25. Kapitel
Die Mahlzeit war fast vorüber. Der junge Mann schob seinen Teller schwungvoll zur Seite.
"Lasst uns endlich gehen. Ron, bist du immer noch nicht satt?"
"Jetzt drängle mich nicht, ich will den Nachtisch wenigstens probieren, Harry. Der Dementor läuft dir schon nicht weg. Und wenn er es doch tut, es sind noch ein paar draußen."
Hermine verschluckte sich fast vor Lachen. Die Stimmung beim Mittagessen war so gut wie schon lange nicht mehr. Überall erzählten die Schüler von ihren Abenteuern, den Missgeschicken, die einzelnen passiert waren, und ihren Plänen für die Spiele des Nachmittags. Die Zwillinge schlenderten durch die Reihen, machten Scherze und sammelten Berichte über den Ablauf der verschiedenen Wettkämpfe. Harry blickte zu Hermine, die inzwischen grinsend Fred hinterher schaute. Er folgte ihren Augen und erkannte den Grund, Fred liebäugelte unmissverständlich mit Angelina, die ihrerseits diese Vorstellung zu genießen schien. Harry schüttelte seinen Kopf, wie konnte man sich in diesen Zeiten mit so etwas beschäftigen? Er drehte sich wieder zu seinen Freunden. Ron schob sich gerade einen Löffel mit köstlichem Pudding in den Mund und starrte dabei gedankenverloren zu Hermine, die ihre braunen Haare mit einer silbernen Spange zusammensteckte.
"Können wir jetzt aufbrechen? Ich will für alle Fälle noch mal versuchen, einen Patronus nonverbal hinzukriegen."
"Die Idee ist interessant", Hermine war nun fertig, „ich mache mit."
"Dann komme ich auch." Ron kratzte sein Schälchen aus und schluckte den letzten Rest Pudding herunter.
Zu dritt gingen sie in den freien Klassenraum. Doch so gut Harry sein Patronus glückte, wenn er die Worte „Expecto patronum" aussprach, so wenig geschah, wenn er sie nicht sagte. Sogar Hermine konnte keinen nonverbalen Zauber erreichen. Einige Minuten vor 14.00 Uhr öffnete sich die Tür des Zimmers und ein Gesicht, das von außergewöhnlich langen grünen Haaren umrahmt war, schaute hindurch. Tonks musste lachen.
"Es strahlt hier silberner Glanz durch die Türspalte. Nicht dass das zurzeit etwas Außergewöhnliches wäre. Aber Harry, kannst du mir erklären, was passieren soll, wenn du wie eine Statue mit dem Zauberstab in der Hand da stehst und die Wand anstarrst?"
"Ich versuche, den Patronus ohne Worte hervorzurufen. Aber es funktioniert nicht."
Die Lehrerin betrat den Raum und schloss die Tür wieder hinter sich zu.
"Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Zauberer dies getan hätte. Der Patronus muss dir zur Hilfe eilen. Dazu musst du Hilfe brauchen. Es ist der Hilfeschrei, der tief innen aus dir herauskommen muss, der ihn weckt. Aber er ist gleichzeitig eine Magie, die dir innewohnt", sie überlegte kurz und drehte eine lange grüne Haarsträhne um ihren Finger, „es könnte ohne Zauberstab gehen. Versuche es!"
Ron und Hermine traten hinter Harrys Rücken. Dieser gab Tonks seinen Stab und schloss die Augen. Er stellte sich einen großen schwarzen Dementor vor, der auf ihn zu schwebte. Nun war er noch einen Meter von ihm entfernt. Instinktiv streckte er die Hand aus, um ihn abzuwehren. Dann sah er seine Eltern. „Expecto patronum!" Ihm wurde heiß und er spürte, wie eine Kraft sich in ihm bildete, die einen Ausgang zu suchen schien. Er leitete sie gedanklich durch seinen Arm in seine Hand und öffnete die Augen. Aus seinen Fingern brach ein silberner Strahl hervor, der kurz die Umrisse eines Hirsches annahm bevor er sich in einer glitzernden Wolke auflöste.
„Wow, Harry, das war klasse, wie hast du das gemacht?" Rons Augen waren genauso weit geöffnet wie sein Mund.
"Ich weiß es nicht genau, es war einfach da, ich habe versucht, die Kraft in meine Hand zu führen, das war alles."
Er blickte zu Tonks. Diese sah ihn sehr ruhig und sehr ernst an. Verwirrt schaute er zurück. War irgendetwas nicht in Ordnung?
