23. Kapitel

Er mochte dieses abendliche Gemurmel. Harry saß zusammen mit Ron, Hermine und etlichen anderen Gryffindors in seinem Lieblingszimmer, dem Gemeinschaftsraum im Turm. Im Kamin prasselte ein behagliches Feuer, das die aufziehende nächtliche Kälte nicht spüren ließ. Heute hatte es zum ersten Mal richtig geschneit. In den Pausen zwischen den Schulstunden hatten sie sich mit Schneebällen beworfen. Die verhexten Bälle von Fred und George hatten Grimassen geschnitten und kurz vor dem Aufprall eine lange weiße Zunge herausgestreckt. Dieser Tag hatte Harry gefallen. Es war fast wie früher. Außer dass Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu seinem ausgesprochenen Lieblingsfach geworden war. Tonks hatte nicht übertrieben, als sie sagte, dass die neue Lehrerin hohe Ansprüche haben würde. Sie verlangte hartes Training und großes Hintergrundwissen in den anderen Fächern. Sie bezog alle geistigen und körperlichen Fähigkeiten in die Kampfübungen ein. Unter Tonks Anleitung untersuchten sie gemeinsam alle Flüche, die in den „Zaubertränken für Fortgeschrittenen" verzeichnet waren. Die Schüler der 7. Klasse empfanden ihre Stunden weniger als Unterricht im üblichen Sinne, sondern fühlten sich vielmehr wie Entdecker, die alle ihre Fähigkeiten einsetzten mussten, um Erfolg zu haben. Zum ersten Mal in seinem Leben brannte Harry darauf, in der Bibliothek neue Feinheiten zu verschiedenen magischen Wirkungen aufzuspüren. Er verbrachte Stunden damit, alle Einzelheiten zusammenzutragen. Und er merkte, dass er wirklich gut wurde, und dass es im Ernstfall nicht nur auf Mut und schnelle Reaktion ankam, sondern genauso auf Wissen und Erfahrung. Wie hatte Hermine es ausgedrückt? Du musst dich nicht nur verteidigen können, du musst dich auch damit auskennen, wie man sich tarnt, wie man angreift, auch wie man Wunden heilt, kurz, du brauchst dein gesamtes Schulwissen. So hatte er schließlich die Bedeutung seiner einzelnen Fächer erkannt, er konnte sie nun verbinden und lernte so ernsthaft, wie er es in all den Jahren vorher nie getan hatte.

"Hey, Harry, komm zu uns rüber, wir spielen Schaurigschwarzes Weasleyschach", rief Ron, „du musst Fred helfen, sein Lord Voldemort musste sich schon wieder zurückziehen, weil meine McGonagall einen seiner Todesser vom Platz geschlagen hat."

"Unsinn", konterte Fred, „das war ein strategisches Opfer, warte nur, bis meine Dementoren kommen."

"Angeber, pass lieber auf deinen Snape auf, mein Harry ist schon im Anmarsch."

Harry grinste und schob sich aus seinem gemütlichen Sessel nach oben. Hermine, George, Neville und einige jüngere Schüler standen schon im Kreis um den Tisch herum und verfolgten die Spielzüge. Besonderen Beifall fanden die verschiedenen Versionen, wie geschlagene Figuren verschwanden. Fred und George hatten ihrem Einfallsreichtum freie Bahn gelassen. Manche explodierten in buntem Rauch, andere zerflossen auf dem Spielfeld, manche stürzten sich sogar von der Tischplatte und lösten sich in grünen Schwaden auf. Jedes Mal gab es Gelächter und Applaus. Hermine zog sich kichernd zurück und ging zu einem der Fenster. Sie sah gedankenverloren hinaus und zog fast mechanisch eine kleine Karte aus ihrer Hosentasche. Während sie darauf blickte, erstarrten ihre Gesichtszüge. Harry hatte ihre Bewegung aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen und begab sich leise zu ihr. Sie flüsterte:

"Zeig mir deinen Dumbledore. Meiner sieht ungewöhnlich erschöpft aus. Er ist bleich, sein Schlaf ist sehr unruhig."

Harry fingerte seine Sammelkarte hervor: „Meiner ist ebenfalls kreideweiß im Gesicht. Da stimmt etwas nicht. Gehen wir zu McGonagall?"

