26. Kapitel
Kleine weiße Hagelkörner prasselten auf die Fensterscheiben und sprangen von dort aus weiter auf den Boden. Sie erzeugten ein gleichmäßiges Klirren, das die Stille der Nacht untermalte. Der große hagere Mann, der das kleine Wohnzimmer betrat, schien dieses Geräusch nicht wahrzunehmen. Behutsam stellte er zwei sorgfältig verkorkte Flaschen nebeneinander auf die Kommode, die an der Tür neben den Bücherregalen stand. Er vergewisserte sich, dass sie sicher auf ihrer Ablage standen. Anschließend holte er tief Luft und schob sich eine lange schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann wendete er und ging auf die hintere Tür zu, die zur Treppe führte und begann, die Stufen wieder hinab zu steigen.
"Lass sofort die Flaschen los! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du sie nicht anfassen sollst! Du bist nicht nur zu nichts zu gebrauchen, du bist eine ständige Gefahr für deine Umgebung!"
"Jawohl, mein Herr, wie Sie wünschen."
"Verschwinde aus meinen Augen! Und komm mir nicht mehr in die Quere, wenn du den morgigen Tag erleben willst!"
"Zu Diensten mein Herr, ich bin beauftragt, Ihnen zu helfen. Und ich darf Sie daran erinnern, dass nur der Lord über das Leben eines Todessers bestimmt."
"Raus!"
Ein kleiner unansehnlicher Mann sprang die Treppe hoch und versuchte, mit einem Satz zwei Stufen gleichzeitig zu bewältigen. Beim dritten Schritt stolperte er und fiel bäuchlings auf die Stiege. Auf allen Vieren kroch er ins Wohnzimmer. Severus Snape verließ sein Labor im Keller seines Hauses mit zwei weiteren dickbauchigen Flaschen, die er mit sicherem Griff hielt und ebenfalls auf der Kommode abstellen wollte. Lord Voldemort hatte einige hoch wirksame Gifte beordert, die er nun fertig gestellt hatte und von denen winzigste Mengen reichten, um stärkere Wesen als Menschen in Sekundenschnelle zu töten. Das harmloseste war noch der Trank der lebenden Toten, ein starkes Schlafmittel, das in Überdosierung ebenfalls todbringend wirkte. Der Tränkemeister presste seine Lippen zusammen, ging behutsam an Peter Pettigrew vorbei und positionierte die Behälter vorsichtig neben den ersten beiden Flaschen. Dann wandte er sich wieder dem hässlichen Zauberer zu. Wie konnte ein Mensch nur aus so viel Dummheit bestehen? Wenn es nach ihm ginge, würde er diesen Gehilfen für immer in den Tiefschlaf schicken. Doch sie beide hatten ihre Befehle von Lord Voldemort. Beim Gedanken an dieses Wesen aber verdunkelten sich seine Gesichtszüge.
Aus seinem Augenwinkel nahm er eine schwarze Figur wahr, die lautlos neben der Tür Gestalt annahm. Er wirbelte um die eigene Achse, erkannte die rot glühenden Augen und fiel augenblicklich auf die Knie. Er verneigte sich, so dass er mit dem Gesicht den Boden berührte. Wurmschwanz blickte verwundert auf das Geschehen, dann verharrte er in seiner Position und beugte seinen Kopf ebenfalls. Lord Voldemort hob den Zauberstab. Der Tränkemeister fühlte einen leichten Druck im Rücken. Auch ohne sein Wissen um die Magie, die durch den Zauberstab des Lords floss, hätte er daran den Beugefluch erkannt, der zunehmend stärker niederdrückte, je mehr man sich bemühte, sich davon zu befreien. Er achtete darauf, ständig den Kontakt mit dem Fußboden zu halten. Dann konnte er ein Stöhnen hören. Der kleine Zauberer musste versucht haben aufzublicken. Nun nahm er eine Veränderung in den Gedanken des Lords wahr.
"Imperio!"
Peter Pettigrew stand auf und entnahm der Kommode ein Weinglas. Er entkorkte eine der Flaschen und befüllte das Glas. Dem Geräusch nach musste dies der Trank der lebenden Toten gewesen sein. Er leerte es in einem Zug. Wenn das Weinglas voll gewesen war, würde der kleine Zauberer den Genuss dieser Flüssigkeit nicht überleben. Er sackte in sich zusammen und blieb regungslos neben der Kommode liegen.
"Du wirst Wurmschwanz heute Abend nicht mehr quälen können."
Zischend drangen die Worte an sein Ohr. Wie er diese Stimme hasste. Severus Snape musste alle seine Kräfte aufbieten, um sich nicht gegen seinen Herrn aufzulehnen. Er atmete tief ein und zwang sich, aufmerksam zuzuhören.
„Ich habe eine andere Freizeitbeschäftigung für dich. Ich will Zugang zum Schloss haben. Du hast drei mal sieben Tage Zeit, nach Hogwarts zu gelangen. Ich wüsste keine bessere Aufgabe für dich, den Zaubertränkelehrer des „großen Dumbledore", der schließlich doch vor mir gefallen ist, wie es auch seine gepflegte Schule tun wird."
Ein hohes kaltes Lachen erfüllte den Raum. Severus Snape rührte sich nicht. Er spürte die erdrückende Last auf seinem Körper.
"Es gibt keine Zauberer zum Foltern mehr. Sie gehören nun alle mir. Du hast genug Spaß mit ihnen gehabt. Nun gewähre ich dir eine letzte Aufgabe, mit der du deinem Lord einen Dienst erweisen kannst. Sei erfolgreich. Bedenke, dass ich dich ansonsten nicht mehr brauche, zumindest nicht mehr in Freiheit. Tränke brauen kannst du auch ohne deine Giftküche zu verlassen. Wurmschwanz würde für immer bei dir bleiben können."
