15. Kapitel
Die Elfen von Hogwarts hatten sich selbst übertroffen. Das Frühstück bestand aus ausgesuchten Köstlichkeiten, und alle Schlossbewohner lobten die verschiedenen Speisen und Getränke. Gut gelaunt stärkten sich die anwesenden Lehrer einschließlich Tonks, die von den anderen Zauberern herzlich begrüßt worden war, sowie Harry und seine Freunde für die Arbeit des kommenden Tages. Harry, Hermine und Ron hatten beschlossen, nicht lange zu zögern und ihre Aufgabe nach der Ruhe der Nacht heute in Angriff zu nehmen. Hermine war davon überzeugt, dass ihnen lange Vorbereitung auch nicht weiterhelfen würde, Lord Voldemorts Zauber würden in keinem Buch der Schlossbibliothek verzeichnet sein. Sie hatte sich wohl gefragt, woher Dumbledore diese genauen Informationen über das Versteck des Horcruxes hatte, doch Harry hatte daraufhin allen klar gemacht, dass sie nur die Wahl hatten, Albus Dumbledore zu vertrauen oder es auf eigene Faust zu versuchen. Das wollte keiner. So machten sie sich nach der Mahlzeit auf den Weg, jeder versehen mit seinem Zauberstab in der einen und einer Sammelkarte mit Dumbledores Bild in der anderen Hosentasche.
Die Morgensonne schien über die alten Grabsteine und beleuchtete die kleinen Wassertropfen auf den Gräsern dazwischen. Einige Vögel zwitscherten ihren Gruß an den neuen Tag und hüpften dabei über umgefallene Marmorplatten und Statuen. Ein angenehmer warmer Wind wehte durch die Gräberreihen. Dann wurde die Stille des Friedhofes von drei leisen „Plops" unterbrochen, denen die Geräusche vorsichtiger Schritte folgten. Harry nickte seinen Freunden zu, dies war der richtige Ort. Er erinnerte sich. Er winkte ihnen, ihm zu folgen. Schnell hatte er die Gruft der Riddles gefunden. Hier hatte er eine der schlimmsten Erfahrungen seines Lebens durchgestanden. Lord Voldemort hatte ihn, ans Grab gefesselt, dazu benutzt, einen neuen Körper zu erlangen. Mit Hilfe von Harrys Blut war er zu neuen Kräften gekommen. Danach wollte er den Jungen vor den Augen seiner Todesser grausam hinrichten. Mit größter Mühe war Harry ihm entflohen. Er verdrängte diese Bilder. Heute war er hier, um Lord Voldemort seiner Macht zu berauben. Wenn er erfolgreich arbeitete, gäbe es am Abend dieses Tages einen entscheidenden Teil seines Widersachers weniger. Er betrachtete das Grab. Auf der großen Platte standen die Namen und Lebensdaten Tom Riddles und seiner Eltern. Es war Zeit, zu handeln. Ron, Hermine und Harry bückten sich, ergriffen den Stein und versuchten, ihn abzuheben. Sie keuchten und mühten sie erneut, doch trotz aller Anstrengungen rührte er sich nicht. Ratlos sahen sie sich an. Hermine zuckte mit den Schultern, nahm ihren Zauberstab, berührte die Grabplatte und murmelte: „Alohomora." Sie hörten ein leises knackendes Geräusch und der Stein hob sich einen Finger breit vom Erdboden ab. Harry grinste und Ron seufzte erleichtert. Nun konnten sie den Eingang öffnen.
Sie fanden eine kleine modrige Steintreppe, die in das unterirdische Gewölbe führte. Harry ging voran und erleuchtete die Stufen mit seinem Zauberstab. Hermine folgte ihm und Ron schloss als letzter die Platte hinter der Gruppe. Nun wagten sie wieder zu sprechen.
Ron meinte aufatmend: „Das war nicht schwer."
Harry entgegnete in Erinnerung an sein letztes Abenteuer mit Dumbledore: „Sei vorsichtig Ron, es fängt gerade erst an."
Ron nickte mit dem Kopf und sie stiegen behutsam die Treppe hinunter, bis sie auf festgetretenem Lehmboden zu Stehen kamen. Kaum hatten alle drei die Kammer betreten, hörten sie ein leises Zischen, das sich ihnen aus verschiedenen Richtungen zugleich näherte. Instinktiv zückten sie ihre Zauberstäbe und stellten sich Rücken an Rücken, um der Gefahr zu begegnen. Sekunden später zeigten die Lichtkegel, die von den Spitzen der Stäbe ausgingen, eine große Schar verschiedenster Schlangen, die sich windend auf die Eindringlinge zu bewegten. Schlagartig hob Harry seine Hand.
