24. Kapitel

Dichter Schnee bedeckte die Dächer des Schlosses, und auch der Verbotene Wald musste inzwischen tief verschneit sein. Harry lehnte sich an die breite Schlossmauer an, ließ seine Augen zufallen und versuchte, sich den Anblick der weißen Landschaft vorzustellen. Eine dicke Eisschicht lag auf dem See, leichter Wind fegte weiße Flocken vor sich her. Sonnenlicht ließ die Kristalle in vielen verschiedenen Farben funkeln. Schnee rieselte von den hohen Bäumen. Er liebte diese weiße Pracht. Doch als er aufblickte, flimmerte vor seinen Augen das verwirrende Spiel aus Licht und Dunkel, an das er sich auch nach einigen Wochen noch nicht hatte gewöhnen können. Vor den Strahlen der Wintersonne huschten Scharen schwarzer Schatten und vor diesen wiederum tanzten silberne Tiere auf einem bläulich schimmernden Netz. Er hielt sich beide Hände vor sein Gesicht und seufzte. Dann ließ er sie wieder sinken, streckte sich und begutachtete die vielen Patroni, die die Dementoren auf Abstand hielten. In diesem Jahr hatte das Weihnachtsfest ohne die schön geschmückten Tannenbäume aus dem Wald stattfinden müssen. Aber sie hatten es als freie Zauberer und trotz allem mit viel Freude und schönen Geschenken feiern können. Er musste schmunzeln, als er an die vielen Pullover dachte, die Mrs. Weasley dieses Mal gestrickt hatte. Nun verbrachte Harry wie schon oft seine Winterferien in Hogwarts, doch für viele seiner Mitschüler war es eine neue Erfahrung. Nach den Feierlichkeiten konnte er immer öfter Gruppen von Schülern in den Gängen beobachten, die heftig miteinander diskutierten. Manche trauerten den berühmten Quidditch Spielen nach, andere erzählten wehmütig von den beliebten Ausflügen nach Hogsmeade und einige wenige schließlich begannen zu überlegen, ob es nicht vielleicht besser wäre, unter Lord Voldemorts Herrschaft wieder in ihre Häuser zurückzukehren. Harry musste sich gestehen, dass er alles gegeben hätte, um wieder auf seinem Besen zu sitzen, durch das Stadion zu fliegen und den goldenen Schnatz zu jagen. Oder fast alles, denn um nichts in der Welt würde er seine Freiheit opfern und Lord Voldemorts Befehlen gehorchen wollen. Er hatte ihn erlebt.

Von weitem vernahm Harry laute Stimmen. Er ging vorsichtig zum Schlosstor, beugte den Kopf nach vorne und sah nach innen. Eine Horde Erstklässler rannte vor seinen Augen vorbei und verschwand in Richtung der großen Halle. Er folgte ihnen ein Stück weit. Da kamen Hermine und Ginny kichernd auf ihn zu. Er hörte Ginny sagen:

"Hast du das gelesen? Montagmorgen 10.00 Uhr startet Weasleys wichtige Winterferienakademie: Allerlei anregende Aktivitäten. Auf geht´s, alle anrücken! Die zwei haben doch nur Blödsinn im Kopf. Ich gehe hin und sehe es mir an."

"Es wird auf jeden Fall alles andere als langweilig. Wir müssen nur aufpassen, dass es nicht zu gefährlich wird, wenn sie sogar die Kleinen mitmachen lassen. Oh, hi Harry!"

"Hi, Hermine! Was habe ich da eben gehört? Fred und George bieten so eine Art Ferienspaß an? Ich vermute, dann müsste es richtigerweise heißen, zweifelhafter Unsinn zur Unterhaltung der Zwillinge oder so etwas Ähnliches."

"Ginny, Harry, wir gehen sofort hin!"

Hermine beschleunigte und gemeinsam folgten sie den Schülergruppen, die aus allen Gängen zur großen Halle strömten. Fred und George standen an der Eingangstür und begrüßten alle Neuankömmlinge wie Herrscher ihre Untertanen beim Triumphzug. Mit theatralischen Gesten wiesen sie die Schüler in die große Halle.

"Hier entlang, bitte, meine Herrschaften, tretet ein in die Welt der Weasleys und deren Wunder. Durchquert die Pforte zu allerlei Abenteuern und Gefahren. "

Als sie alle Bewerber in dem großen Raum um sich versammelt hatten, und es waren viele, denn fast alle Schüler waren gekommen, hoben sie gebieterisch die Hände, das Publikum verstummte und sah sie erwartungsvoll an. Fred verbeugte sich und ergriff das Wort.