"Sofort!" Hermine nickte Harry zu und sie verließen den Gemeinschaftsraum unauffällig. Die beiden fanden ihre Direktorin in ihren Privaträumen, sie wirkte aufgebracht, als sie die Tür öffnete, sie trug noch ihre Tageskleidung. Hermine ergriff das Wort:

"Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie so spät noch stören, wir…"

"Kommen Sie herein", die Hexe hielt ein Pergament in den Händen und zitterte vor Wut, "und hören Sie sich das an." Sie schloss die Tür. „Hier. Das habe ich eben mit einer Eileule bekommen. Dies ist eine Anordnung des Ministeriums für Zauberei, seit heute umbenannt in Regelüberwachungsstelle der Gesetze Lord Voldemorts, kurz des Lords. Hiermit ordnen wir an, dass das abbruchreife ehemalige Schloss Hogwarts umgehend von den staatsfeindlichen Elementen, die darin ihre Behausung gefunden haben, befreit wird. Ergeben Sie sich und stellen Sie sich dem Zauberergamot oder Sie werden im Sinne des Gemeinwohls mit Gewalt entfernt. Es erfolgt keine weitere Aufforderung. Gezeichnet, Rufus Scrimgeour, oberster Sprecher des Lords, ehemals Minister für Zauberei."

"Das erklärt unsere Beobachtung", Hermines Gesichtsfarbe näherte sich ebenfalls einem hellen Weiß, „dem Dumbledore auf unseren Karten scheint es sehr schlecht zu gehen. Deshalb sind wir hier. Vielleicht sollten wir in ihr Büro gehen."

Die Schulleiterin zog ihre Karte hervor. Sie zuckte zurück.

"Nein, wir verlieren zu viel Zeit, bleiben Sie hier." Sie schüttelte ihre Karte und hielt sie an ihr Ohr. Dann erbleichte auch sie. „Wir müssen sofort handeln. Lord Voldemort hat die Dementoren geschickt. Er hat herausgefunden, dass er nicht in das Schloss eindringen kann. Es wird vorerst keinen direkten Kampf geben. Die Dementoren sollen uns einkesseln und seelisch aushungern. Sie können helfen, rufen Sie alle Lehrkräfte, alle Ordensmitglieder und alle Zauberer, die einen Patronus zustande bringen, schnellstens in die große Halle zusammen."

Harry und Hermine nickten, öffneten die Tür und rannten los. Sie teilten sich, Hermine lief links herum, Harry nahm den rechten Weg. Am Ende des Ganges schon traf er auf Ron und die Zwillinge, die mit erschreckten Gesichtern auf ihn zukamen.

"Harry, was ist los, wir haben euch beobachtet und auch unsere Dumbledorekarten kontrolliert.Was stimmt hier nicht?"

"Dementoren werden Hogwarts angreifen. Alle Zauberer, die einen Patronus beherrschen, sollen sofort in die große Halle kommen, Anordnung von McGonagall."

Viele Füße trugen die Botschaft durch das Schloss und binnen weniger Minuten waren das gesamte Kollegium, alle verbleibenden Ordensmitglieder, viele Eltern und auch etliche Schüler der 7. Klasse versammelt. Sie schwiegen und sahen zu Professor McGonagall.

"Unser Ernstfallplan tritt in Kraft. Die Präfekten versammeln ihre Häuser wie geübt in den Schlaf- und Gemeinschaftsräumen. Das Schloss ist so gut gesichert, dass vorerst für keinen eine direkte Gefahr besteht. Lord Voldemort wird versuchen, uns mit seinen Dementoren zu bedrohen. Wir werden sie mit unseren vereinten Kräften fernhalten können. Alle, die einen Patronuszauber beherrschen, werden auf mein Zeichen hin einen Ring um das Gebäude bilden. Halten Sie Ihre Dumbledorekarten bereit. Wenn Albus seine Hand hebt, senden Sie Ihren stärksten Patronus in den Himmel und halten ihn, bis Albus seine Hand wieder sinken lässt." Sie blickte in die Runde und nickte ihrer Schulgemeinschaft zu. „Lasst uns gehen!"