Die Stimme verzerrte sich mehr und mehr zu einem dumpfen Gezischel. Der dunkle Zauberer spürte, wie der Lord den Zauberstab erneut hob und den Cruciatus Fluch aufrief. Dann begann er, sich qualvoll zu verkrampfen. Der Beugefluch drückte ihn nun hart zu Boden. Zwischen einzelnen Zischlauten vernahm er die Worte:
"Ich weiß, dass du gegen Schmeichelei immun bist, deshalb sage ich dir die Wahrheit. Du bist nicht mehr wert als der Staub, der neben dir liegt. Du lebst nur aus meiner Gnade. Erkenne dich selbst, falls du dazu fähig bist, du Schmutzfleck."
Der Lord wandte sich ab und ergriff die Flaschen, dann löste er sich in einem schwarzen Wirbel auf. Es dauerte lange Minuten, bis die Wirkung der Flüche nachließ. Erschöpft blieb der schwarzhaarige Zauberer auf dem Boden liegen. Sein gesamter Körper schmerzte. Sein Kopf musste mit einem eisernen Ring zusammengepresst worden sein. Leise stöhnte er auf. Nun vernahm er wie eine Frage den sanften Gesang des Phönixes. Dankbar bejahte er, und seine Kräfte kehrten langsam zurück. Er hatte den Vogel angewiesen, nicht einzugreifen, wenn der Lord in der Nähe war. Mühsam stand er auf. Zusammen mit seiner wieder anwachsenden Stärke durchströmte ihn nun glühender Hass. Wie oft musste er sich das noch gefallen lassen? Er ballte seine Fäuste und zitterte vor Wut. Er konnte das Treiben dieses Ungeheuers beenden und jetzt würde er es tun. Der Zeitpunkt war gekommen. Er würde ihn heute noch suchen und töten. Das Maß war voll.
Severus Snape spürte eine leichte Berührung. Er zuckte zusammen. Es fühlte sich so an, als ob Albus Dumbledore von hinten an ihn herangetreten wäre und ihm die Hände auf die Schultern gelegt hätte.
"Severus, tue es nicht, bitte."
"Es ist genug."
"Bitte, tue es nicht. Du würdest nur seine Gestalt vernichten, er würde wieder erstarken und erneut die Welt bedrohen."
"Es ist genug. Ich kann nicht mehr so leben. Ich will es nicht mehr. Ich werde ihn zerstören."
"So kannst du nur dich selbst retten. Du bist nicht der Auserwählte, du kannst den Lord nicht endgültig vernichten, das weißt du. Aber du musst Harry helfen, er braucht dich und du brauchst ihn. Führe deine Aufgabe zu Ende. Bitte."
Der dunkle Zauberer packte die Weinflasche, die noch auf dem Tisch stand und schmetterte sie gegen die Tür.
"Nein! Ich kann nicht mehr. Lass mich in Ruhe! Du redest und redest. Schluss damit!"
Dann zielte er mit dem Zauberstab auf das Bücherregal und riss es auf den Boden.
"Severus, du willst dich rächen. Du willst Ausgleich für die Schmerzen und Demütigungen, die du erleiden musst und du bist im Recht. Ich stehe dir zur Verfügung, nimm mich."
Severus Snape wandte sich um und sah dem weißhaarigen Zauberer in Gedanken in die Augen. Die Hand, die den Zauberstab umschloss, bebte, und er presste seine Lippen zusammen.
„Nein."
Da ergriff der alte Zauberer die Hand seines Freundes und richtete dessen Zauberstab auf sich selbst. Der Tränkemeister spürte, wie sich sein Hass durch seinen Stab auf Albus Dumbledore entlud. Der ehemalige Direktor verkrampfte sich. Er stöhnte lauf auf und brach zusammen, als ob er vom Cruciatus Fluch getroffen worden wäre. Er schlug mit dem Gesicht auf den Boden auf und blieb zuckend liegen. Der dunkle Zauberer schaute ihm wie gelähmt zu, bis Albus seinen gesamten Zorn auf sich gezogen hatte. Dann ließ er seinen Arm sinken und sein Zauberstab fiel ihm aus der Hand. Der weißhaarige Zauberer bewegte sich nun nicht mehr. Scheinbar leblos lag er auf dem Boden. Severus Snape starrte ihn an. Was war eben geschehen? Einige Zeit später konnte Dumbledore wieder aufblicken, schließlich erhob er sich mühsam, stellte sich vor seinen Freund und sah ihm ins Gesicht. Er sah aus, als wäre eine Horde Todesser über ihn hergefallen. In den Augen des dunklen Zauberers bildeten sich Tränen.
"Severus, bitte."
Severus Snape rührte sich nicht. Er schaute Albus Dumbledore lange an, schließlich nickte er langsam mit dem Kopf.
"Schlafe nun, wir werden morgen eine Lösung finden. Ich verspreche dir, dass Lord Voldemorts Gang nach Hogwarts ein Weg ohne Wiederkehr wird. Ich danke dir, Severus, mein Freund."
Erneut drangen Tränen in die Augen des Tränkemeisters. Er schloss seine Augenlider und ließ sie über seine Wangen laufen. Dann schob er mit seinen Fingern Tränen und Haare aus seinem Gesicht, ging in sein Labor und entnahm einem Schränkchen eine kleine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit. Anschließend begab er sich zu Peter Pettigrew, öffnete dessen Mund und ließ einige Tropfen zwischen dessen Lippen rinnen. Der hässliche Zauberer begann wieder zu atmen. Severus Snape brachte die Phiole zurück, dann zog er sich um, löschte das Licht und ging zu Bett. Neben ihm wachte ein großer, rotgoldener Vogel über seinen Schlaf.