"Meine sehr verehrten Damen und Herren, ihr habt beschlossen, an der wichtigen Winterferienakademie teilzunehmen. Diese Entscheidung wird euch jeglicher Langeweile entreißen, dafür garantieren wir, doch es gibt kein Zurück. Deshalb bleibt nur hier, wenn ihr euch ganz sicher seid, dass ihr die ganze Woche durchhalten könnt. Wer lieber zu seinen Eltern zurückkehren will, um sich stattdessen gute Ratschläge anzuhören, sollte das jetzt tun!"

Er erntete Gelächter. Keiner verließ den Raum, und die wenigen Unsicheren wurden von ihren Freunden überredet, doch noch teilzunehmen.

"An jedem neuen Tag werden euch neue Gefahren und Herausforderungen erwarten. Ihr werdet am Ende der Woche dankbar sein, dass ihr wieder in den ruhigen Schulunterricht zurückkehren könnt. Wollt ihr das? Dann hebt jetzt die Hand!"

Alle Hände schossen in die Höhe und auf den Gesichtern zeigte sich freudige Spannung.

"Gut, ihr habt euch entschieden, jetzt heißt es zeigen, was ihr könnt. Hört mir zu. Wir werden uns gleich aufteilen, und zwar nach Jahrgängen und Häusern. Das erste und zweite Schuljahr kommt zu George und mir. Wir werden einen harten Gegner bekämpfen. Ihr wisst die Antwort auf die Frage, wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Ja, hervorragend, denn wir werden ihn und seine Leute durch das ganze Schloss jagen oder er wird uns fangen. Macht euch bereit. Das dritte, vierte und fünfte Schuljahr geht zu unserer bezaubernden Assistentin Angelina Johnson." Er lächelte der jungen Frau zu, die ihn verschmitzt anblickte. „Und vergesst eure Besen nicht, denn unsere beste Fliegerin wird ihren Patronus, der die Form eines silbernen Schnatzes hat, ins Netz vor dem Schloss schicken. Ihr werdet alle eure Flugkünste benötigen, um ihn schneller als eure Gegner wieder einzufangen. Die Sechst- und Siebtklässler begeben sich zu unserer verehrten Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste, Nymphadora Tonks, der wir jetzt schon herzlich für ihre Mitarbeit danken. Eure Aufgabe wird darin bestehen, einen Dementor zu besiegen, den wir speziell für euch verpflichtet haben. Ihr müsst zaubern wie die Profis und Nerven wie Drahtseile haben. Wir hoffen, euch heute Abend alle wohlbehalten wieder zu begrüßen, um euch die Herausforderungen für morgen vorzustellen. Natürlich werden wir Punkte für die Sieger verteilen und bei unfairem Verhalten welche abziehen. Am Ende der Woche winkt der Preis für das Haus, das am besten zaubern kann und deren Mitglieder perfekt zusammenarbeiten können. Es ist eine Siegesparty, ausgerichtet von unseren Elfen nach euren Wünschen und gesponsert von unserer Direktorin Minerva McGonagall. Sie lebe hoch!"

Er riss beide Arme in die Höhe. Donnernder Applaus antwortete ihm, dann liefen alle kreuz und quer durch die große Halle, um ihre Gruppen zu finden. Fred und George sowie Angelina und ihre Freundin verließen mit ihren Schützlingen den Raum, um ihre Wettkämpfe vorzubereiten. Harry, Hermine, Ron und etliche weitere ältere Schüler bildeten nun einen Kreis um Nymphadora Tonks, die heute dunkelgrüne lange strähnige Haare trug und entfernt an eine Meermenschenfrau auf dem Trockenen erinnerte. Harry merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. Es konnte nicht sein, dass die Zwillinge einen Dementor eingefangen hatten. Er blickte zu Tonks. Ihr Gesichtsausdruck war unbewegt, er konnte ihn nicht deuten. Würde sie ihre Schüler schützen können, oder hatte auch sie insgeheim ihre Freude an der Angst ihrer Schutzbefohlenen? Harry dachte an ihren Vorgänger und verkrampfte sich noch mehr. Doch im gleichen Moment begann wie auch früher schon seine Kraft zu erstarken. Seine Augen verengten sich und seine Hände ballten sich unter seinem Umhang zu Fäusten. Er würde kämpfen und er würde siegen.

"Sechst- und Siebtklässer, folgt mir bitte in meinen Klassenraum. Bevor wir mit dem Wettkampf anfangen können, müsst ihr erst noch einige Tests durchlaufen."

Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort zu sagen zur Tür und entfernte sich mit großen Schritten. Hermine und Ron blickten sich kurz an, Harry zuckte mit den Schultern, dann liefen sie ihr zusammen mit allen anderen hinterher. Vor der Klassentür blieb Tonks stehen.

