21. Kapitel
Die Direktorin saß in ihrem Büro und bemühte sich, die vielen Pergamentrollen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten, zu bearbeiten. Das Schuljahr hatte vor einigen Wochen begonnen, der geordnete Tagesablauf tat allen Schlossbewohnern gut. Allmählich kehrte der Alltag wieder ein. Die Arbeit, die sie zu bewältigen hatte, war allerdings nicht weniger geworden. Beschwerden verschiedener Eltern bezüglich der angeblich ungerechten Behandlung ihrer Kinder lagen neben sinnlosen Verfügungen des Ministeriums und hingekritzelten Benachrichtigungen ihrer Kollegen, die schon wieder eigenmächtig den Stundenplan geändert hatten, angeblich um die Qualität ihres Unterrichts zu erhöhen. Vorsichtig zog sie die nächste Rolle zu sich heran. Erneut rutschten etliche hinterher und kullerten raschelnd auf den Boden. Minerva McGonagall seufzte. Sie würde rigoros durchgreifen müssen. Inzwischen war sie sich nicht mehr sicher, ob es nicht einfacher war, Lord Voldemort zu bekämpfen, als diese Schule zu führen.
Dabei hatte alles so gut begonnen. Die Eröffnung des Schuljahres war ein richtiges Fest gewesen. Der sprechende Hut hatte die Einwohner eindringlich ermahnt, zusammen zu halten, unter den neuen und alten Schülern waren alle Häuser vertreten, die Neulinge waren von der gesamten Schulgemeinschaft mit Applaus aufgenommen worden. Die magischen Geschöpfe des Verbotenen Waldes hatten zu dieser Gelegenheit durch einen Abgesandten feierlich erklärt, dass sie die neue Direktorin in allen Belangen unterstützen werden. Die Elfen hatten ein wirklich köstliches Buffet zubereitet und herrlich dekoriert. Noch nie hatte sie eine so harmonische Einheit unter der Schülerschaft verspürt. Voller Hoffnungen hatte sie ihre Aufgabe angetreten. Die Euphorie des Anfangs schien vom den Erfordernissen des Alltags inzwischen vollständig aufgezehrt worden zu sein. Sie stützte ihren Kopf mit ihren Händen ab. Albus Dumbledore betrachtete seine Nachfolgerin und ein Lächeln umspielte seine Lippen.
"Minerva, lass dir Zeit."
Die Schulleiterin sah auf.
„Du hast gut Reden. Du schaust mir aus deinem Rahmen heraus zu und kannst dich darüber amüsieren, wie ich hier versuche zu überleben. Es wäre mir lieber, du würdest mir helfen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen, ehe es mir buchstäblich über den Kopf wächst. Haben alle diese Leute denn nichts Besseres zu tun?"
"Ich kann dir helfen, wenn du es zulässt. Ich beobachte dich nämlich schon eine ganze Weile."
Minerva McGonagall verschränkte ihre Arme und blickte Albus Dumbledore direkt an.
"Schön, ich höre dir zu. Fang an!"
"Was du im Moment tust, ist richtig. Lasse all die viele Arbeit liegen und begib dich in Gedanken zu mir in den Rahmen. Du darfst dich auch über mich lustig machen, ich sehe dir an, dass du es tust, aber versuche bitte, dich in meine Position zu versetzen. Dann wirst du auch erkennen, was ich von hier aus bemerke. Ich werde es dir erzählen, vielleicht teilst du meine Eindrücke."
Die Hexe begann Dumbledores Anliegen zu verstehen, ihr Gesichtsausdruck wurde wieder ernst und sie hörte konzentriert zu.
"Ich sehe dich. Du bemühst dich, gibst alles, arbeitest hart, und doch überkommt dich immer wieder die Angst, deiner Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Ich darf dir an dieser Stelle sagen, dass du es sehr gut machst, auch wenn es dir nicht so vorkommt. Doch gehen wir weiter. Wie geht es den anderen Lehrern, wie den Schülern und ihren Familien? Deine Kollegen haben die schwere Aufgabe, trotz der Bedrohung durch die Todesser und die allgemeine Angst vor einem Angriff auf Hogwarts, in ihren Unterrichtsstunden ihren Schülern etwas beizubringen, und es muss auch noch das Richtige sein. Die Kinder müssen lernen, in einer feindlicheren Welt zu überleben. Die Verantwortung der Lehrer ist groß und sie sind verunsichert. Außerdem sind sie sich noch nicht völlig darüber im Klaren, was du von ihnen willst. Ebenso geht es den Eltern. Sie wollen ihre Kinder schützen und wissen nicht, wie sie es gut tun können. Ihr alle steht unter dem Zwang, neue Wege erkunden zu müssen. Es ist für keinen einfach."