"Harry, du sagst, du konntest die Kraft lenken? Das ist außergewöhnlich. So etwas erreichen nur wirklich große Magier", ihre Stimme wurde leiser, „Ich kannte nur einen, der es konnte, Albus Dumbledore."
Harry schwieg. Hermine und Ron sahen sich gegenseitig an. Das Mädchen zog unwillkürlich seine Sammelkarte hervor.
"Dumbledore ist wach, er lächelt."
Sie hielt die Karte an ihr Ohr. Dann nickte sie.
"Er sagt, er hat alles gehört. Es wundert ihn nicht. Je mehr Harry zu einer wirklichen Persönlichkeit heranreift und seine Fähigkeiten bewusst ausbildet, desto mehr wird er seine Magie willentlich einsetzen können. Er sagt, es ist ein Anzeichen dafür, dass du erwachsen wirst, du bist ein großer Zauberer und er ist stolz auf dich, Harry."
Der Junge merkte, wie er langsam rot wurde. Er blickte zu Boden. Tonks hatte ihn mit Dumbledore verglichen und dieser hatte ihn gelobt. Er atmete tief ein. Die große Turmuhr schlug zwei Mal. Die Hexe zuckte zusammen, warf Harry seinen Zauberstab zu, eilte zur Tür und verschwand in Richtung ihres Klassenraumes. Harry, Ron und Hermine liefen ihr hinterher. Die Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste nahm alle ihre Schüler mit in die große Halle, die nun leer geräumt und abgedunkelt war.
"Wir werden den Wettkampf nach Häusern getrennt durchführen. Ihr kennt euch untereinander gut und könnt zusammenarbeiten. Gryffindor beginnt."
Auf Harrys Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Das war ganz nach seinem Geschmack. Hinter sich hörte er ein Seufzen. Er drehte sich um. Parvati Patils Gesicht hatte eine gelbliche Färbung angenommen. Er wusste, dass sie immer noch mit dem Patronus Zauber kämpfte. Hermine sah sie ebenfalls. Sie nickte ihr zu:
"Heute schaffst du es!"
"Gryffindors, geht in die Mitte der großen Halle. Ihr anderen verteilt euch auf der Erhöhung, auf der normalerweise der Lehrertisch steht. Von dort könnt ihr besonders gut sehen. Ihr werdet nachher berichten, welche Art der Verteidigung besonders effektiv war."
Die Lehrerin wartete, bis alle ihre Plätze eingenommen hatten, dann zog sie mit ihrem Zauberstab eine nahezu durchsichtige, leicht bläulich leuchtende Wand vor der Tribüne.
"Das ist ein Barrierezauber. Ihr könnt alles beobachten, seid aber selbst unangreifbar. Ich will, dass ihr genau zuschaut, ihr werdet aus Fehlern lernen und gute Ideen übernehmen. Die Wettkämpfer dürfen tun, was ihnen richtig erscheint, ihr habt eure Aufgaben, von einigen werde ich nun die Zauberstäbe einsammeln." Sie ging durch die Reihen und ließ sich von Harry, Hermine, Ron, Neville und wenigen anderen den Stab aushändigen. „Direkt neben der Eingangstür seht ihr eine große Truhe. Dort ist der Dementor gefangen. Wenn ich ihn freilasse, habt ihr zwei Minuten Zeit. Auf drei. Eins, zwei, drei."
Ehe die Schüler wussten, wie ihnen geschah, hatte Tonks ihren Zauberstab auf die große Kiste gerichtet und der Deckel sprang auf. Langsam entwich ihr ein großes schwarzes Wesen, das sich geräuschlos in die Luft erhob. Der Dementor breitete seine Schwingen aus und witterte nach Beute. Sekunden später hatte er die Schülergruppe geortet und bewegte sich nun langsam auf sie zu. Entsetzt wichen alle mehrere Schritte zurück. Harry blickte sich um. Er erkannte suchende, unsichere Augenpaare. Der Dementor würde leichtes Spiel haben. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Das hier war ein Spiel. Er hatte oft genug Quidditch trainiert, um zu wissen, dass eine Mannschaft einen Kapitän brauchte, um erfolgreich zu sein. Diese hier benötigte sofort einen. Und er war einer. Er überlegte nicht und rief:
"Bildet einen Bogen und lasst ihn kommen. Dann kreist ihn ein. Die Patronusleute nach vorne, die anderen in die zweite Reihe. Den Zauber auf mein Kommando. Schnell!"