"Halt, tut nichts, ich kann sie verstehen, sie verlangen ein Passwort. Nur der wahre Erbe Slytherins darf den Gang zur nächsten Kammer passieren. Sie wollen seinen Namen hören."
Hermine überlegte: „Es kann nur Tom Riddle oder Lord Voldemort sein. Dank der Episode mit dem Tagebuch wissen wir, welche Person es ist. Doch welcher von beiden Namen ist der richtige?"
Harry sagte: „Es ist Lord Voldemort. Er verabscheut seinen Vater und dessen Namen. Er hat Lord Voldemort gewählt. Haltet euch bereit!"
Er zischte fremdartige Laute, die sich wie eine skurrile Sprache anhörten, und tatsächlich bewegten sich die Schlangen und umsäumten nun einen Gang, der in eine tiefer liegende unterirdische Kammer führte. Mit weichen Knien schritten sie durch die Spalier stehenden schlanken Schlangenleiber hindurch, bis sie in den nächsten Raum gelangten. Hermine entfuhr ein kleiner Schrei. Schnell legte sie sich die Hand auf den Mund. Der Boden war bedeckt mit Knochen. Von Größe und Form her zu urteilen, mussten es Menschenknochen sein. Sie zählten annähernd 20 Schädel.
Ron bemerkte: "So sieht also ein Friedhof von unten aus."
Harry deutete auf die Mitte des unteren Gewölbes. Dort stand auf einem Sockel eine gläserne Urne, die grünliches Licht ausstrahlte. Im Inneren war als Lichtquelle eine kleine goldene Tasse erkennbar. Die Tasse hatte zwei filigrane Henkel, durch die eine ebenfalls goldene Kette gezogen war, die die Tasse im Glasboden der Urne verankerte. Ron nahm Kurs auf das Gefäß, doch Harry packte ihn augenblicklich und hielt ihn zurück.
"Halt! Du kannst da nicht einfach hinspazieren!"
Ron blickte Harry verständnislos an. Dann weiteten sich seine Augen und spiegelten puren Horror wider. Obwohl der Junge kaum zwei Schritte auf das Glas zugegangen war, entstand unter den Knochen eine seltsame Bewegung. Mit unglaublicher Schnelligkeit setzten sie sich zu Skeletten zusammen und bildeten einen Ring um die drei Schüler und die Urne im Zentrum. Als der Kreis keine Lücken mehr aufwies, zogen die Gerippe den Ring langsam zusammen. Harry schrie:
"Das sind Inferi, schnell, bildet einen Feuerkreis, das ist das einzige, was sie abhält. Nehmt mich und die Vase da in die Mitte."
Ron und Hermine zielten mit ihren Zauberstäben, die nun Flammen ausstrahlten, auf die Knochengerüste und rannten in kleinen Zirkeln um Harry und die Urne herum. Ein großer Feuerwall bildete sich zwischen den Toten und den Lebenden. Er hinderte die Inferi daran, die Jugendlichen auf die Seite des Todes hinüberzuziehen. Harry schritt nun langsam auf das grün leuchtende Glas zu. Als er etwa einen Meter entfernt war, hielt er inne. Er wagte sich nicht, die Hand danach auszustrecken, zu gut war ihm der Pokal in Erinnerung, dessen Inhalt Dumbledore so geschwächt hatte. Doch wie sollte er erkennen, wie er dieses Gefäß entleeren könnte? Wäre doch nur der alte Zauberer hier, er würde herausfinden, welche Magie diese Tasse schützte. Wie sollte er alleine…Harry zuckte zusammen. Dumbledore war hier. Schnell fischte er die Sammelkarte aus seiner Hosentasche und starrte darauf. Der weißhaarige Zauberer war wirklich zu sehen. Er nickte Harry zu und winkte ihn zu sich heran. Der Junge führte die Karte näher an sein Gesicht. Dumbledore deutete auf seine Ohren. Harry stutzte, doch dann verstand er. Er hielt die Karte an sein Ohr. Leise, aber deutlich hörte er Dumbledores Stimme. Wie war das möglich? Er konzentrierte sich.
"Harry, die Tasse in der Urne hat starke magische Kräfte. Sie ist von Voldemort mit einem Legilimentik Zauber versehen worden und kann ihn als wahren Besitzer an seinen Gedanken erkennen. Konzentriere dich auf einen deiner Träume von ihm, und wenn seine Bilder und Gefühle dich ganz erfüllen, beuge deinen Kopf über die Öffnung. Das Horcrux wird dich für Lord Voldemort halten und die Kette wird sich selbständig um deinen Hals legen. Erschrecke dich nicht und berühre weder Tasse noch Kette. Es darf keinen Hautkontakt geben. Deshalb schlage auch deinen Hemdkragen hoch. Lass dir Zeit, bis du ganz auf Voldemorts Gedanken fixiert bist, ich muss dir nicht schildern was geschieht, wenn die Tasse dich nicht akzeptiert. Nur Mut, du kannst sie entnehmen."