Die Schulleiterin nickte mit dem Kopf. Sie musste zugeben, dass die Ansichten ihres Vorgängers zutrafen.
"Minerva, ich rate dir, erfinde nicht viele neue Regeln, wie du es im Moment gerne tun würdest. Unterstütze die Menschen, die hier arbeiten. Mache ihnen Mut, zeige ihnen dein Vertrauen in ihre Fähigkeiten, nimm ihnen die Angst, deinen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Sie schauen auf dich. Du kannst sie dazu bringen, über sich selbst hinauszuwachsen, wenn sie an dir einen sicheren Halt finden. Das ist deine eigentliche Aufgabe", der weißhaarige Zauberer lächelte, „und aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass so die Zahl der Pergamentrollen beträchtlich sinken wird."
Minerva McGonagall lächelte zurück. Was sie früher gearbeitet hatte, hatte sie gerne getan, weil sie wusste, dass sie Dumbledores Vertrauen und Unterstützung hatte. Sie hatte den Freiraum genutzt, den er ihr gelassen hatte und sie hatte sich dabei an seinen Maßstäben orientiert. Nun war es an ihr, die Schulgemeinschaft wachsen zu lassen. Sie hatte ihn verstanden. Dumbledores Bild hatte ein verschmitztes Lächeln angenommen.
"Manchmal muss man freilich auch ein paar unerwünschte Initiativen unterbinden. Wusstest du, dass die Weasley Zwillinge jüngere Schüler nach den Stunden in Verteidigung gegen die Dunklen Künste abfangen? Sie probieren mit ihnen verschiedene Regeln für ihre eigene Version eines alten Spiels aus. Sie suchen die spannendste Variante von „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?". Einige Kinder entwickeln bereits ausgeprägte Horrorphantasien."
Die Direktorin unterdrückte ihr Grinsen und schüttelte den Kopf. Sie würde noch heute mit den beiden reden.
"Minerva, ich möchte gerne noch etwas mit dir besprechen, wenn du Zeit dazu hast. Es ist sehr ernst."
Die Hexe blickte Albus Dumbledore an. Er bewegte sich nicht und wartete hoch konzentriert auf ihre Antwort. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Es musste etwas wirklich Ungewöhnliches vorgefallen sein. Sie stand von ihrem Stuhl auf und stellte sich unmittelbar vor das Gemälde. Der Zauberer nickte ihr zu.
"Du hast von den Gerüchten gehört, dass Lord Voldemort einen Sturm auf Hogwarts plant. Er hatte von Anfang an vor, das Schloss zu übernehmen. Bisher hast du ihn daran gehindert. Doch inzwischen hat er praktisch die Macht im Land übernommen. Minister Scrimgeour ist seine Marionette, wie du richtig vermutet hast. Die Auroren und die Todesser gehorchen dem schwarzen Zauberer. Er wird nicht mehr lange warten, Hogwarts ist die letzte Hürde, die er nehmen muss. Deshalb musst du wissen, wie du ihm widerstehen kannst. Bitte schließe alle Fenster, ziehe die Vorhänge zu und vergewissere dich auch, dass die Tür nicht mehr geöffnet werden kann."
Die Schulleiterin tat, worum Dumbledore sie gebeten hatte. Was hatte er vor? In ihrem Büro war es nun fast dunkel. Sie zündete mit ihrem Zauberstab die Kerzen eines großen Leuchters an und wartete.
"Minerva, du wolltest Antworten. Heute wirst du einige erhalten. Bitte versprich mir, dass nichts von dem, was du jetzt siehst und hörst, über deine Lippen kommen wird. Ich muss auch von dir verlangen, dass du dich damit einverstanden erklärst zu sterben, wenn du in Lord Voldemorts Gewalt gerätst, was ich natürlich mit all meiner Macht versuchen werde zu verhindern. Er darf deine Gedanken nicht lesen oder wir alle haben keine Hoffnung mehr. Bist du damit einverstanden?"
Die Hexe hielt ihren Atem an. Also hatte der Zauberer ihr bisher nichts mitgeteilt, um sie zu schützen. Sie hielt sich am Schreibtisch fest. Ihr wurde klar, dass hier etwas vor sich ging, das wesentlich tiefer reichte, als ein offener Kampf mit dem Ministerium oder einigen Todessern. Und sie verstand, dass sie sich darauf einlassen musste, wenn sie gegen Lord Voldemort eine Chance haben wollte. Mit leiser Stimme sagte sie:
"Ja, Albus, ich bin einverstanden."