"Ihr werdet diesen Raum alleine betreten. Die erste Aufgabe erwartet euch direkt hinter der Tür. Ihr habt eine Minute Zeit, sie zu lösen. Stellt euch der Reihe nach auf, ich werde euch einzeln hereinlassen."

Die Lehrerin verschwand im Klassenraum. Verhalten sahen sich die Schüler an, manche versuchten, eine Schlange zu bilden, was allerdings daran scheiterte, dass keiner der Erste sein wollte. Schließlich ging Hermine an die Spitze und klopfte an die Tür. Tonks öffnete und das Mädchen ging hinein. Sofort danach trat Ron nach vorne und begehrte ebenfalls Einlass. Auch er kehrte nicht wieder. Harry reihte sich in die Schlange ein. Als die Tür für ihn aufging, wurde er von starker Hand hineingezogen. Der Unterrichtsraum war abgedunkelt. Er konnte nicht die Finger vor Augen sehen. Er hörte merkwürdige Geräusche, ein Kratzen und Scharren, das sich auf ihn hinzubewegen schien. Sofort hob er seinen Zauberstab. „Lumos!" Der Lichtkegel zeigte ihm den leeren Raum, dessen Wände er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Die merkwürdigen Klänge wurden lauter. Harry lauschte, dann begann er, mit seinem Zauberstab die Ecken des Raumes auszuleuchten. Er musste die Geräuschquelle finden.

"Gut gemacht, Harry, der erste Test ist bestanden." Tonks erhellte den Raum. „Du hast deine Angst überwunden und dich auf die Suche nach der Gefahr begeben. Geh bitte durch die linke Tür hinten hinaus und warte bei den anderen."

Harry fand im nächsten Zimmer Hermine, Ron und fast alle anderen, die vor ihm ins Klassenzimmer gegangen waren. Er blickte seine Freunde an und grinste. Das war nicht schwer gewesen. Einige weitere Schüler kamen noch zu ihnen, zum Schluss auch Tonks.

"Schön, dass ich fast alle von euch hier wieder sehe. Wer einen Dementor bekämpfen will, muss sich seiner Angst stellen können. Aber schlimmer als die Furcht vor äußeren Gefahren ist die vor den inneren Abgründen, den dunklen Erinnerungen, den Niederlagen, dem eigenen Versagen. Und hier setzen diese Geschöpfe an. Folgt mir bitte einzeln ins Klassenzimmer."

Die Lehrerin ging zurück in den Raum für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Die Schüler beschlossen, ihre Reihenfolge beizubehalten. Schließlich war es wieder an Harry, das Zimmer zu betreten. Tonks hatte sich in der Mitte aufgestellt und wies den Jungen an, sich genau vor sie zu stellen. Harry betrachtete sie. Die langen grünen Haare und der dunkle Mantel machten es ihm schwer, sich die lachende Hexe vorzustellen, die er sonst so mochte. Ihre Gesichtszüge wirkten ernst, fast bedrohlich. Sie sah ihm genau in die Augen. Harry spürte, wie ihm von innen heraus kalt wurde. Die Gestalt des Raumes veränderte sich. Die Wände wurden dunkler, einige Sterne blinkten am Nachthimmel. Er sah einen grauen Grabstein vor sich, dahinter Cedric, der ihn verwirrt und fragend anblickte. Er wusste, was gleich geschehen würde. Lord Voldemort würde Cedric töten und ihn selbst an den Grabstein fesseln. Wut und Angst stiegen in ihm hoch. Und Hass, kalter Hass. Seine Wut gefror in ihm. Sein Widerstand wurde zu einer starken Mauer. Er würde ihn bekämpfen. Er blickte Lord Voldemort ins Gesicht. Dann sah er Tonks Augen.

"Das war nicht schlecht für den Anfang, Harry, hast du schon einmal Erfahrung mit Okklumentik gesammelt?"

Das also war es. Nur zu gut erinnerte er sich an seine verzweifelten Versuche, Severus Snape aus seinen Gedanken fern zu halten. Er war diesen kalten schwarzen Augen ausgeliefert gewesen, seine anfängliche Widerstandkraft war schnell erloschen. Er anwortete:

"Nun ja, nicht direkt, dass heißt, ich habe es nicht geschafft." Dann zuckte er entschuldigend mit den Schultern. „Snape hat versucht, es mir beizubringen. Es war eine Katastrophe. Ich denke immer noch, er wollte es in Wirklichkeit gar nicht."