Harry steckte die Karte wieder in seine Hosentasche. Er hörte, wie Hermine rief, er solle sich beeilen, sie könne nicht mehr lange so schnell laufen. Er hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen, er musste jetzt darauf vertrauen, dass seine Freunde ihn schützten, auch wenn sie dabei an ihre Grenzen gehen mussten. Langsam tauchten aus der Tiefe seiner Erinnerung die Bilder von der Schlange auf. Harry wusste es, er war die Schlange gewesen. Er kroch auf dem Boden des Ministeriums entlang, er wollte durch diese Tür gelangen, er sehnte sich nach dem, was dahinter lag, er verlangte danach, er begehrte es, er musste es erreichen…Er öffnete seine Augen und lehnte sich vorsichtig über die Urne. Diese hörte auf zu leuchten, das grüne Licht ging nun von einem kleinen goldenen Gefäß aus, das an einer Kette um Harrys Hals hing. Er hielt den Atem an und nickte Ron und Hermine zu, die nun mit letzter Kraft den Feuerring auf den Ausgang zu bewegten. Ron schrie: „Jetzt!" und die beiden gaben den Durchgang frei. Alle schlüpften hindurch. Blitzartig versiegelten sie die Öffnung zur unteren Kammer mit der Feuermauer, so dass die Inferi ihnen nicht folgen konnten. Die Flammen würden eine Zeit lang brennen.
Ron stöhnte: „Mann, war das knapp."
Harry schüttelte den Kopf und erwiderte: „Es ist noch nicht vorbei", als Hermine aufschrie: „Die Schlangen!". Die flackernden Feuerzungen tanzten und zeichneten bizarre Bilder aus Licht und Schatten. Dann erkannte auch Ron die Gefahr.
Mit geschmeidigen Bewegungen schnellten die Tiere von allen Richtungen auf das Trio zu. Das Zischen wurde unerträglich laut. Harrys Stimme zeigte Spuren von Panik als er übersetzte: „Sie sagen, sie müssen nur den Erben passieren lassen, die beiden anderen gehören ihnen." Schreck und Erschöpfung lähmte die Schüler für Sekunden. Als sie ihre Zauberstäbe erhoben, waren die weißen Giftzähne der Vipern nur noch Zentimeter von ihren Gesichtern entfernt. Da brach aus den zuckenden Schatten an der Kammerwand ein gewaltiger Lichtblitz hervor, der das Gewölbe mit gleißender Helligkeit erfüllte. Die Schlangen erstarrten und fielen wie lange dünne Stöcke zu Boden. Alle drei atmeten auf. Ron fragte:
"Was bei Merlins Bart war denn das jetzt?"
Hermine antwortete benommen: „Das war der Versteinerungszauber in einer Stärke, wie ich ihn nie für möglich gehalten hätte."
Harry beschwor seine Freunde: „Diskutiert jetzt nicht, konzentriert euch lieber und helft mir, wir müssen die Tasse vernichten. Aber ich darf sie nicht anfassen und ihr solltet es auch nicht tun, sie gehorcht nur Lord Voldemort. Sie hält mich für ihn, weil ich mir seine Gedanken vorstelle, aber es fällt mir immer schwerer. Schnell!"
Hermine hatte sich von ihrem Schrecken erholt. Sie überlegte: „Wir sind in der Familiengruft der Riddles, Lord Voldemorts Blutsverwandtschaft, vielleicht gibt es eine Möglichkeit, das Horcrux zu täuschen." Dann hob sie ihren Zauberstab und sprach: „Accio Tom Riddles Fingerknochen." Aus einer Öffnung in der Wand schossen kleine weiße Knöchelchen auf Hermine zu. Sie fing sie geschickt auf und klemmte sie wie zwei Gabeln zusammen. Behutsam schob sie diese Knochenzangen unter die Kette und hob sie langsam über Harrys Kopf. Dieser atmete erleichtert auf:
„Hermine, das war genial! Doch wie zerstören wir sie?"