Umständlich bildete sich ein hufeisenförmiges Gebilde. Das schwarze Geschöpf nahm unbeeindruckt Kurs auf die Gruppe, dann schwebte es genau auf Parvati Patil zu. Diese begann zu zittern. Harry bemerkte es und sagte laut:
"Parvati, Nerven behalten. Tue nichts! Lass ihn kommen. Er soll sich sicher fühlen. Dann fangen wir ihn. Schließt den Kreis!"
Der Zirkel um den Dementor wurde dichter. Die Schüler des inneren Ringes hielten ihre Zauberstäbe gespannt in die Höhe. Ron und Hermine stellten sich schützend vor einige Sechstklässler. Harrys Blick schweifte durch die Runde. Sein Verstand arbeitete. Wenn sie den richtigen Moment trafen, konnten sie das Ungeheuer vielleicht kampfunfähig machen. Neben ihm wurde ein jüngerer Schüler ohnmächtig. Hermine beugte sich zu ihm. Harry merkte, wie ihm kalt wurde. Unendliche Traurigkeit schien sich seiner zu bemächtigen. Das Dach der großen Halle wurde dunkel. Von ferne hörte er einen Schrei. Nein! Mit aller Kraft lehnte er sie gegen die Anwesenheit des dunklen Geschöpfes auf. Allmählich wuchs seine Stärke, die Decke wurde wieder heller und er konnte seine Mitschüler erkennen. Viele der Jüngeren lagen auf dem Boden. Hermine und Ron hatten sie zusammengezogen und schützen sie mit ihren eigenen Körpern vor der Macht des Dementors. Hermine war kreidebleich im Gesicht. Sie hielt Rons Hand umfasst. Vom inneren Ring stand noch etwa die Hälfte aller Teilnehmer. Parvati zitterte bedenklich. Sie sah aus wie die peitschende Weide im Herbst, wenn sie ihre Blätter abwarf. Das schwarze Monster schwebte nahe an sie heran und breitete seine Arme aus. Neville sprang auf Parvati zu und ergriff ihren Arm, mit dem sie den Zauberstab hielt. Er riss ihn in die Höhe und zielte auf den Dementor. Harry erhob seine Hand und schrie:
„Zauberstäbe hoch! Jetzt!"
Fünf schwächlich leuchtende silbrige Patroni bewegten sich auf das schwarze Wesen zu. Es verlangsamte seine Bewegung, näherte sich dem Mädchen aber weiterhin. Zwischen Parvati und dem Dementor befand sich nur noch eine dünne silberne Schicht, die ihrem Zauberstab entströmte. Neville hielt seine Mitschülerin inzwischen mit beiden Händen fest. Die schimmernden Wolken begannen allmählich, sich wieder aufzulösen. Das war ihre letzte Chance. Für einen erneuten Vorstoß würden die Kräfte seiner Mannschaft nicht mehr ausreichen. Nun lag die Entscheidung über Sieg oder Niederlage alleine bei ihm. Harry streckte seinen Arm als wollte er den goldenen Schnatz mitten im Flug abfangen. Fast berührte er dieses Geschöpf der Nacht. Alle Angst war von ihm abgefallen. Er hatte nur noch den einen Gedanken. Fange und vernichte ihn! Ein heißes Hochgefühl durchströmte seinen Körper.
"Expecto Patronum!"
Ein großer silberner Hirsch brach aus seiner geöffneten Hand hervor und kollidierte mit dem Dementor. Dieser wurde mehrere Meter in Richtung der Decke geschleudert. Jubelgeschrei ertönte und die schwachen Patronuswolken wurden wieder dichter. Das schwarze Monster versuchte nun zu fliehen, wurde aber in eine riesige silberne Kugel eingeschlossen. Es konnte sie nicht durchbrechen. Parvati sank in Nevilles Arme.
"Die Zeit ist um."
Tonks richtete ihren Zauberstab auf den gefangenen Dementor, dirigierte ihn von der Schülergruppe weg und ließ ihn in die schwere Truhe gleiten. Der Deckel fiel krachend zu. Hermine ließ sich auf den Boden sinken und zog Ron mit sich. Neville legte Parvati sanft auf die Erde, Harry drehte sich zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. „Gut gemacht!" Der Junge lächelte schwach. Die Zuschauer auf der Bühne applaudierten.
