19.
Kapitel
Die Direktorin von Hogwarts blickte auf die drei
starren Körper, die vor ihr lagen. Dann schloss sie ihre Augen.
Ihr Kopf schmerzte, die Qualen pulsierten in wiederkehrender
Monotonie, jeder Schlag ihres Herzens brachte eine neue peinigende
Welle mit sich. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und setzte sich
vorsichtig auf ihren Schreibtischstuhl. Durch ein geöffnetes
Fenster wehte eine leichte, kühle Brise in den Raum. Sie ließ
sie in sich hineinströmen. Die Ruhe tat ihr gut.
Sie hatte bereits einen ereignisreichen Tag hinter sich gehabt, als Hermine Granger sie vorhin fast panisch bedrängt hatte. Viele Eltern hatten ihre Kinder nach Hogwarts gebracht, einige Familien hatten angstvoll darum gebeten, ganz dort bleiben zu dürfen. Sie hatte sich mit jedem Einzelnen unterhalten, jeden geprüft und jedem ein passendes Zimmer im Schloss zugewiesen. Sie hatte den neuen Schulbeginn auf den 1. September festsetzen können. Sie hatte Minister Scrimgeour geantwortet, dass sie Hogwarts nicht schließen werde, und falls er versuchen würde, sie dazu zwingen, würde sie sich vom Ministerium lossagen. Sie hatte alle verfügbaren Ordensmitglieder ausgeschickt, um die noch in ihren Wohnungen lebenden fehlenden Mitarbeiter schnellstens ins Schloss zu führen. Anschließend sollten sie weiteren bedrängten Sympathisanten Dumbledores Asyl anbieten.
Nach dem Nachtmahl hatte Hermine Granger sie aufgesucht. Bereits in Schlafkleidung war das Mädchen zu ihr gekommen. Aufgewühlt hatte sie ihr mitgeteilt, dass sie eine Sammelkarte mit dem Bild Dumbledores besitze, wie ihre Freunde auch, und diese in regelmäßigen Abständen kontrolliere. Als sie vor wenigen Minuten darauf geschaut hätte, habe der alte Zauberer ihr gesagt, dass er dringend mit der Schulleiterin sprechen müsse, es bestehe Lebensgefahr, sie solle sich sofort in ihr Büro begeben. Obwohl sie bereits sehr erschöpft war, hatte sie der Schülerin geglaubt und war unverzüglich zum Bild Albus Dumbledores gegangen.
Der alte Mann war ungewöhnlich ernst gewesen. Er hatte sie gebeten, ihm zu vertrauen und ohne große Fragen schnellstens ins Haus der Weasleys zu apparieren und mit Tonks, Molly und Arthur zurückzukehren. Sie hatte deren leblose Körper gefunden, über dem Haus hatte das Dunkle Mal gestanden. Die Todesser mussten den Fuchsbau besucht haben. Nun lagen ihre Gefährten vor ihr auf dem Boden des Büros und bewegten sich nicht mehr. Minerva McGonagall war am Ende ihrer Kräfte angekommen. Tränen der Erschöpfung und der Ohnmacht stiegen in ihre Augen. Sie rieb sich die Stirn und als sie aufblickte, sah sie sich von einem äußerst wachen Albus Dumbledore beobachtet.
"Minerva, ich brauche dich noch. Bitte, ich kann es selbst nicht tun."
Sie nickte mit dem Kopf und atmete tief ein. Ihr Körper revolutionierte. Sie würde sich nicht mehr lange aufrecht halten können.
"Du musst einen starken Zauber ausführen. Doch vorher musst du erst selbst wieder zu Kräften kommen. Ich habe jemanden gebeten, dir zu helfen. Bitte erschrecke dich nicht."
Unmittelbar von den Augen der Schulleiterin erstrahlte eine Stichflamme. Sie zuckte zurück. Dann erkannte sie Fawkes, der nun vor ihr auf dem Schreibtisch stand. Sie blickte erst den Vogel, dann Dumbledore erstaunt an.
"Minerva, bitte lege deine Hand auf die Federn des Phönixes."