"Lass uns logisch denken. Lord Voldemort hatte die Tasse versteckt, bevor er seine Kraft beim ersten Mordversuch an dir verlor. Er löste sich auf, weil er dich nicht überwinden konnte. Du darfst das Horcrux nicht berühren. Wenn du es anfassen würdest, würdest du es vernichten, aber es würde dich wahrscheinlich erneut kennzeichnen. Das darf nicht geschehen." Hermine hob ruckartig ihren Kopf. „Dein Blut Harry, es ist dein Blut. Er wollte dein Blut, um dich antasten zu können. Dein Blut war für ihn ebenso gefährlich. Lass es in die Tasse laufen."
Sie hielt die Kette mit ausgestreckten Armen in Harrys Richtung. Harry sah sich um. Ron entdeckte eine alte Scherbe, die von einer vermutlich noch älteren Urne stammte. Er reichte sie seinem Freund. Harry holte Luft, biss die Zähne zusammen und ritzte sich vorsichtig den Arm auf. Kleine Bluttröpfchen rannen wie eine Perlenschnur aus der Wunde, dann versiegte der Quell und die roten Punkte waren angetrocknet. Harry setzte erneut an, diesmal stieß er die Scherbe tief in seinen Innenarm. Hellrotes Blut schoss aus der Wunde. Er hob seinen Arm über das Gefäß und ließ sein Blut hineinströmen. Schnell füllte sich die Tasse und die rote Flüssigkeit überspülte den Rand. Nichts geschah. Doch dann begann das Horcrux zu zischen und zu dampfen. Das grüne Licht verlöschte. Die goldene Tasse und die Kette lösten sich auf. Harry wischte sich den Schweiß von der Stirn und presste seine Hand auf die schmerzende Wunde. Hermine schickte die Handknochen mit einem Rückkehrzauber in die Gruft zurück.
Plötzlich stupste Ron Hermine in die Seite und wies zitternd auf die erstarrten Schlangen. Langsame ruckartige Bewegungen der dünnen Körper zeigten ihnen, dass der Erstarrungszauber langsam aufgehoben wurde. Fluchtartig stürmten alle drei die Treppe hoch, hoben den schweren Stein, krochen durch die Öffnung und ließen sich auf den von Sonnenstrahlen erwärmten Rasen fallen. Das helle Tageslicht blendete sie und sie schlossen die Augen. Hinter ihnen versiegelte die Platte das Grab mit einem dumpfen Krachen. Minutenlang lagen sie erschöpft und bewegungslos im Gras.
Schließlich setzten Ron und Hermine sich auf. Sie lächelten sich mit fast zugekniffenen Augen zu. Harry erkannte Erleichterung und die Euphorie des Sieges auf ihren Gesichtern, doch er konnte sich nicht rühren. Von Lord Voldemorts Gedanken psychisch und durch die große Wunde körperlich geschwächt, lag er kraftlos im Gras. Sein Blut floss in den warmen Erdboden. Sein eigener Schweiss durchtränkte seine Kleidung und er fühlte die Kälte der Toten in den umgebenden Gräbern. Er wollte seine Freunde zur Hilfe rufen, doch seine Stimme versagte. Wie lange würden sie sich noch gegenseitig in die Augen schauen, bis sie sich endlich zu ihm umdrehten? Sein Widerstand begann nachzulassen, er wollte Ruhe, nur Ruhe, einschlafen und Frieden spüren. Er hörte eine sanfte Melodie. Sie war schön. Neues Leben schien durch seine Adern zu strömen. Er konnte seinen Kopf drehen und sah einen wunderschönen goldroten Vogel, dessen Tränen auf seine Wunde tropften und sie schlossen. Er konnte sich aufsetzen. Seine beiden Freunde wandten sich ihm nun zu und verfolgten das Schauspiel mit großen Augen. Harrys Erstaunen war grenzenlos: „Fawkes?" Er konnte es kaum glauben. Er fingerte seine Sammelkarte aus der Hosentasche und sah einen lächelnden Albus Dumbledore. Der Zauberer hob die Hände und applaudierte. Dann war der weißhaarige Mann nicht mehr zu sehen. Der Phönix erhob sich und verschwand mit großen Flügelschlägen. Harry besann sich und rief ihm: „Danke!" hinterher. Dann sah er den Vogel nicht mehr.
Hermine und Ron halfen sich gegenseitig auf und zogen anschließend Harry auf die Beine. Ron klopfte seinem Freund auf die Schulter. Dann murmelte er:
"Lasst uns von hier verschwinden."
Harrys Freunde ergriffen seine Arme und sahen sich kurz an. Dann traten sie einen Schritt nach vorne und lösten sich in einem Wirbel auf. Vögel zwitscherten. Warme Sonnenstrahlen beleuchteten die alten Grabsteine. Der Friedhof strahlte wieder die Idylle der unberührten Natur aus.