"Jetzt machen wir dreißig Minuten Pause, dann ist die nächste Gruppe dran. Die Gryffindors dürfen sich bei mir Schokolade und ihre Zauberstäbe abholen."
Den restlichen Nachmittag verbrachten Ron, Hermine und Harry damit, die Taktiken der verschiedenen Häuser zu vergleichen, das Verhalten des Dementors zu analysieren und sich über die Zwillinge zu wundern. Nachdem die letzte Gruppe fertig war und Tonks alle in die nun wohlverdiente Freizeit entlassen hatte, verließen die drei zusammen mit der Lehrerin die große Halle. Hermine ergriff das Wort.
"Tonks, bitte sage uns ob das nun tatsächlich ein Dementor war. Haben Fred und George wirklich ein solches Monster gefangen? Wir fragen es uns schon die ganze Zeit."
Die Hexe lächelte.
"Wenn ich euer Wort habe, dass ihr es keinem weitererzählt, verrate ich es euch. Denn auch die anderen Klassenstufen müssen auf ihre Weise gegen ihn antreten, so wie auch ihr in den nächsten Tagen schwierigere Versionen der anderen beiden Aufgaben erhalten werdet."
Alle nickten heftig mit dem Kopf. Tonks sah sie der Reihe nach an.
"Gut, ich habe euer Versprechen. Nein, es war kein Dementor. Das Schutznetz um Hogwarts herum hat keine Löcher und darf keine bekommen. Ein echter Dementor hätte auch meine Barriere leicht durchbrechen können, es wäre viel zu gefährlich gewesen. Mit diesen Geschöpfen ist nicht zu spaßen. Fred und George haben mit Lähmzaubern experimentiert und dabei zufällig herausgefunden, dass man bestimmte euch wohlbekannte Wesen, die ihre Freude an der Angst ihrer Opfer ähnlich wie Dementoren finden, damit in gewisser Weise einfrieren kann. Es war ein Irrwicht, der seine Dementorengestalt nicht mehr ändern konnte und ich kann hinzufügen, es war ein sehr wütender Irrwicht." Sie lächelte verlegen. „Ich bin nur froh, dass keiner von euch über ihn lachen musste, sonst wäre der ganze Zauber womöglich aufgeflogen."
Hermine schüttelte sich. Sie sah aus, als würde sie einen Wutanfall unterdrücken. Empörung spiegelte sich in ihrem Gesicht. Harry konnte sie verstehen. Sie hatten wirklich bis an ihre Grenzen gekämpft und waren über ihren Sieg stolz gewesen, und nun erfuhren sie, dass sie getäuscht worden waren. Hermine legte ihre Stirn in Falten. Doch dann entspannte sich das Mädchen. Sie blickte Tonks an und sagte:
"Das war wirklich gut, ich meine die ganze Idee mit der Akademie. Jetzt begreife ich es. Die Zwillinge wollten diesmal keinen Blödsinn anstellen. Wenn wir das ganze Programm durchlaufen haben, kennen wir alle das Schloss wie unsere Westentasche, auch die ganz Kleinen. Wir kennen alle Verstecke, Geheimgänge und Schlupfwinkel. Wir werden keine Angst haben, dicht am Netz zu fliegen, wir werden sogar einem kleinen Zeichen folgen können, dass uns einen Fluchtweg weisen kann, und wir können uns alleine vor den Dementoren schützen. Wir können uns verteidigen, wenn wir zusammenhalten. Was für eine geniale Idee!" Sie begeisterte sich immer mehr dafür. „Und es ist wirklich keinem mehr so langweilig, dass er am liebsten das Schloss verlassen würde, um sich in Lord Voldemorts geöffnete Arme zu stürzen. Deshalb unterstützt Professor McGonagall die ganze Aktion."
Harry und Ron hörten ihr erstaunt zu und blickten dann fragend zu Tonks. Diese grinste die drei Freunde an, dann legte sie stumm ihren Zeigefinger auf ihren Mund und verschloss ihre Lippen. Harry verstand. Dann schaute er zu Hermine und Ron, die nun ebenfall ihre Finger auf ihre Lippen legten. Er selbst machte es genauso. Grinsend versicherten sie so der Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste ihr Stillschweigen. Dann gingen sie voller Vorfreude auf den nächsten Tag, der aufregende Abenteuer und Gefahren versprach, zurück in ihren Gemeinschaftsraum. Im Turm der Gryffindors würden sie sich von dieser anstrengenden und doch schönen Zeit heute erholen können.