Fawkes sah der Schulleiterin in die Augen, dann stieß er einen sanften Schrei aus und beugte seinen Kopf, so dass sie sein rotgoldenes Gefieder erreichen konnte. Vorsichtig berührte sie den Vogel. Sie hörte eine unwirklich schöne Melodie. Diese Weise drang in ihr Herz und von dort aus in ihren erschöpften Körper. Neue Kraft durchströmte sie, die Schmerzen ließen nach und ihre Zuversicht wuchs. Der weißhaarige Zauberer lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück und seufzte. Albus Dumbledore war und blieb ihr letztlich ein Rätsel. Aber er machte ihr Leben spannend, sie mochte ihn wirklich gern. Der Phönix betrachtete die Frau noch einmal eingehend, dann breitete er seine Schwingen aus, erhob sich und verschwand in einem Feuerstrahl. Wo er gestanden hatte, lagen nun drei Zauberstäbe. Er musste sie in seinen Klauen getragen haben. Sie erinnerten Minerva an die traurige Realität, die vor ihr lag.
"Albus, sind das die Zauberstäbe von Tonks, Arthur und Molly?"
Der Zauberer im Bild nickte.
"Es ist wie ein Vermächtnis der Toten. Ich werde die Stäbe der Weasleys ihren Kindern übergeben."
"Minerva, warte", Albus Dumbledore hatte seine Hand gehoben. Er sah sie durchdringend an. „Vielleicht können wir sie zurückholen. Sie haben die Schwelle noch nicht überschritten."
Auf dem Gesicht der Schulleiterin spiegelte sich Entsetzen. Wozu war Albus Dumbledore fähig? Sie vergaß zu atmen.
"Minerva, erschrecke dich nicht. Der Fluch, der sie getroffen hat, tötet nicht sofort. Er hält das Leben für etwa eine Stunde noch fest, ehe er es endgültig vom Menschen trennt. Es ist sehr alte und sehr starke Magie. Ich glaube, wir haben die Möglichkeit eines Gegenzaubers. Du musst ihn ausführen. Bist du bereit?"
Die Hexe war erstarrt, sie sah das Gemälde ihres Vorgängers mit großen Augen an. Nun war sie schon so viele Jahre im Dienst und erfahren in unterschiedlichsten Formen der Magie, aber Zauber dieser Art waren ihr unbekannt.
"Der Fluch, der hier verwendet wurde, funktioniert in ähnlicher Weise wie die Beschwörung, mit der wir die Köder für die zweite Aufgabe des trimagischen Turniers in einen scheintoten Zustand versetzt haben. Sicher erinnerst du dich an Hermine, Ron und Fleur Delacours Schwester, die im See von den Meermenschen bewacht wurden?"
Minerva McGonagall bestätigte Dumbledores Vermutung. Sie hatte seine Beschwörungen von damals genauso detailliert im Gedächtnis wie ihre Verwunderung über die unglaublichen Fähigkeiten ihres Vorgängers.
"Der Zauber, von dem Arthur, Molly und Tonks getroffen wurden, ist um ein vielfaches stärker und kann nur von sehr wenigen Magiern ausgeführt werden. Um ihn wieder aufzuheben, ist ebenfalls der volle Einsatz eines erfahrenen Zauberers oder einer talentierten Hexe nötig. Ich kann dich darauf vorbereiten. Deshalb frage ich dich noch einmal, bist du dazu bereit?"
Die Direktorin nickte bestätigend mit ihrem Kopf.
"Gut, der Zauber besteht in der Übertragung deiner persönlichen Lebenskraft auf die Verfluchten. So kann deren eigenes Leben wieder geweckt und gestärkt werden. Diese Magie funktioniert ohne Worte. Konzentriere dich nacheinander auf jeden Einzelnen der drei. Rufe dir die Persönlichkeit in Erinnerung, lass dich ganz von ihr erfüllen. Dann berühre mit der Spitze deines Zauberstabes ihren Körper an der Stelle des Herzens. Wenn du es mit aller Kraft ersehnst, dass sie leben und deine eigene Stärke dafür einsetzen willst, wirst du spüren, wie ein Teil deiner Lebenskraft von dir weicht und sich durch den Stab auf den Körper überträgt. Er wird langsam ins Leben zurückkehren. Du selbst wirst schwächer werden, aber du kannst es schaffen, wenn du es wirklich willst."