"Dann musst du zuerst wissen, dass Lord Voldemort nicht stirbt, wenn er getötet wird. Der Kern seiner Macht besteht darin, dass er sich nahezu unsterblich gemacht hat. Er hat seine Seele in viele einzelne Stücke zerteilt, die alle unabhängig voneinander leben können und ihm die Möglichkeit geben, immer wieder zu erstarken. Ich spreche von der Magie der Horcruxe."
"Es gibt diesen Zauber also wirklich", die Hexe zuckte zusammen, „ich hatte ihn immer für eine Legende gehalten."
"Ja, es gibt ihn, und der Lord hat ihn zur Perfektion getrieben. Keiner weiß, was er getan hat, er hat immer völlig alleine gearbeitet. Durch kleine Hinweise und vieles Nachdenken bin ich ihm auf die Spur gekommen. Sicher war ich mir erst, nachdem ich ein Horcrux zerstört hatte. Das war mein Hauptanliegen in den letzten Jahren. Ich habe alle meine Kräfte für diese Suche eingesetzt. Ich bin an meine Grenze gekommen, ohne das Rätsel vollständig lösen zu können."
"Dann haben wir keine Chance gegen ihn."
"Alles das habe ich dir erzählt, damit du verstehst. Du brauchst dich darum nicht zu kümmern. Das tun andere. Harry Potter und seine Freunde haben vor einigen Wochen den vierten von insgesamt sieben Seelenteilen vernichtet. Sie werden weiter suchen, und sie haben dabei meine Unterstützung. Und sie erhalten Hilfe von jemandem, von dem sie es nicht wissen und auch nicht wissen dürfen. Und auch du musst seine Hilfe weiterhin, ja du hast richtig gehört, weiterhin annehmen, auch wenn es dir vielleicht schwer fällt. Vertraue mir, wie ich dir vertraue, und glaube mir, dass ich Lord Voldemorts Ende will, wie ich es dir glaube."
Der alte Zauberer blickte seiner Nachfolgerin in die Augen. Minerva antwortete:
„Ich habe es dir immer geglaubt."
Albus Dumbledore sah an der Schulleiterin vorbei zur Wand und nickte mit dem Kopf. Diese hörte von dort leise Schritte und drehte sich um. Eine große schwarze Gestalt kam auf sie zu und blieb im Lichtschein der Kerzen stehen. Die Hexe erbleichte, sie trat einen Schritt zurück und strauchelte. Sie hatte nicht vermutet, dieses Gesicht jemals wieder zu sehen. Und nun stand er in ihrem Büro, genau vor ihr. Ihre Stimme versagte fast.
"Severus."
Sie wich weiter zurück, verlor ihr Gleichgewicht und stürzte. Sie versuchte, sich am Tischbein festzuhalten. Doch ihre Hände gehorchten ihr nicht mehr, gelähmt vor Schreck fand sie sich auf dem Fußboden vor dem Schreibtisch wieder. Ihr Herz zog sich zusammen, ihre Erschütterung und ihr Erstaunen verbanden sich zu einem explosiven Gemisch und drohten, sie innerlich zu zerreißen. Der dunkle Zauberer schwieg. Er blickte zu Dumbledore, dann kniete er sich auf den Boden und zeigte Minerva seine leeren Hände. Albus Dumbledore sagte leise:
"Er hat es getan, weil ich es wollte. Er wollte es nicht."
Stille erfüllte den Raum. Die Schulleiterin brauchte lange Minuten, um zu begreifen, dass das wahr war, was sie im Tiefsten immer vermutet hatte. Sie hatte es nie zugeben wollen, sie hätte es nie begreifen können. Dieses Wissen war fast ungeheuerlicher als die Version der Wirklichkeit, die sie bisher angenommen hatte. Welches Opfer hatte Dumbledore gebracht, welches unglaubliche Opfer hatte er von seinem Freund verlangt? Was war noch nötig, um Lord Voldemort zu bekämpfen? Ihre Erstarrung begann, sich zu lösen. Mühsam stand sie auf. Sie atmete tief ein und suchte nach Worten.
"Severus ist dein Spion bei Voldemort, er führt deine Arbeit weiter. Severus hat Arthur, Molly und Tonks nicht getötet, er hat sie gerettet. Severus ist es, den sie hinrichten wollen."
Dann ging sie langsam auf den dunklen Zauberer zu. Sie blickte ihm ins Gesicht. Wie oft hatte sie diese schwarzen Augen gesehen. Wie viel hatte sie von dem geahnt, was sie verbargen und wie wenig davon geglaubt. Sie reichte ihm ihre Hand und sagte leise:
"Willkommen daheim."
Der Tränkemeister umfasste Minervas Hand mit seiner eigenen und erhob sich. Der schwarze Stoff seines Umhangs legte sich um seine Beine und seine langen schwarzen Haare fielen auf seine Schultern, als er sich vor ihr verneigte. Ein merkwürdiger Frieden zog in das Herz der Schulleiterin ein.
