine Versorgung an, die Ihren Bedürfnissen entsprechen. Hogwarts ist ebenfalls Ihr Zuhause. Im Übrigen sind auch Hermine Granger und Ron und Ginny Weasley kürzlich hier eingezogen."

Harry spürte sein Herz schneller schlagen. Für einen kurzen Moment freute er sich, seine Freunde wieder zu sehen. Doch dann gewannen die dunklen Gefühle die Oberhand.

"Es ist mir klar, was Sie sagen wollen. Doch was ich tun muss, muss ich alleine tun. Ich kann keinen anderen mit hineinziehen, schon gar nicht meine Freunde."

Die Schulleiterin beugte sich über ihren Schreibtisch zu dem jungen Zauberer hin.

"Es ist Ihnen nicht klar, was ich Ihnen mitteilen will. Um es deutlich zu sagen, einen Zauberer wie Lord Voldemort besiegt man nicht im Alleingang. Alleingänge sind sein Spezialgebiet, hier ist er unschlagbar. Wir können nur gewinnen, wenn wir zusammenhalten, wenn Freunde sich gegenseitig vertrauen, wenn wir eine starke Gemeinschaft bilden."

Harry schluckte, zum ersten Mal hörte er die Direktorin den Namen des schwarzen Magiers aussprechen. Er spürte Respekt vor der Schulleiterin, sie hatte sich offensichtlich an die Spitze des Widerstandes in Hogwarts gestellt und versuchte, das Schloss zu schützen. Er wusste, dass Lord Voldemort großes Interesse an Hogwarts hatte und sah nun auch, dass McGonagall bisher zumindest erfolgreich gekämpft hatte. Er beschloss, für ein paar Tage hier zu bleiben, vielleicht konnte er so leichter die „Zaubertränke für Fortgeschrittene" aus dem Raum der Wünsche zurückholen.

"Gut, ich werde für einige Tage hier wohnen."

"Ich werde Sie zu nichts zwingen, doch mein Angebot besteht. Wenn Sie es wollen, können Sie sich in Ihrem gewohnten Schlafraum umziehen. Die Mahlzeiten werden wie immer in der großen Halle eingenommen."

Harry spürte den Drang, sich mit seinem Koffer schnell in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors zu verziehen, doch als ihm der Duft der Plätzchen erneut in die Nase stieg, platzte es aus ihm heraus:

"Darf ich noch eins?"

Minerva McGonagall blickte verständnislos auf den Jungen, doch schnell erfasste sie seinen Wunsch und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

"Sie dürfen. Nehmen Sie sich zwei."

Mit einer Handvoll köstlicher Kekse und einem lange nicht gespürten guten Gefühl verließ Harry Potter das Büro der Schulleiterin.