Tonks nickte mit dem Kopf. „Das können wir vermuten. Nun, da du es geschafft hast, mich abzuschütteln, kann ich dir sagen, wie es funktioniert. Du musst dich deiner eigenen Angst, deinen eigenen Gefühlen stellen, du musst sie kennen und zulassen. Du darfst dich nicht gegen sie wehren und dich nicht in sie hineinsteigern, sonst nehmen sie dir deine Kräfte. Sie bieten mir dann einen leichten Zugang zu dir, ja sie können mir sogar als Wegweiser zu deinen wunden Punkten dienen. Du musst nicht dich selbst, sondern deinen Gegner bekämpfen. Du hast dich in deiner Vorstellung auf Lord Voldemort konzentriert und ihm widerstanden. Damit hast du auch mich abgewehrt, und du hast dich befreit." Die Hexe blickte ihn nachdenklich an. „Ich hoffe, dass du verstehst, dass ich dir Okklumentik nicht als wohlmeinende Lehrerin beibringen kann, denn es darf keine Wechselbeziehung zwischen uns entstehen, du musst mich von tief innen heraus ablehnen. Du musst dich mir verschließen, du darfst mich nicht in dir zulassen. Denke darüber nach. Dementoren arbeiten ähnlich, große Gefühle locken sie an."

Harry nickte mit dem Kopf. Zum ersten Mal hatte er wirklich Einblick in die Kunst der Okklumentik gewonnen. Um sich selbst zu schützen, musste er den eindringenden Zauberer komplett ablehnen. Und er musste mit sich selbst im Reinen sein, denn jeder innere Kampf riss Löcher in die Schutzmauer oder verhinderte sogar ganz, dass sie aufgebaut werden konnte. Nachdenklich ging er in den von Tonks zugewiesenen nächsten Raum. Dort fand er eine sehr schweigsame Hermine, einen stillen Ron und noch einige andere sinnierende Schüler vor. Ein weiterer gesellte sich ihnen noch hinzu. Harry blickte erstaunt auf. Es war Neville Longbottom. Schließlich kam auch Tonks und führte sie zu den bereits wartenden anderen Teilnehmern.

"Nun kommen wir zu eurer eigentlichen Aufgabe. Ihr werdet gegen einen Dementor antreten. Der Wettkampf ist in drei Schwierigkeitsgrade gegliedert. Diejenigen, die im ersten Test ihre Angst nicht überwinden konnten, müssen den Anblick des dunklen Geschöpfes zwei Minuten lang ertragen. Wer diese Zeit durchsteht, ohne panisch die Flucht zu ergreifen, hilft seiner Gruppe zu gewinnen. Ihr dürft euch im Hintergrund halten. Diejenigen, die trotz ihrer Angst handeln können, aber noch so stark mit sich selbst belastet sind, dass sie mich nicht abwehren konnten, werden den Dementor mit einem Patronus Zauber vertreiben, wie wir es im Unterricht geübt haben. Die letzte Gruppe, die mir gezeigt hat, dass sie ihre eigenen Gedanken und Gefühle vor Eindringlingen verschließen kann, wird ohne Zauberstab kämpfen. Ihr werdet die Mitglieder der ersten Gruppe abschirmen. Das Haus, das es mit vereinten Kräften am besten schafft, die Bedrohung fernzuhalten oder sogar zu vertreiben, siegt. Die Zeit beträgt wie gesagt im ersten Durchgang zwei Minuten, später können wir erhöhen. Die verbleibende Stunde bis zum Mittagessen könnt ihr noch als Vorbereitungszeit nutzen. Wir treffen uns wieder hier um 14.00 Uhr."

Harry, Ron und Hermine beschlossen, in das nächstgelegene freie Klassenzimmer zu gehen und noch zu üben. Eine Gruppe Erstklässler jagte an ihnen vorbei und einer verhüllten schwarzen Gestalt hinterher. Sie verschwand dabei durch ein Bild, dessen wirkliche Funktion als Tür eines Geheimganges durchs Schloss sie selbst erst im vierten Schuljahr entdeckt hatten. Ron nickte anerkennend mit dem Kopf.

"Darf ich mich euch anschließen?"

Hermine drehte sich um. Sie hatte Neville kaum gehört. Sie sah ihn an und überlegte.

"Gerne, Neville, dann sind wir zu viert und können paarweise arbeiten. Das ist eine gute Idee."

Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Jungen ab. Harry grinste ebenfalls, Neville bekam selten ein Lob und schon gar nicht von Hermine, obwohl sie ihm sonst half, wo sie konnte. Schnell hatten sie einen ungenutzten Raum gefunden. Harry dachte nun nicht mehr an den zugefrorenen See, an die glitzernden Schneeflocken, an Quidditch oder Hogsmeade. Er fieberte dem Training entgegen, er wollte den Dementor oder was auch immer es war besiegen, und er wollte zusammen mit seinen Freunden Spaß dabei haben.