Die Zauberer und Hexen eilten aus der großen Halle und strömten durch das Schlosstor. Fast alle hatten ihre Besen herbeigerufen und flogen schnellstens um die Mauern herum, um ihren Platz für einen lückenlosen Ring zu finden. Harry, Ron und Hermine hatten in der Nähe des Astronomieturmes Position bezogen. Sie hielten ihre Zauberstäbe in der einen Hand bereit, mit der anderen kontrollierten sie die Dumbledorekarte. Der Zauberer schlief mit unbewegter Miene. Die Sterne funkelten am winterlich klaren Nachthimmel. Harry blickte suchend nach oben. Ihn fröstelte, doch die Kälte drang nicht in ihn ein. Die wenigen dunklen Schatten, die er zu erkennen glaubte, mussten kleine Wolken sein. Er drehte sich zu Hermine um. Sie nickte ihm zu und lächelte. Er lächelte zurück, ja, sie würden es schaffen. Vereint waren sie stark genug, um ein ganzes Heer von Dementoren aufzuhalten. Ron stand auf seiner anderen Seite. Er wirkte angespannt, fand Harry, doch sein Blick war wild entschlossen. In diesem Zustand würde er seinen Freund nicht als Gegner haben wollen. Er schaute wieder nach oben. Einige Nachtvögel zogen leise säuselnd ihre Kreise über dem Turm. Die Dunkelheit strahlte Stille aus. Ihm kamen allmählich Zweifel, war es vielleicht ein Fehlalarm, wollte Lord Voldemort nur ihre Kampfbereitschaft testen? Seine Gedanken begannen abzuwandern. Dann zuckte er zusammen. Etwas war anders als vorher. Sein inneres Warnsystem hatte ihn geweckt. Er streckte seinen Kopf nach oben, doch von Dementoren war keine Spur zu erkennen. Dumbledore schlief nach wie vor. Er lauschte, aber kein Geräusch war zu hören. Er erstarrte. Das war es, die Nachtvögel waren verschwunden. Er packte seinen Zauberstab fester und hielt sich die Karte direkt vor die Augen. Seine Freunde sahen ihn und rissen ihre Stäbe ebenfalls in die Höhe.

Dumbledore schlug die Augen auf, hob den Kopf und streckte seine rechte Hand mit seinem Zauberstab nach oben. In hellem Licht entschlüpfte dem Stab eine silberne Phönixgestalt und verschwand im oberen Kartenrand. Er hatte seinen Patronus ausgesandt. Harry streckte seinen Arm nach oben. Seinem Zauberstab entsprang ein großer leuchtender Hirsch und galoppierte in den schwarzen Nachthimmel. An seiner Seite lief ein glänzender Otter. Bald war das Sternenzelt erfüllt mit vielen hell silbernen Schutzzaubern, manche gestaltlich, andere als schimmernde Wolken, die lebhaft durch die Lüfte tanzten. Nun bemerkte Harry, dass die Sterne verschwunden waren. Scharen von Dementoren verdunkelten die kleinen Lichtquellen und begannen, ein dichtes Gewölbe um das Schloss zu bilden. Schon meinte er, die innere Kälte wachsen zu spüren. Er bekam Angst. Binnen kurzer Zeit mussten die Dementoren eine Lücke finden, und dann würden sie Hogwarts in Traurigkeit begraben, bis kein Zauberer und keine Hexe mehr Widerstand leisten konnte. Sie würden die Schule in ein neues Askaban verwandeln. Hogwarts würde in die Hände Lord Voldemorts fallen. Da schoss von der Spitze des Astronomieturmes aus ein gewaltiger, blau silberner Strahl in den Himmel. Er teilte sich in viele einzelne Lichtfäden, die sich verflochten und wie ein Netz um die Schule herum kuppelartig zu Boden fielen. Die vielen Patroni verfingen sich in diesem Geflecht und schienen dort zu erstarken. Sie hüpften und sprangen entlang der Fäden, als ob sie Freude daran hätten. Der blaue Strahl entlud sich in das Lichternetz. Harry kniff die Augen zusammen. Auf dem Turm konnte er eine Gestalt erkennen, den Umrissen nach musste es Professor McGongall sein. Und da war noch etwas, er stutzte, dann sah er es nicht mehr. Er hätte schwören können, dass eine zweite Person neben ihr gestanden hatte. Oder waren es nur die Lichtreflexe gewesen, die seine Augen täuschten? Das Geflecht war nun dicht und stabil, es zeigte keine Durchschlüpfe mehr.