Minerva McGonagall zögerte nicht. Sie näherte sich dem nächstliegenden Körper, der Tonks gehörte, und kniete neben ihm nieder. Sie sah ihr lange ins Gesicht. Dann führte sie ihren Zauberstab langsam zu der Stelle, wo Tonks Herz war. Sie spürte, wie der Stab in ihrer Hand zu glühen begann, dann nahm sie leise gleichmäßige Atemzüge war. Nymphadora Tonks schlief. Sie lebte wieder. Die Schulleiterin erhob sich, sie strauchelte leicht, fing sich aber schnell und begab sich zu Molly. Sie führte dieselbe Prozedur durch und blickte erleichtert auf, als auch Mrs. Weasley wieder zu atmen begann. Ihr Arm war inzwischen schwer geworden, mühsam stand sie auf und schleppte sich nun zu Mollys Mann. Sie fiel fast neben ihn auf den Boden. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, richtete den Zauberstab auf das Herz und hoffte, dass ihre Kraft reichen werde, aber der Stab blieb kalt. War die Zeit schneller vergangen, als sie es empfunden hatte? Hatte sie sich nicht genügend bemüht? Wollte sie am Ende ohne es zu wissen Arthurs Tod? Hilfe suchend sah sie zu Dumbledores Bild. Der zeigte ihr seine beiden Hände und führte sie dann zusammen. Minerva verstand. Sie nahm den Zauberstab in beide Hände, schloss die Augen und wünschte sich aus ganzem Herzen, dass Arthur Weasley lebte. Nun fühlte sie Wärme in ihren Handinnenflächen und bemerkte, dass der Stab sich hob und senkte. Mr. Weasley atmete wieder. Die Direktorin sank neben ihm zu Boden.
Erste Sonnenstrahlen drangen durch das Bürofenster und beleuchteten vier Menschen, die vor dem Schreibtisch lagen und schliefen. Die schwere Turmuhr kündigte mit ihren Schlägen den kommenden Tag an. Minerva McGonagall öffnete vorsichtig ihre Augen, dann setzte sie sich ruckartig auf. Sie sah auf die drei Gestalten, die neben ihr lagen. Alle schliefen und atmeten ruhig. Sie entspannte sich.
"Guten Morgen, Frau Direktorin!"
Sie blinzelte und gähnte: „Albus, auch dir einen guten Morgen."
"Minerva, dir gehört meine Hochachtung, du hast deine Sache sehr gut gemacht. Ich habe allerdings noch eine große Bitte. Du darfst niemandem sagen, was heute Nacht hier geschehen ist, auch Molly, Arthur und Tonks nicht. Dieses Wissen darf dein Büro nicht verlassen. Die drei müssen im Übrigen nun auch in Hogwarts bleiben, bis Lord Voldemort gefallen ist. Es darf nicht bekannt werden, dass sie leben. Nimm ihnen das Versprechen ab, wenn du sie nachher weckst und ihnen ihre Zauberstäbe aushändigst."
"Ich werde tun, was du verlangst, wenn du mir endlich ein paar Antworten gibst. Woher wusstest du, welcher Gegenzauber der richtige ist? Wären die drei wirklich gestorben, wenn ich eine halbe Stunde später gekommen wäre? Ich könnte noch lange weiter fragen. Wann vertraust du mir?"
"Minerva, ich vertraue dir vollkommen. Ich werde dir erklären, was ich kann, doch ich muss meine Helfer schützen. Schenke mir Geduld, die Zeit wird kommen. Und, ja, sie wären gestorben, wenn du dich nur um eine viertel Stunde verspätet hättest. Sie verdanken dir ihr Leben, wie viele andere Zauberer es noch tun werden." Die Augen des weißhaarigen Mannes begannen zu funkeln. Sogar durch das Gemälde war seine Kraft und Entschlossenheit fast körperlich spürbar. „Entreiße sie Lord Voldemort, nimm ihm alle Lebewesen, die du erreichen kannst. Schwäche seine Macht und vernichte ihn!"
Die Schulleiterin erhob sich und blickte den weißhaarigen Zauberer an.
"Albus, du kannst auf mich zählen, doch ich vergesse unsere Abmachung nicht. Ich will Antworten hören. Aber ich gewähre dir Aufschub."
Dann ging sie zum Fenster und ließ ihren Blick über die sonnenbeschienene Landschaft gleiten. Das Schloss sah aus wie ein kostbares, leuchtendes Juwel auf grünem Samt. Es barg ebenso viele Schätze, die sich ihr anvertraut hatten, menschliche Kostbarkeiten, die die Zukunft der Zaubererwelt bedeuteten. Alle Mühe lohnte sich. Die Direktorin von Hogwarts erwartete den kommenden Tag.