"Es ist schön, dass du wieder da bist, Severus."
"Minerva, ich bin hier, um mit dir zusammen die Schutzwälle um das Schloss herum undurchdringlich zu machen. Ich gebe zu, dass deine Bemühungen bisher gar nicht so schlecht waren. Aber ich muss dich auf einige bedrohliche Sicherheitslücken aufmerksam machen. Lord Voldemort hat nun mehr Möglichkeiten, als du dir vorstellen kannst. Zeig mir die Karte, die du Harry Potter abgenommen hast!"
Die Direktorin presste ihre Lippen zusammen. Sie spürte Empörung in sich aufsteigen. Schon lange war sie nicht mehr in dieser Weise behandelt worden. Sie fühlte sich wie eine Schülerin der ersten Klasse, die eine mittelmäßige Arbeit abgegeben hatte. Doch dann zuckten ihre Mundwinkel und Lachfalten bildeten sich um ihre Augen. Es war wirklich Severus und sie war sehr froh darüber.
"Komm mit zum Schreibtisch!", sie fegte mit ihrem Zauberstab kurzer Hand alle Pergamente auf den Boden und zog die Karte des Herumtreibers aus der geheimen Schublade. „Übrigens woher weißt du, dass ich sie habe?"
"Wenn du ein wenig nachdenkst, kannst du selbst darauf kommen. Oder glaubst du wirklich, dass Professor Flitwick sich für schwarzmagische Barriereflüche interessiert und ein Vertrauter Harry Potters ist?"
Minerva McGonagall stand wie angewurzelt an ihrer Schreibtischplatte. Ihr Verstand arbeitete. Sie schluckte. Sie musste sich eingestehen, dass sie ihrer Verwunderung über den Fund des kleinen Lehrers nicht nachgegangen war. Ein solcher Fehler durfte ihr nicht wieder unterlaufen. Nun erkannte sie die Zusammenhänge.
"Vielsafttrank. Du warst es."
"Du hast eine gute Beobachtungsgabe. Du solltest sie öfter nutzen."
Die Direktorin drehte ihren Kopf zu dem dunklen Zauberer hin, der inzwischen neben sie getreten war, und blickte ihm in die Augen. Sie lächelte ihn an.
"Severus, ich danke dir für deine Hilfe. Lass uns nun an die Arbeit gehen."
Gemeinsam beugten sie sich über den Plan, der die vielen Gänge und Zimmer Hogwarts zeigte und erörterten jede mögliche Gefahr und jedes Detail eines Schutzzaubers. Die Schulleiterin war erstaunt darüber, wie gut sich der Tränkemeister im Schloss auskannte und nahm dankbar sein Angebot an, kritische Zugänge selbst noch einmal zu versiegeln.
"Severus, ich muss dir zum Schluss noch etwas sagen. Ich glaube, dass es dir nicht neu ist, dass Harry Potter dich nicht leiden kann. Doch deine Gegner, die sich besonders um seine Person versammeln, werden zahlreicher. Ich weiß, dass Nymphadora Tonks in ihrem Unterricht, sie hat die Verteidigung gegen die Dunklen Künste übernommen, mit den Schülern recht schwarze Magie übt, die sie einem Buch entnimmt, das Harry ihr gegeben hat. Wenn ich richtig informiert bin, haben sie das geheime Ziel, dich damit zu töten."
Zum ersten Mal huschte ein leises Lächeln über das Gesicht des schwarzhaarigen Mannes.
"Minerva, ich kenne dieses Buch. Ich habe es selbst beschriftet. Harry hat es erhalten, damit er daraus lernt. Es war geschickt von ihm, es einer erfahrenen Hexe zur Bearbeitung zu geben. So viel Intelligenz hätte ich ihm nicht zugetraut. Ein solcher Schachzug passt eher zu Hermine Granger."
Die Schulleiterin schmunzelte. Dann sagte sie: „Severus, wann sehe ich dich wieder?"
"Ich fürchte, das wird eher geschehen, als dir lieb ist. Lord Voldemort wird zunehmend unberechenbarer", ein dunkler Schatten überzog sein Gesicht, „Minerva, sei bereit, ich werde dich informieren."
Er verneigte sich leicht vor ihr, dann begann er, sich vor ihren Augen aufzulösen. Sekundenbruchteile später sah sie ihn nicht mehr, nur das verschlossene Fenster, vor dem er gestanden hatte. Sie blickte zu Dumbledore. Der alte Zauberer lächelte im Schlaf. Sie zog die Vorhänge zurück und löschte die Kerzen. Dann öffnete sie die Fenster und mit der frischen Luft kehrte das Licht des hellen Tages in ihr Büro zurück.