Die Dementoren umschwirrten das helle silberne Netz wie riesige Mücken, die auf eine Lücke hofften, um ihre Opfer doch noch zu erreichen und ihnen die Lebenskraft auszusaugen. Doch der Schutzwall hielt und wurde durch die wachsende Zuversicht der Zauberergemeinschaft noch verstärkt. Hogwarts erstrahlte in hellem Licht. Nach und nach ließen nun einzelne ihren Zauberstab sinken und zogen sich wieder ins Schloss zurück. Ihr Dumbledore musste seinen Arm herunter genommen haben. Die Reihen lichteten sich. Als er schließlich das Zeichen bekam, steckte auch Harry seinen Zauberstab wieder in die Tasche. Er ergriff seinen Besen und flog eine Runde um das Schloss. Er zählte insgesamt noch fünf Personen, die nun alleine das Gewölbe aufrechterhalten konnten. Beruhigt landete er vor dem Schlosstor, schickte seinen Besen zurück und folgte den anderen in die große Halle, wo Ron und Hermine schon auf ihn warteten. Er schien der Letzte gewesen zu sein, denn hinter ihm schloss Hagrid die Tür und die Schulleiterin bat mit einem Handzeichen um Aufmerksamkeit.

"Wir haben es geschafft! Ich danke euch allen!"

Jubel brach aus und alle Zauberer applaudierten. Die Direktorin hob erneut ihre Hand, und es kehrte wieder Ruhe ein.

"Hogwarts ist nun sicher, und die Dementoren können uns nicht erreichen. Doch unser Kampf gegen Lord Voldemort hat gerade erst begonnen. Wir brauchen jetzt Gruppen von jeweils fünf Zauberern, die abwechselnd das Netz mit ihrer Magie bestärken. Ich werde einen Plan erstellen und jedem seine Zeitspanne und Position mitteilen. Wir sind nun aufeinander angewiesen. Jeder muss mit allen seinen Kräften mithelfen, das Schloss zu sichern, es darf keine Lücken im Netz unseres gegenseitigen Vertrauens geben. Ich vertraue euch, wir haben die Kraft zu siegen. Die Zukunft liegt in euren Händen!"

Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum. Ron, Harry und Hermine blickten sich erleichtert an. Harry nickte mit dem Kopf, es würde kein einfacher Weg werden, doch wenn sie es wirklich wollten, würden sie gemeinsam den Siegeszug Lord Voldemorts in Hogwarts aufhalten können. Hermine raunte ihm zu:

"Jetzt merkt der Lord zum ersten Mal, wie es ist, wenn sich ihm geballter Widerstand entgegenstellt. Hoffentlich ist es eine schmerzhafte Erfahrung!"

Harry grinste. Dann legte er den Finger auf seinen Mund und deutete nach vorne. Professor McGonagall wollte etwas sagen.

"Ich bitte euch alle, nun in eure Schlafräume zurückzukehren und Kraft für den morgigen Tag zu sammeln. Der Schulbetrieb wird wie gewohnt fortgesetzt, ich hoffe, dass alle Schüler ihre Hausaufgaben gewissenhaft gemacht haben!" Ein feines Lächeln umspielte ihre dünnen Lippen. "Ich wünsche euch allen eine gute Nacht!"

Die drei kehrten mit einigen anderen Siebtklässlern in den Gryffindorturm zurück. Ein paar jüngere Schüler saßen noch vor dem Feuer und hatten sich Weasleys schaurigen Schachspiels bemächtigt. Einer von ihnen klagte:

"Jetzt habe ich Lord Voldemort geschlagen, und er will sich einfach nicht auflösen. Das ist gemein!"

Harry blickte Hermine vielsagend an. Sie schluckte. Ron legte seinen Arm um sie und sagte:

"Seine Zeit wird kommen. McGonagall und Dumbledore machen das schon. Und wir haben schließlich noch unseren Harry."

Harry versuchte zu lächeln: „Und der geht jetzt schlafen, denn wir müssen morgen Tonks Stunde überleben. Nur Mut, der Anfang ist geschafft!"

Hermine nickte mit dem Kopf und ging schweigend die Treppe zum Schlafsaal hinauf. Ron klopfte Harry auf den Rücken, dann scheuchten die beiden die wenigen verbleibenden Schüler in ihre Betten und löschten die letzten Kerzen, bevor sie selbst zu ihrem Schlafsaal hoch stiegen. Durch die Fenster glitzerte silbernes Licht. Das Feuer im Kamin prasselte und die Flammen würden noch bis tief in die Nacht hinein angenehme Wärme verbreiten.